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Veröffentlicht am 22.01.2024

So muss Literatur sein

Liegen
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Bartleby der Schreiber aus der bekannten gleichnamigen Kurzgeschichte von Herman Melville weigert sich Befehle auszuführen und Arbeiten zu verrichten, indem er verkündet: "I would prefer not to".

Die ...

Bartleby der Schreiber aus der bekannten gleichnamigen Kurzgeschichte von Herman Melville weigert sich Befehle auszuführen und Arbeiten zu verrichten, indem er verkündet: "I would prefer not to".

Die Inhaltsangabe zu "Liegen" von Heike Geißler erinnerte mich an diese Kurzgeschichte. Ich dachte, das Liegen könnte eine Art "I would prefer not to" sein. Und das ist es auch. Es ist dem Schuleschwänzen erwachsen, wie die Hauptfigur selbst sagt. Es ist also ein Aufbegehren, ein sich Ausklinken, ein Bruch mit dem System, ein sich in den Weg legen. Das Liegen wird zur Störung.

Gleichzeitig ist es nicht nur desruptiv. Denn es ist auch ein Verstehen wollen. Die Liegende nimmt eine neue Perspektive ein, sie wird zur Beobachterin unserer Welt, die den Geschehnissen von unten hinaufblickend folgt.

Als Leser nehmen wir zusammen mit ihr das wahr, was unsere Welt ausmacht, das, was uns und die Gesellschaft beschäftigt. Wir stehen außerhalb der Masse, haben dank der neuen Position einen weiten Blick auf alles, so scheint es.

Geißler hat mit "Liegen" einen experimentell-essayistischen Text geschrieben, den ich als unheimlich soghaft wahrgenommen habe. Er ist nicht gradlinig, widerspricht sich mitunter scheinbar und findet letztlich doch zur Stimmigkeit. Man muss sich auf dieses Textexperiment einlassen, dann findet man in ihm viele kluge Gedanken und Sätze, die nachhallen.

"Liegen" ist ein Text, der sich abhebt, der sich etwas wagt und mutig ist. So darf, so muss Literatur immer wieder sein.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Großartig

Radio Sarajevo
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"Wie soll man den Bosnienkrieg erklären?"

Ja, wie eigentlich? Wie erzählt man vom Krieg? Wie schreibt man über etwas, das so schwer und wuchtig, so brutal, unmenschlich und vor allem tiefgreifend ist ...

"Wie soll man den Bosnienkrieg erklären?"

Ja, wie eigentlich? Wie erzählt man vom Krieg? Wie schreibt man über etwas, das so schwer und wuchtig, so brutal, unmenschlich und vor allem tiefgreifend ist und das Leben von Menschen auf allen nur erdenklichen Ebenen nachhaltig verändert?

Ich habe Tijan Silas Roman" Radio Sarajevo" zu einer Zeit gelesen, in der mir eigentlich gar nicht der Sinn nach schweren Themen stand. Aber ich muss sagen, dass ich den Roman trotz der Tristesse, trotz der Brutalität des Krieges nicht als ausschließlich belastende Lektüre empfunden habe. Das lag sicherlich am Erzählstil, der sich an keiner Stelle im Schwelgen und Ausschmücken von Kriegsgräueln verliert. Stattdessen rückt Sila den ungetrübten Blick des Kindes in den Vordergrund und auch das gelingt ihm ausgesprochen gut, denn nie wird das Erzählte rührselig, nie wird es kitschig.

Der junge Protagonist ist Sohn eines muslimischen Bosniers und einer christlich-orthodoxen Serbin. Beide sind Akademiker, beide entpuppen sich schnell als völlig ungeeignet, um sich im Krieg durchzukämpfen. Der Protagonist selbst wird schnell zu einem "Wildling", der in den Ruinen der Stadt mit seinen Freunden nach Pornoheften und anderem Wertvollem sucht, das sie mit den Blauhelmen oder auf dem Schwarzmarkt tauschen können. Er gewöhnt sich an die Bombardements, seine Freunde fliehen, er hingegen entwickelt eigene Überlebensstrategien.

"Sarajevo kam mir vor wie ein schwarzer Wald, der Tod als ein Jäger, und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später, in Deutschland, in Worte zu fassen schaffte: Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten."

"Radio Sarajevo" ist für mich die Geschichte einer Kindheit im Krieg. Es ist aber auch die Geschichte von entwurzelten und vergessenen Menschen, eine Geschichte der Spuren und Narben des Bosnienkriegs.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Walter Tevis überzeugt

Die Partie seines Lebens
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Fast Eddie befindet sich auf dem Weg nach Chicago. Eddie ist ein Poolspieler, der sein Geld durchs Schwindeln verdient. Er lässt andere Spieler glauben, er wäre schlecht, um letztlich bei hohen Einsätzen ...

Fast Eddie befindet sich auf dem Weg nach Chicago. Eddie ist ein Poolspieler, der sein Geld durchs Schwindeln verdient. Er lässt andere Spieler glauben, er wäre schlecht, um letztlich bei hohen Einsätzen zu gewinnen.
In Chicago will Eddie nun die ganz großen Spieler herausfordern, allen voran Minnesota Fats. Den, der ungeschlagen ist. Der beste Spieler des Landes.

Eddie und Fats spielen zwei Tage und Nächte, zunächst gewinnt Eddie und Fats verliert, doch am Ende schlägt Fats Eddie. Letzterer schwört sich daraufhin, wiederzukommen und Fats ein zweites Mal herauszufordern.

Wenn Walter Tevis eines kann, dann ist es, seine LeserInnen in andere Welten zu entführen. Vor dieser Lektüre wusste ich so gut wie nichts über Pool und Billiard, besonders nicht im zeitlichen Kontext des Romans. Tevis ist es aber gelungen, dass ich in diese mir fremde Welt eingetaucht bin. Er schreibt so einnehmend, so dicht und bildhaft, dass Distanz und Fremdheit gar nicht erst entstehen können.

Die Geschichte hat mich fasziniert. Vielleicht auch deshalb, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie man sein Leben einem Spiel widmen kann. Und obwohl Eddie genau das tut, obwohl sich alles in ihm dem Gewinnen am Pooltisch verschrieben hat, kann man sich als LeserIn in ihn hineinversetzen, fühlt sich ihm trotz manch zweifelhaften Verhaltens verbunden und das ist Tevis' feinen Charakterzeichnungen zuzuschreiben. Sogar die Nebencharaktere sind bunt und lebendig. Wirklich nichts an dieser Welt ist blass, nichts unglaubwürdig.

Für mich ist "Die Partie seines Lebens", genau wie auch The Queen‘s Gambit, ein Must-Read.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Augenöffnend

3 – Ein Leben außerhalb
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“Hier möchte ich die Frage nach den Lebensformen stellen - nach dem, was wir sind und was wir sein könnten, nach dem Auseinanderklaffen zwischen dem, was wir werden, und den vielen Versionen von uns selbst, ...

“Hier möchte ich die Frage nach den Lebensformen stellen - nach dem, was wir sind und was wir sein könnten, nach dem Auseinanderklaffen zwischen dem, was wir werden, und den vielen Versionen von uns selbst, die wir hätten ausbilden können.”

In “3 - Ein Leben außerhalb” entwirft Geoffrey de Lagasnerie ein Leben, in dessen Mittelpunkt die Freundschaft steht. Gemeinsam mit den französischen Intellektuellen Didier Eribon und Édouard Louis bildet er ein Trio, das in der Öffentlichkeit oft gemeinsam auftritt, das sich gegenseitig unterstützt und das, wie das Buch darlegt, auch privat füreinander da ist.

Diese intensive Freundschaft, das Leben-zu-dritt, versteht Lagasnerie als einen Gegenentwurf zur Familie. Das gemeinsame Arbeiten, Lesen, Schreiben, Reisen und Feiern der drei Freunde empfindet er als “ein langes Gespräch, das nie ende[t]”. Es erlaubt ihnen, sich selbst zu entfalten. Doch natürlich ist es auch mit einer ständigen Erneuerung der Beziehungen verbunden, mit dem Willen, die Freundschaft zu beleben und sie aufrecht zu erhalten.

Das Buch war in vielerlei Hinsicht augenöffnend, zum Beispiel in seiner Darstellung davon, wie tief verankert der Familialismus in unseren Gesellschaften ist und wie dadurch nicht-familiäre Beziehungen als zweitrangig wahrgenommen werden, insbesondere auf staatlicher und institutioneller Ebene.

“3” ist alleine schon deshalb lesenswert, weil es zeigt, dass ein Ausbrechen möglich ist: Ein Ausbrechen aus starren Rahmen und Rollen, die nicht unsere eigenen sind und aus der Norm, die uns vorschreibt, dass wir mit einem bestimmten Alter eine Familie gründen müssen und dadurch bewusst und unbewusst “einen äußerst starken psychischen Einfluss aus[übt]”. Dass das Buch in dieser Hinsicht neue Richtungen einschlägt, halte ich ihm sehr zugute.

Eine Lektüre also für all diejenigen, die keine Angst davor haben, out of the box zu denken, mit oder ohne Familie.

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