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Veröffentlicht am 13.09.2021

Die Lebenswelten von Frauen in der heutigen russischen Gesellschaft

DAFUQ
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Dafuq, the fuck, what the fuck: Schon der Titel von Jarmyschs Roman macht durch seine Unverfrorenheit und durch das Suggerieren von Zorn, Frust, Wut und Unverständnis auf sich aufmerksam. Hinzu kommt die ...

Dafuq, the fuck, what the fuck: Schon der Titel von Jarmyschs Roman macht durch seine Unverfrorenheit und durch das Suggerieren von Zorn, Frust, Wut und Unverständnis auf sich aufmerksam. Hinzu kommt die interessante Biographie der Autorin. Jarmysch arbeitet als Sprecherin für den Oppositionspolitiker Alexey Nawalny und wurde noch im Januar 2021 festgenommen. Dass der Roman sich nicht scheuen wird, Kritik zu üben, dass er nichts beschönigen wird und wahrscheinlich auch provozieren wird, lässt sich schon anhand des Titels und des Lebenslaufs der Autorin ableiten.

Die Protagonistin des Romans ist Anja. Nachdem sie an einer unangemeldeten Demonstration gegen Korruption in Moskau teilgenommen hat, findet sie sich in Untersuchungshaft wieder. Obwohl sie nicht an der Organisation der Demonstration beteiligt war, wird sie festgehalten und schließlich zu einem zehntägigen Arrest verurteilt. Ihre Zelle in der Arrestanstalt teilt sie mit fünf anderen Frauen, die wegen Trunkenheit oder Fahren ohne Führerschein einsitzen.

“Heutzutage kann man überhaupt für alles in den Bau kommen.”

Es sind die Stimmen und Geschichten dieser sechs Frauen, die den Roman tragen. Auf engstem Raum prallen diese Lebenswelten der Frauen aufeinander und zeugen von der Vielschichtigkeit der heutigen russischen Gesellschaft. Da ist zum Beispiel die heruntergekommene Irka, die alkohol- und medikamentenabhängig ist und für ein Glas Alkohol mit Männern schläft. Maja hingegen ist jung und hübsch. Sie hat sich zahlreichen Schönheits-OPs unterzogen, achtet auf ihr Äußeres, lässt sich von ihren reichen Liebhabern teure Geschenke machen und ihren Lebenswandel bezahlen.

Anjas Geschichte legt die Autorin nur stückweise und in Rückblicken frei. Es ist eine Geschichte von der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit, von der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt, von der Beziehung zu den Eltern, von Sexualität und schließlich auch von Politik und dem Wunsch nach Gerechtigkeit.

Jarmyschs Erzählstil ist klar und schnörkellos und sie scheut sich nicht davor, Anjas Aufenthalt in der Arrestanstalt im Detail zu beschreiben. Und trotzdem wirkt der Roman an keiner Stelle langatmig und verliert nie seinen roten Faden. Kritisch, ernst, humorvoll: All diese Töne vereint die Geschichte in sich. Sie erzählt von den Schicksalen der Frauen, vom Erwachsenwerden, von der Enttäuschung der jüngeren Generationen über die Regierung und schließlich legt er die Denkmuster und Lebensweisen, die sich durch die heutige russische Gesellschaft ziehen, frei.

Man kann diesen Roman verpassen, man sollte es aber nicht. Denn er überzeugt bis zum letzten Satz, hinterlässt einen bleibenden Eindruck und brennt sich mit seiner kraftvollen Geschichte und seinen unvergesslichen Figuren in das Gedächtnis des Lesers ein.

Das letzte Lob muss neben der großartigen Leistung des Übersetzers Olaf Kühl auch dem Rowohlt Verlag gelten, der das Buch in einer tollen Optik herausgebracht hat, die kaum besser mit der Geschichte harmonieren könnte.

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Veröffentlicht am 23.09.2024

Tolles Debüt

Grand-papa
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"Ich muss gestehen: Mein Großvater war mir nie wichtig. Genauso, wie ich ihm nie wichtig war – dachte ich zumindest, lange Zeit."

Als Natalie Buchholz die Tagebücher ihres verstorbenen Großvaters findet, ...

"Ich muss gestehen: Mein Großvater war mir nie wichtig. Genauso, wie ich ihm nie wichtig war – dachte ich zumindest, lange Zeit."

Als Natalie Buchholz die Tagebücher ihres verstorbenen Großvaters findet, begibt sie sich auf Spurensuche in dessen Lebensgeschichte und die Geschichte ihrer Vorfahren.

Es ist ein Eintauchen in das Leben eines Mannes, zu dem sie stets ein kühles und distanziertes Verhältnis hatte. Auch in seinen Tagebüchern lässt der Großvater kaum Emotionen aufkommen. Diese Lücke muss die Autorin selbst füllen, durch Recherchen, durch die Erzählungen ihrer Mutter und mit ihrer Fantasie.

"Ich frage mich, ob mein Großvater etwas dagegen hätte, dass ich seine nüchternen Fakten mit meiner Fantasie mische."

So ist ein Text entstanden, der sich an der Realität, an dem wahren Leben des Großvaters, entlang hangelt, der sich aber stellenweise in die Fiktion hineinwagt und diese oftmals selbst als solche entlarvt. Der Roman wirkt wie ein Mosaik aus Episoden, Eindrücken und Erinnerungen, die in kurzen Kapiteln wiedergegeben werden. Buchholz versteht es, kritisch zu bleiben, die Aufzeichnungen und das Erlebte ihres Großvaters nicht auf ein Podest zu heben, sondern es kritisch zu hinterfragen.

"Grand-papa" zeichnet sich neben seiner markanten Erzählweise aber auch durch seine Thematisierung von Krieg und Identität aus. Denn der Großvater gehört zu der Generation, die beide Weltkriege miterlebt hat. Und das in einer Region, die zutiefst von den Kriegen geprägt wurde, nämlich im Elsass und in Lothringen. Sein Leben ist ein Spiegel der bewegten Geschichte dieser Region. Der ständige Wechsel zwischen Identitäten, Nationalitäten, Zugehörigkeiten, Sprachen, Verpflichtungen... bestimmt das Leben der Bevölkerung.

"Mein Großvater hat Glück mit seinem Namen. Er verliert nur ein 'e' und ein 'y'. Aus Anatole wird Anatol. Aus 'Frey' wird 'Frei'."

Das Buch führt vor Augen, wie wichtig Frieden und Völkerverständigung sind, zwischen Deutschland und Frankreich und einfach überall. Denn das Gegenteil führt zu zersplitterten Schicksalen, zu Verfeindungen und zu der Unfähigkeit der Annäherung und des Verständnisses.

Für mich ist "Grand-papa" ein Debüt, das einer Entdeckung wert ist und das auf mehr hoffen lässt!

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Lohnt sich

Der Bauch des Wals
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Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin ...

Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin die Frage nach der politischen Verantwortung von Schriftstellern. Wie politisch muss/soll/darf Kunst sein? Muss sie es überhaupt sein?

Als Beispiel dient ihm Henry Millers Roman "Wendekreis des Krebses". Ein Roman, der für ihn das Leben bejaht, der den Lesern nicht vorgibt, was sie zu denken haben, der das Weltgeschehen nicht vorantreiben oder bremsen möchte. Damit bildet er das Gegenstück zu den Romanen von den meisten von Millers schreibenden Zeitgenossen.

Orwell benutzt in diesem Zusammenhang das Bild eines Schriftstellers, der sich im Bauch eines Wals befindet: Dort ist man gleichgültig der Welt gegenüber und muss sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Es ist für Orwell die Freiheit eines jeden Autoren, diese Position für sich auszuwählen und das eigene Schreiben nicht von politischen Glaubenssätzen diktieren zu lassen.

Ian McEwan antwortet mit seiner "Orwell Memorial Lecture" auf diesen Essay. Er stellt ihn in einen historischen Zusammenhang, erklärt ihn auch vor dem Hintergrund der persönlichen politischen Enttäuschungen Orwells und denkt ihn vor allem in der Gegenwart weiter.

Beide Essays bieten spannende und unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Dürfen Schriftsteller sich im Bauch des Wals verstecken? Floriert die Literatur nicht außerhalb des Wals (immerhin sind gerade Orwells bekannteste Romane, "1984" und "Farm der Tiere" sehr politisch!)? Oder gibt es in Zeiten des Klimawandels sowieso keinen Walbauch mehr, in dem man sich verstecken könnte?

Zu welchem Schluss McEwan kommt, will ich an dieser Stelle nicht verraten. Dafür solltet ihr das Buch lesen! Denn es lohnt sich, wenn man sich gedanklich mit Literatur und Verantwortung, mit Kunst und Aktivismus beschäftigen möchte.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Lohnt sich

Der Bauch des Wals
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Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin ...

Mit "Im Bauch des Wals" hat der @diogenesverlag Essays von zwei großen Schriftstellern herausgegeben: George Orwell und Ian McEwan.

Orwells "Im Innern des Wals" erschien 1940. Orwell thematisiert darin die Frage nach der politischen Verantwortung von Schriftstellern. Wie politisch muss/soll/darf Kunst sein? Muss sie es überhaupt sein?

Als Beispiel dient ihm Henry Millers Roman "Wendekreis des Krebses". Ein Roman, der für ihn das Leben bejaht, der den Lesern nicht vorgibt, was sie zu denken haben, der das Weltgeschehen nicht vorantreiben oder bremsen möchte. Damit bildet er das Gegenstück zu den Romanen von den meisten von Millers schreibenden Zeitgenossen.

Orwell benutzt in diesem Zusammenhang das Bild eines Schriftstellers, der sich im Bauch eines Wals befindet: Dort ist man gleichgültig der Welt gegenüber und muss sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Es ist für Orwell die Freiheit eines jeden Autoren, diese Position für sich auszuwählen und das eigene Schreiben nicht von politischen Glaubenssätzen diktieren zu lassen.

Ian McEwan antwortet mit seiner "Orwell Memorial Lecture" auf diesen Essay. Er stellt ihn in einen historischen Zusammenhang, erklärt ihn auch vor dem Hintergrund der persönlichen politischen Enttäuschungen Orwells und denkt ihn vor allem in der Gegenwart weiter.

Beide Essays bieten spannende und unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Dürfen Schriftsteller sich im Bauch des Wals verstecken? Floriert die Literatur nicht außerhalb des Wals (immerhin sind gerade Orwells bekannteste Romane, "1984" und "Farm der Tiere" sehr politisch!)? Oder gibt es in Zeiten des Klimawandels sowieso keinen Walbauch mehr, in dem man sich verstecken könnte?

Zu welchem Schluss McEwan kommt, will ich an dieser Stelle nicht verraten. Dafür solltet ihr das Buch lesen! Denn es lohnt sich, wenn man sich gedanklich mit Literatur und Verantwortung, mit Kunst und Aktivismus beschäftigen möchte.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Bitte mehr davon!

Die Stunde zwischen Hund und Wolf
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"Die Geschichte des Hundes verläuft entlang der Geschichte des Menschen und andersherum."

Der Hund. Das vermeintlich erste vom Menschen domestizierte Tier, das sich im Laufe der Jahrhunderte zum treuesten ...

"Die Geschichte des Hundes verläuft entlang der Geschichte des Menschen und andersherum."

Der Hund. Das vermeintlich erste vom Menschen domestizierte Tier, das sich im Laufe der Jahrhunderte zum treuesten Gefährten und Freund des Menschen entwickelt hat.

Mari Molle zeichnet diese Geschichte nach. Sie sucht dabei nach den Grenzen von Domestizierung und Wildheit ebenso wie nach den Momenten, in denen sich der Wolf im Hund zeigt.

Als Kind wurde sie vom Hund der Familie gebissen und in diesem Biss liegt für sie das Ungezähmte, das Wilde, was unter der Oberfläche schlummert. Der Hund entpuppt sich in Molles Essay also als ein Grenztier, das der ständigen Kontrolle des Menschen bedarf, damit die Stunde zwischen Hund und Wolf nicht zurückgedreht wird.

"Hund und Mensch haben sich gegenseitig begleitet in einem gemeinsamen Werden, hin zu dem, was als Zivilisation gilt."

"Die Stunde zwischen Hund und Wolf" ist ein Essay im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Buch ist ein Textexperiment, ein Gewebe (wie im Übrigen auch der Einband darstellt), das sich zwischen Ideen und Erlebnissen bewegt. Aspekte aus Literatur, Philosophie, Kulturgeschichte und Zoologie verwebt Molle mit persönlichen Episoden und das ergibt letztlich einen anregenden Text, den ich sehr gerne noch viel länger gelesen hätte.

Also: Bitte noch viel mehr davon, Mari Molle und Rohstoff Literatur!

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