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Veröffentlicht am 22.10.2022

Das Schicksal einer mythischen Frauenfigur

Die Meerjungfrau von Black Conch
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Vor Hunderten von Jahren wurde Aycayia von den Frauen ihres Stammes wegen ihrer Schönheit verflucht. Fortan fristet sie ein einsames Leben als Meerjungfrau. Doch dann wird sie durch die Lieder des Fischers ...

Vor Hunderten von Jahren wurde Aycayia von den Frauen ihres Stammes wegen ihrer Schönheit verflucht. Fortan fristet sie ein einsames Leben als Meerjungfrau. Doch dann wird sie durch die Lieder des Fischers David zu dessen Boot gelockt und es entwickelt sich eine Freundschaft. Bis Aycayia während eines Fischerwettbewerbs von zwei Amerikanern gefangen wird. Doch David rettet Aycayia und versteckt sie bei sich Zuhause. Er ahnt nicht, dass weder der Fluch noch die Dorfbewohner die Meerfrau in Ruhe lassen werden.

Monique Roffey erzählt in “Die Meerjungfrau von Black Conch” ausgehend von der fantastischen Figur der Meerjungfrau von Kolonialismus und Unterdrückung. Black Conch, der Ort, an dem die Geschichte spielt, steht dabei stellvertretend für die Länder der Karibik und besonders für Trinidad und Tobago. Die Geschichte des Landes, die Besiedlung, die Ausrottung der Einwohner und die Inbesitznahme durch die Weißen werden im Laufe des Romans nachgezeichnet. Dies geschieht wie nebenbei, entfaltet sich parallel zur Hauptgeschichte und ist gerade deshalb so bemerkenswert.

Auf sprachlicher Ebene gelingt es Roffey diese Themen umzusetzen, das Schicksal der mythischen Figur mit der Geschichte und Gegenwart eines Landes zu verknüpfen. Doch schon vor Beginn der zweiten Hälfte des Romans schleichen sich Längen ein. Die Handlung staut sich dann, driftet in manchen Momenten gar ins Kitschige ab. Das ist schade, besonders nach dem starken Beginn und deshalb fällt diese Rezension insgesamt etwas weniger positiv aus als ich mir es selbst erhofft hatte. Alleine Gesine Schröders großartige Übersetzung hat ein uneingeschränktes Lob verdient.

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Veröffentlicht am 06.02.2022

Über die Wendungen des Lebens

Das Vorkommnis
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„Wir haben übrigens denselben Vater.“
Bei einer Lesung wird die Protagonistin des Romans mit diesen Worten von einer fremden Frau angesprochen und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben die Halbschwester, ...

„Wir haben übrigens denselben Vater.“
Bei einer Lesung wird die Protagonistin des Romans mit diesen Worten von einer fremden Frau angesprochen und sieht zum ersten Mal in ihrem Leben die Halbschwester, mit der sie den Vater teilt. Spontan umarmt sie die Frau. Das Vorkommnis, wie sie das Aufeinandertreffen im Folgenden nennt, nimmt sie ein und löst ein emotionales Chaos in ihr aus, das von nun an ihr Leben mitbestimmt.

Es entsteht eine Verschiebung im Familiengefüge, obwohl die Protagonistin von der Halbschwester durchaus wusste. Denn einst fand die Mutter einen Zettel über gezahlte Alimente in der Jackentasche des Vaters. Dieser hatte während des Krieges ein sogenanntes „Bratkartoffelverhältnis“ zu einer älteren Frau. Die Tochter aus dieser Beziehung, von der er gar nicht mit Sicherheit wusste, ob sie seine war, wurde zur Adoption freigegeben.

Es ist dieses Schicksal der unbekannten Frau, das Bilder der eigenen Vergangenheit hervorruft. Aus dem Leben der Eltern, der Großeltern und schließlich aus der eigenen Kindheit in der DDR. Die Protagonistin beginnt, vieles mit neuen Augen zu betrachten, zu überdenken. Die Halbschwester, deren Schicksal und das Verhältnis der Protagonistin zu ihr, nehmen unbewusst und bewusst einen Platz in ihrem Alltag, in ihrem Denken und Fühlen ein. Das Schreiben dient dabei als Bewusstwerdung und Aufarbeitung der Ereignisse.

Julia Schoch erzählt auf reflektierte, kluge und sprachlich gewandte Art und Weise von Einzel- und Familienschicksalen, von Nähe und Entfremdung, von dem Aufwachsen in der DDR und von den Gräben, die der Krieg in die Leben der Menschen geschlagen hat.
Das Buch bildet den Auftakt zu einer Trilogie, in der es um das Leben einer Frau geht, und man kann auf die beiden noch folgenden Bände nur gespannt sein.

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Veröffentlicht am 28.09.2021

Eine kleine Lektion in Physik, angereichert mit einer Prise Fantasy

The Upper World – Ein Hauch Zukunft
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“Es brauchte schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer ...

“Es brauchte schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit dem Zeitreisen.”

So beginnt der Debütroman des Quantenphysikers Femi Fadugba. Sein Protagonist Esso ist wissbegierig, gut in Mathe und verliebt in Nadia. Er wächst in South London auf, wo Kriminalität und Kämpfe zwischen Gangs an der Tagesordnung stehen. Als Bloodshed, ein Junge aus einer anderen Gang, verprügelt wird, ist Esso zufällig dabei. Doch der große Bruder von Bloodshed, D, nimmt es Esso übel, dass er daneben gestanden und nicht eingegriffen hat. Nun besteht auch für Esso die Gefahr, ein Opfer von Gewalt und Bandenkriegen zu werden.

“Aber obwohl ich mich wirklich bemühte, mich von jeglichem Ärger fernzuhalten, obwohl ich meiner Mutter aus tiefster Seele versicherte, dass ich mich benehmen würde, tat der Ärger leider nicht dasselbe.”

Der Roman verbindet Essos Geschichte mit Rhias, die fünfzehn Jahre nach Essos stattfindet. Rhia wächst bei Pflegeeltern auf, spielt leidenschaftlich gerne Fußball und braucht einen Tutor in Mathe und Physik. Als Dr. Esso als ihr Nachhilfelehrer in ihr Leben tritt, erfährt Rhia nicht nur mehr über ihre eigene Vergangenheit, sondern muss sich auch die Frage stellen, ob sie das Vergangene verändern will.

Physik, Mathematik, Zeitreise, Fantasy und der Lebensalltag eines Jungen in einem Problemviertel. All das verbindet der Roman auf gekonnte Weise miteinander. Er mag besonders im Mittelteil einige Längen haben, aber das tut der Überzeugungskraft der Geschichte keinen Abbruch und lässt auch seine Charaktere nicht blasser erscheinen.

Wenn ihr also wie ich “Physik nach der Mittelstufe abgegeben hab[t] […]. Bei der erstbesten Gelegenheit”, wenn ihr noch nie zuvor von den Experimenten eines Michelson Marleys, Kennedy Thorndikes oder Ives Stillwells gehört habt, wenn es euch nicht schaden würde, euch den Satz des Pythgoras mal wieder ins Gedächtnis zu rufen und wenn ihr nichts gegen einen Mix aus Naturwissenschaft und Fantasy habt, dann liegt ihr mit diesem Buch goldrichtig!

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Veröffentlicht am 30.06.2024

Zeitreise ins Hollywood der 1930er Jahre

Eve
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In sechs Geschichten entführt Amor Towles ins Hollywood der 1930er Jahre. Die Lesenden folgen Evelyn Ross, die aus Chicago nach Los Angeles gereist ist und dort auf unterschiedliche Menschen trifft. Es ...

In sechs Geschichten entführt Amor Towles ins Hollywood der 1930er Jahre. Die Lesenden folgen Evelyn Ross, die aus Chicago nach Los Angeles gereist ist und dort auf unterschiedliche Menschen trifft. Es sind diese Menschen, aus deren Perspektiven die Geschichten erzählt werden, denn durch das Zusammentreffen mit Evelyn verändern sich ihre Schicksale.

Es sind lose miteinander verknüpfte Episoden, aus denen sich das Buch zusammensetzt. Und obwohl ich Towles’ Schreibstil sehr mag, wirkte das Buch etwas unausgegoren auf mich. Es entsteht weder innerhalb der einzelnen Geschichten noch im Zusammenspiel der Geschichten untereinander Tiefe. Zu den Figuren konnte ich keine Bindung aufbauen. Sogar Evelyn Ross, die ja schließlich die Hauptfigur sein soll, blieb mir fern und wirkte nur sehr schemenhaft umrissen. Auch das Ende schien mir etwas abrupt und hat es nicht vermocht, diesen Band an Erzählungen abzurunden.

Vielleicht liest sich das Buch ein wenig anders, wenn man gerade den Roman “Rules of Civility” gelesen hätte, in dem Evelyn Ross eine der Figuren ist. Mir war er allerdings nicht mehr klar in Erinnerung und ich bleibe deshalb mit gemischten Gefühlen zurück. Schade, aber natürlich trotzdem kein Grund, um sich nicht auf weitere Romane von Amor Towles zu freuen.

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Veröffentlicht am 22.01.2024

Dystopische Zukunft

Hund 51
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Eine dystopische Zukunft. Ganz Griechenland befindet sich nach einer Staatspleite in den Händen eines Konzerns, der die Menschen unterdrückt. Zem Sparak ist deshalb geflohen, nach Magnapolis, eine Metropole, ...

Eine dystopische Zukunft. Ganz Griechenland befindet sich nach einer Staatspleite in den Händen eines Konzerns, der die Menschen unterdrückt. Zem Sparak ist deshalb geflohen, nach Magnapolis, eine Metropole, die in Zonen aufgeteilt ist. Wer in Zone 1 lebt, gehört zur Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie. In Zone 3 hingegen herrschen Armut und Ausbeutung. Einzige Hoffnung auf ein scheinbar besseres Leben bietet die Lotterie des TV Senders Destiny. Wer gewinnt, darf die Zone wechseln und bekommt einen Chip implantiert, der Gesundheit und ein langes Leben verspricht.

Das ist die Ausgangssituation in Laurent Gaudé Roman "Hund 51", der sich zwischen Genres bewegt und Elemente der Dystopie, des Krimis, Politthrillers und der Klimawandel-Literatur miteinander vereint. Er hat in mir ganz wilde Assoziationen ausgelöst, an The Hunger Games und The Dome ebenso wie an Brave New World.

Gaudé hat eine reiche Welt erschaffen, die vor lauter Details schillert und dem Lesenden eine abwechslungsreiche und spannende Lektüre bietet. Zumindest bis zum Ende, oder sagen wir, bis zum letzten Drittel des Romans. Da nehmen die Krimi- und Thrillerelemente nämlich überhand und drängen dabei so spannende Themen wie staatliche Überwachung, wirtschaftliche Monopole, Korruption in der Politik, die Unterdrückung von Gesellschaftsgruppen oder die Konsequenzen des Klimawandel in den Hintergrund. Das ist deshalb so schade, weil das für mich die Themen waren, die Substanz hatten. Und in der Hinsicht hat der Roman sein Potential leider nicht ganz ausgeschöpft. Er verliert sich zu sehr in seinem Anliegen, unterhalten zu wollen, schafft das aber zumindest auf den letzten Seiten sowieso nicht mehr.

Erzählerisch und eigentlich auch thematisch ein überzeugender Roman, wie man es von dem großartigen Laurent Gaudé erwarten würde. Es hätte nur eines weniger kon- und diffusen Endes bedurft..

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