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Veröffentlicht am 08.02.2024

12 intensive Kurzgeschichten

Drei Schalen
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Die 155 Seiten haben es in sich. Es ist ein unbequemes Buch. Beim Lesen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Murgia unverblümt von Situationen erzählt, über die man nicht gern spricht, die man nicht ...

Die 155 Seiten haben es in sich. Es ist ein unbequemes Buch. Beim Lesen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Murgia unverblümt von Situationen erzählt, über die man nicht gern spricht, die man nicht gern hört. Und tatsächlich machte ich nach jeder Geschichte eine Pause und habe lange darüber nachgedacht.
Murgia schreibt über Krisenzeiten, Trauer, Verlust, Krankheit und Tod – Zeiten, in denen Menschen nach Verbündeten suchen, nach Lösungen. Das Verbindende sind die durchweg namenlosen Figuren, die sich wie ein unsichtbarer, loser, roter Faden durch die Geschichten ziehen, was sie zu etwas Universellen macht. Ganz im Gegensatz zu den Lösungen, die individueller nicht sein könnten. Und das macht das Buch so nachdenklich.
Da ist die Frau, die erfährt, dass sie Krebs hat und ihrem Tumor einen Namen geben will – Murgias biografischste Geschichte. Oder ein Arzt, der mit ansehen muss, dass trotz akribischer Vorsichtsmaßnahmen sein Sohn mit Covid angesteckt wird. Die lesbische Frau, die Kinder hasst, sich aber als Leihmutter für ihren besten Freund zur Verfügung stellt. (Und das in einem Land, wo das Adoptionsrecht von Regenbogenfamilien beschnitten wird.)
Der Mann, der nach einer Trennung alle Orte meidet, an denen er mit seiner Freundin je gewesen ist. Die Exfreundin, die seitdem mit Übelkeit kämpft.
Eins haben sie alle gemeinsam – ihr Leben wurde durch ein Ereignis mehr oder weniger aus der Bahn geworfen. Murgia zeigt, dass es normal ist, auch unkonventionelle Lösungen zu finden. Gerade in der Pandemie hat sich immer wieder gezeigt, dass es manchmal etwas Kreativität braucht, um sich mit dem Unfassbaren, Unsichtbaren zu arrangieren, sei es auch nur, um nicht verrückt zu werden.

Nach allen Geschichten drängte sich die Frage auf, ob es wirklich ein Richtig oder Falsch gibt oder einfach nur die eigene Entscheidung, die uns hilft weiterzuleben, Akzeptanz zu finden, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Was für den einen bizarr und absurd erscheint, ist für andere vielleicht die einzige Art, einen Verlust zu kompensieren oder mittels eines Rituals eine Krise zu bestehen.
Somit wird Murgias Buch auch zu einem Appell an die Toleranz, denn so vielfältig die Menschen sind, so zahlreich sind auch ihre Entscheidungen. Damit richtet Murgia den Blick vom Individuum auf das Wir, mit ihrem direkten, ironischen Ton, den man von ihr kennt. Es ist nie zu spät, sich von alten Denkmustern zu lösen und neue Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht war das Murgias Vermächtnis, ich weiß es nicht, aber wenn, dann würde es mir gefallen.

Dem Rezensionsexemplar lag ein kurzes Interview mit Murgia bei, von dem ich mir gewünscht hätte, der Verlag hätte es ins Buch aufgenommen. Denn es hilft, die Geschichten, eigentlich ihr gesamtes Werk, mit dem Leben und den Ansichten der Autorin besser zu verknüpfen. Anders als in Deutschland war Murgia in Italien eine der bekanntesten Stimmen, die sich zeit ihres Lebens gegen Misogynie, Homophobie und den Rechtsruck in ihrem Land einsetzte. Sie war vieles, Feministin, Aktivistin, Kommunistin und nicht zuletzt die Stimme Sardiniens. Ihr Schreiben war immer politisch, genau wie ihr Leben. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie noch ein Haus für ihre zehnköpfige queere Familie und heiratet einen Mann, »aber es hätte genauso gut eine Frau sein können«, wie sie sagt, denn das Geschlecht spielte für sie keine Rolle.

»Ich bin fünfzig Jahre alt, aber ich habe zehn Leben gelebt. Ich habe Dinge getan, die die allermeisten Menschen in einem ganzen Leben nicht tun. Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie mir gewünscht habe. Ich habe wundervolle Erinnerungen.«

In dem
Interview mit »Corriere della Sera«, bei dem sie ihre unheilbare Krebserkrankung öffentlich machte, sagte sie, wie wolle nicht unter der Regierung Melonis sterben. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt, sie starb am 10. August in Rom.
Ich lege allen dieses Buch ans Herz, die eine innere Auseinandersetzung mit den o.g. Themen nicht scheuen und bereit sind, bei der Sicht auf die Dinge der Welt eine anderen Perspektive einzunehmen.

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Veröffentlicht am 25.01.2024

Unterhaltsam und tiefründig - Russo macht einfach Spaß

Ein Mann der Tat
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Ich werde es einfach nicht müde, Russo in seine abgehängten Kleinstädte zu folgen und mit allerlei kauzigen Typen und hoffnungslosen Gestalten an irgendeiner Bar zu hocken.
Diesmal nimmt uns Russo für ...

Ich werde es einfach nicht müde, Russo in seine abgehängten Kleinstädte zu folgen und mit allerlei kauzigen Typen und hoffnungslosen Gestalten an irgendeiner Bar zu hocken.
Diesmal nimmt uns Russo für ein Wochenende mit nach North Bath, eine Stadt, die schon bessere Zeiten erlebt hat und sich nun von ihrer Nachbarstadt Schuyler Springs abgehängt fühlt. Welch genialer Schachzug, das Sterben von Bath zu zeigen, indem Russo den Roman auf dem Friedhof beginnen lässt. Dort begegnen wir dem örtlichen Polizeichef Douglas Raymer, den nicht erst seit dem Tod seiner Frau vor 13 Monaten Selbstzweifel plagen. Nun aber um so mehr, denn just an dem Tag, als sie ihn wegen eines anderen verlassen will, stirbt sie bei einem Treppensturz. Neben allerlei Ungewissheit bleibt Raymer nur die Fernbedienung einer Garage, dessen Besitzer er nur allzu gern finden würde. Doch es ist heiß an diesem Memorial-Day-Wochenende, Raymer verliert das Bewusstsein und fällt in das leere Grab von Richter Flatt, den man gerade beerdigen will, den er aber nie ausstehen konnte. Als er im Krankenhaus wieder zu sich kommt, ist natürlich die Fernbedienung verschwunden. Doch damit der Skurrilitäten nicht genug, es stürzt noch die Wand eines Gebäudes ein, auf der eine gewisse letzte Hoffnung für Bath lag, (wenn auch in den Händen des impotenten, insolventen Bauunternehmers Carl Roebuck) und die Giftschlange eines ominösen Reptilienhändlers entkommt.
Doch Russos Romane ranken sich wie immer weniger um die Handlung, als um seine zahlreichen Charaktere, die er bis ins kleinste Detail zu zeichnen weiß, dass sie uns letztendlich wie altbekannte Freunde oder Feinde erscheinen. Einer davon ist Donald Sullivan, ein ehemaliger Soldat, der beginnt, sein Leben zu hinterfragen, nachdem er von seinem Arzt die Diagnose »Maximal noch zwei Jahre, aber wohl eher nur noch ein Jahr plus« erhalten hat.

Doch Russo ist nicht nur ein großartiger Erzähler, nein ebenso ein feinsinniger Beobachter. Er sieht sie, die Hoffnungen und Ängste der Menschen, zeigt den unverhohlenen Rassismus, die Kriminalität und Aussichtslosigkeit, der manche nur mit Glück, andere mit unlauteren Mitteln oder Einfallsreichtum entkommen.
»Everybody’s Fool«, so der m.E. passendere Originaltitel, erschien bereits 2017 und ist der zweite Roman, der in North Bath spielt. Nicht nur Raymer macht sich zu jedermanns Narr. Es scheint fast so, als vermasseln alle alles, hadern mit sich und der Welt und haben nicht die Kraft oder den Verstand, um dem Schicksal in seinen Allerwertesten zu treten.
Russo versteht es, die gesamte Klaviatur der Emotionen zu spielen, ich habe laut gelacht über den schwarzen Humor und mir an anderer Stelle eine Träne verdrückt. In den Kapiteln aus der Sicht des Kriminellen Roy Purdy wird Russo ungewöhnlich heftig und beschönigt nichts.

Ich kann nur sagen, lest Russo, er ist unterhaltend und tiefsinnig zugleich. Auch wenn ich anfangs vor der Seitenzahl (hier sind es 686) immer kurz zurückschrecke, so hat er mich, kaum habe ich zwei Seiten gelesen, voll in sein Russo-Universum eingesogen und lässt mich nicht mehr vom Haken.

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Veröffentlicht am 12.12.2023

Vorsehung und Schicksal in der polnischen Provinz

Beben in uns
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Der polnische Autor Małecki ist in seiner Heimat bereits eine bekannte Größe, »Beben in uns« ist sein sechster Roman, auf den ich nur zufällig aufmerksam wurde. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das Buch ...

Der polnische Autor Małecki ist in seiner Heimat bereits eine bekannte Größe, »Beben in uns« ist sein sechster Roman, auf den ich nur zufällig aufmerksam wurde. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das Buch bereits verdaut habe, denn es lässt mich zwiegespalten aber beeindruckt zurück. Zum einen hat er mich mit seinem Schreibstil, der manchmal etwas sehr Sprödes innehat und gleichzeitig sehr einfühlsam ist, sehr begeistert. Auch versteht er es, eine fast schon krimiwürdige Spannung einzusetzen, die mich in Kürze durch das Buch rasen ließ. Doch die Handlung des Buches ist düster und die Charaktere destruktiv und voller krimineller Energie, aber sie zogen mich förmlich in ihren Bann.

Es ist die Geschichte zweier einfacher Familien aus der polnischen Provinz, über die das Schicksal sein ganzes Elend ausgeschüttet hat. Und es ist wirklich fast unerträglich viel, was uns Małecki hier präsentiert.
Weil Jan Łabendowicz einer deutschen Frau die Hilfe bei ihrer Flucht vor der Roten Armee verweigert, wird seine Familie von ihr verflucht. Sein Sohn Wiktor kommt mit Albinismus zur Welt. Er zieht den Hass der Dorfbewohner auf sich, die ihn für alles Elend und alle Missgeschicke verantwortlich machen.

»Kurz darauf kam ein kleines farbloses Ungeheuer zur Welt. Seine Geburt dauerte dreißig Stunden und es brachte Irena, die vom Schreien keine Stimme mehr hatte, fast um. Der Junge war von den Augenbrauen bis zu den Fußnägeln weiß. Unter der Haut zeichneten sich hier und da dünne rosa Streifen ab. Janek versuchte, ihn nicht anzuschauen.
›Erwürg ihn, Janek‹, sagte Irena, während sie ihre Wange an das vom Schweiß durchnässte Kissen drückte.«

Auch die Familie von Bronek Gelda wird verflucht, weil er sich von einer Roma nicht aus der Hand lesen lassen will. Seine Tochter Emilia wird mit sechs Jahren schwerste Verbrennung am ganzen Körper erleiden nach der Explosion einer deutschen Handgranate.

Es scheint schon fast Vorsehung, dass Wiktor und Emilia, die beiden von der Gesellschaft verstoßenen, aufeinandertreffen, doch wenn man meint, die Geschichte könnte jetzt einen Funken Hoffnung vertragen, schlägt das Leben wieder in all seiner Härte zu.

»Der Mensch ist wie eine Maschine: Es gibt da irgendwelche Dinge, die dich beeinflussen, und du verhältst dich so, wie sie sich ergeben. Und das bedeutet, dass es keinen freien Willen gibt.« S.292

Małeckis Roman erstreckt sich von 1938 bis 2004 und wir folgen den zwei Familien über drei Generationen hinweg durch den Zweiten Weltkrieg, den Jahren des Sozialismus bis in die Gegenwart. Ihm gelingt es, die historischen Hintergründe mit dem Leben der Menschen in der Provinz zu verknüpfen, mit all ihren Schwächen und Fehlern, auf der Suche nach ihrem Glück. Mal macht Małecki nur Andeutungen, dann greift er den Ereignissen wieder voraus, doch immer schwebt das große Geheimnis über den Familien, das erst Sebastian ganz am Ende lösen wird.
Ich bin wirklich sehr begeistert von seinem grandiosen erzählerischen Talent, mit dem er jeder Figur seine ganz eigene Seele eingehaucht hat, sei es, dass sie ihr Schicksal nur stoisch ertragen hat oder einen Weg aus der Misere gesucht hat.
Auch wenn es stellenweise an Grausamkeit nicht zu übertreffen war und ich das Buch am liebsten in die Ecke geworfen hätte, gab es durchaus Stellen, bei denen ich schmunzeln musste. Zum Beispiel als ein paar Männer in einem Wald wochenlang Züge ausgeraubt haben, um die Sachen später zu verscherbeln. Doch als sie wiederholt auf mehrere Ladungen Herrenanzüge stießen, ihre Plünderungen einstellten.
Insgesamt war es eine sehr außergewöhnliche Lektüre, die ich als nostalgisch, grotesk und märchenhaft beschreiben würde, und die mir Lust gemacht hat, mehr von Jakub Małecki zu lesen.

Jetzt wo ich meine Rezension abgeschlossen habe und alles nochmals meine Gedanken und Emotionen passiert hat, bin ich der Ansicht, dass dieses Buch wirklich überragend gut war.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Das Erbe Sardiniens

Accabadora
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»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, ...

»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.

Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.

Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.

Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.

Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.

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Veröffentlicht am 29.11.2023

Eine Gedankenreise in Moll

Unendlich ist die Nacht
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»Ich wollte den Menschen kennen, den ich liebe. Und entdecken, warum ich ihn liebe, als hätte die Liebe einen Grund. Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn liebe. Vielleicht weil wir beide den Herbst ...

»Ich wollte den Menschen kennen, den ich liebe. Und entdecken, warum ich ihn liebe, als hätte die Liebe einen Grund. Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn liebe. Vielleicht weil wir beide den Herbst und lange Spaziergänge mögen. Oder weil wir beide unsere Länder jung verlassen haben. Und deswegen glauben wir, uns zu verstehen. Aber ich weiß manchmal nicht, ob wir uns verstehen. Wenn Sie sich einen Partner wünschen, damit Sie verstanden werden, liegen Sie falsch.« S.25

Selten ist es mir so schwergefallen, ein Buch in Worte zu fassen. Deshalb folgen nun eher ein paar persönliche Gedanken, weil diese Geschichte sehr viel in mir ausgelöst hat.
In einer scheinbar unendlichen Nacht folgen wir den Gedanken zweier namenloser Männer. Der eine floh 1979 aus dem Iran, der andere ein Jahr vor dem Mauerfall von Ost- nach Westberlin. Seit zwanzig Jahren sind sie nun ein Paar, sie scheinen tief miteinander vertraut und doch verbindet sie eine fast schon bedrückende Einsamkeit. So zumindest habe ich es empfunden.
Kadivar hat die Form des inneren Monologs gewählt, die beiden wechseln in jener Nacht tatsächlich kein einziges Wort miteinander. Diese »Sprachlosigkeit« ist auch eins der zentralen Themen, um das die Gedanken kreisen. Nachdem der eine den Iran verlassen hat, spricht er viele Jahre kein Persisch mehr, lernt Französisch, studiert französische Literatur, entkoppelt sich von seiner Muttersprache, als wolle er vor sich selbst flüchten. Bis er eine Stelle als Übersetzer in Berlin annimmt, die ihn unvermittelt mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Aber kann eine Sprache auch anderes sein, wenn man nur von einem Stadtteil in den anderen zieht? Ja, sie hat eine andere Farbe, einen anderen Klang, auch teils andere Bedeutungen, wie sein Partner damals feststellen musste. Etwas, das ich sehr gut nachvollziehen kann.

Auch zwischen den beiden bleibt aus den unterschiedlichsten Gründen vieles unausgesprochen. Aber in dem, was sie verschweigen, liegt viel Zärtlichkeit und Behutsamkeit und das Wissen, dass der andere eine Vergangenheit hat, die sich nicht abstreifen lässt, denn Migration ist wie ein Schatten, den man ein Leben lang mit sich trägt. Kann man, und wenn ja wie, in einem fremden Land ankommen, ober bleibt man ein Leben lang ein Fremder?

»Ich entdeckte, dass man mit der Einsamkeit leben kann, indem man sich davon nährt und sich an seine Vergangenheit erinnert. Die Zukunft war ein absolutes Vakuum, das sich von keinem Wunsch ausfüllen ließ. Die Gegenwart gab es nicht.« S.64

Ich denke, man kann das Buch unter verschiedenen Aspekten lesen, weil es auch einen tiefen Bezug zu Philosophie und Literatur hat, womit sich die beiden Protagonisten auseinandersetzen. Für mich war es aufgrund meiner eigenen Flucht eine intensive Reise in meine Vergangenheit, deren viele lose Enden hier Anknüpfungspunkte fanden.

Es ist ein leises Buch, dass beim Lesen enorm entschleunigt. Immer wieder habe ich einzelne Sätze mehrmals gelesen, weil es Kadivar gelungen ist, für etwas Worte zu finden, nach denen ich ein Leben lang gesucht habe. Was bleibt, sind viele markierte Sätze und Nachdenklichkeit.

»Die Unendlichkeit des Seins spiegelt sich in der Seele wider, die auch an sich unendlich ist. Deswegen kann man einen Menschen nie ganz begreifen. Deswegen werde ich auch dich nie ganz kennen, obwohl mir dein Atem und deine Haut so vertraut sind, und ich deine Gefühle und Gedanken so deutlich wahrnehme, und deswegen ist auch die Liebe selbst unendlich, wenn man wirklich liebt.« S.84

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