Hier ist aufmerksames Lesen notwendig
Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer ...
Dagmar Schifferli vollführt mit ihrem Roman „Meinetwegen“ ein kleines psychologisches Kunststück. Die auf den ersten Blick wie die reumütigen Therapiesitzungen einer jungen Straftäterin, die Opfer ihrer eigenen harten Kindheit wurde und somit zur Täterin, aufgebaute Geschichte bietet mehr als erwartet.
Die 17jährige Katharina erscheint zur ersten Therapiesitzung mit ihrem Psychiater in einer geschlossenen Einrichtung für auffällige Jugendliche. Ganz unerwartet gibt sie vom ersten Satz an den Ton an und legt fest, dass ihr Therapeut schweigen müsse und nur sie reden dürfe. Nicht einmal räuspern dürfe sich der Mann. In der ersten Hälfte des Buches lesen wir einen Monolog von Katharina über ihre schlimme Kindheit. Immer wieder bekommen wir – mal mehr mal weniger – subtile Hinweise darauf, dass sich das Gespräch in 1970 abspielt. Im zweiten Teil dann lässt Katharina den Therapeuten Kärtchen mit kurzen Wörtern wie „Ja“, „Nein“, „Warum?“ hochhalten und kommt somit in eine Art Dialog mit ihm. Ganze 17 Therapiesitzungen bekommen wir auf diesem Wege vermittelt und bekommen sogar noch einen kleinen Ausblick, wie es zukünftig mit Katharina darüber hinaus weitergehen könnte.
Mich hat zunächst die – für mich – innovative Form der einseitigen Darstellung einer Kommunikation und im Speziellen eines Therapiesettings überrascht sowie positiv eingenommen. Etwas derartiges habe ich bis dato noch nicht gelesen. Enttäuschend schlug sich für mich dann die Entwicklung nieder, dass doch plötzlich Kärtchen zur dyadischen Kommunikation genutzt werden und somit die Stringenz der Erzählung unterbrochen wird. Auch empfand ich das Einweben von Hinweisen zum zeitlichen Setting in 1970 erst sehr gekonnt und später dann leider doch zu penetrant. Nach zwei drei Andeutungen Katharinas sollte eigentlich jedem:r Leser:in klar geworden sein, in welchem Handlungsjahr wir uns befinden. Störend empfand ich ebenso die vermehrt auftretenden Hinweise von Katharina auf Gegenstände, die im Therapieraum eigentlich für beide Gesprächspartner sichtbar sind, und scheinbar nur angesprochen werden, dass die Lesenden erfahrend, was Katharina gerade nonverbal tut, z.B. etwas Wasser trinken, husten, die Uhrzeit ablesen.
Aber all diese Punkte, die mich im Gesamten das Werk von Schifferli zunächst kritisch haben sehen lassen verblassen gegen den versteckten Anteil Katharinas Ausführungen. Bei aufmerksamen Lesen werden immer mehr Indizien ersichtlich, die Katharina als waschechte Psychopathin ausweisen und sie von einem bemitleidenswerten Opfer ihrer Lebensumstände zu einer berechnenden Täterin im Opfer-Schafspelz machen. So bekommt der Roman zwei Deutungsebenen, die eine Zweitlektüre lohnenswert werden lassen. Geschickt wickelt die Autorin ihre Leser:innen zunächst um den Finger. Man sollte jedoch während der gesamten Lektüre nicht vergessen, dass Katharina selbst sich schon auf der ersten Seite als eine unzuverlässige Erzählerin beschreibt. Dass diese Unzuverlässigkeit nicht mit Erinnerungslücken sondern mit dem Willen zur Manipulation zusammenhängt wird im Verlauf immer deutlicher. Eine kreative Charakterdarstellung von Katharina, die psychologisch durchaus schlüssig gelungen ist.
Insgesamt handelt es sich meines Erachtens hierbei um einen sehr klug konstruierten Roman über eine äußerst hinterlistige Wölfin im Schafspelz. Ich habe das Buch trotz seiner kleinen Schwächen sehr gern gelesen und mich diebisch an den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten erfreut. Es handelt sich bei diesem 112 Seiten dünnen Büchlein um eine definitiv lohnens- und empfehlenswerten Lektüre.
Somit komme ich auf glatte 4 Sterne und damit die Bewertung „sehr gut“.