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Veröffentlicht am 29.01.2024

"Leben ist Katastrophe", dieses Buch allerdings nicht!

Der Distelfink
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„Leben ist Katastrophe“ zu diesem Schluss kommt Theo Decker am Ende dieses Romans und zu Beginn: „Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie [Theos Mutter] am Leben geblieben wäre.“ Keine Angst, ...

„Leben ist Katastrophe“ zu diesem Schluss kommt Theo Decker am Ende dieses Romans und zu Beginn: „Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie [Theos Mutter] am Leben geblieben wäre.“ Keine Angst, das sind keine Spoiler, denn gleich im ersten Kapitel erfahren wir, dass der erwachsene Theo durchaus in der Klemme steckt, um es nett auszudrücken aber nicht mehr zu verraten.

Dieser Roman entwickelt sich in Richtungen, die man zu Beginn der Geschichte nie geahnt hätte, durch Überschreiben mit mannigfaltigen, neuen Informationen nach dem ersten Kapitel auch gar nicht mehr im Blick hatte, und schafft es doch (fast) immer die Leserin mitzuziehen in diese Richtungen der wilden Wendungen und Kapriolen. So verliert Theo, in seinem Beisein, die eigene, alleinerziehende Mutter bei einem Bombenanschlag auf ein großes New Yorker Kunstmuseum, ur nachdem sie ihm ihr Lieblingsbild aus Kindheitstagen gezeigt hat. Aus Schutt und Asche nimmt er in innerer wie äußerer Verwirrung das Bild „Der Distelfink“ von Carel Fabritius in 1654, dem Jahr seines Todes gemalt, mit nachhause und scheint seit diesem schicksalhaften Tag mit ihm verbunden, versucht es loszuwerden und kann es doch nicht hinter sich lassen, da es so stark mit der Mutter verbunden scheint.

Über die ersten 560 Seiten hinweg begleiten wir den 13jährigen Halbwaisen Theo nun zwei Jahre lang auf seinem Weg von der Upperclass-Pflegefamilie, über den Las Vegas-Spieler-Alptraum, fast White Trash, und durch verschiedenste Drogenräusche, aber auch Freundschaften und Ankommen im scheinbar sicheren Nest. Diese ersten 560 Seiten zeigen die Entwicklung Theos meisterhaft zu einem geschundenen 15-Jährigen auf. Traumatisierungen werden subtil und gleichzeitig unglaublich detailliert gezeigt. Aber die Odyssee Theos endet nicht an dieser Stelle. Das Buch macht einen Sprung von acht Jahren und zeigt die Welt von Kunst, Betrug und moralischem Verfall im nun jungen Erwachsenen Theo. Ab hier hat mich der ausschweifende Plot ein wenig zu stark strapaziert. Der Kapriolen und Wendungen des Schicksals war es mir dann doch ein Tüpfelchen zu viel. Die überbordende Sprache der Autorin wird manchmal ein kleines bisschen zu klischiert. Aber weiterhin schafft sie es, wie auch im ersten Teil des Buches die vorgestellten Milieus meisterhaft zu erfassen und darzustellen. Meines Erachtens, neben der grandiosen Charakterentwicklung Theos und der dreidimensionalen Ausleuchtung der Nebenfiguren, die größte Stärke dieses Romans. Das Ende wirkte mir dann - nach dem bis dahin gelesenen Epos - fast ein wenig zu fad und gefühlt plätschert der Roman zum Ende hin ein wenig in philosophisch-moralische Betrachtungen aus.

Durchhaltevermögen ist bei diesem knapp über 1000 Seiten dicken Roman wirklich vonnöten. Für mich war er insgesamt einen Ticken zu lang und gleichzeitig aber auch nie wirklich langweilig. Die Autorin hätte einfach aus meiner Sicht etwas mehr Erzählökonomie walten lassen und die ein oder andere schicksalhafte, fast thrillerartige Wendung im zweiten Teil weglassen können. Das ist aber alles Meckern auf hohem Niveau, da der Roman im Gesamten definitiv überzeugen kann.

Die Lesung von Matthias Koeberlin ist wirklich sehr angenehm, auch wenn er es nicht besonders gut schafft, weiblichen Charakteren gewisse Eigenarten mitzugeben. So wird z.B. im Text explizit die rauchige Stimme einer Protagonistin beschrieben und dann klingt sie doch wie jede andere weibliche Figur in diesem Hörbuch auch. Gerade die männlichen Figuren gelingen Koeberlin hingegen sehr gut, sodass ich doch seine Arbeit insgesamt als gelungen bezeichnen würde. [Einschränkende Anmerkung: Dies ist mein allererstes Hörbuch, sodass ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe.]


Für das Hörbuch: 3,5/5 Sterne = „überdurchschnittlich gut“, aufgerundet auf 4 Sterne „sehr gut“ bei sehr guter Buchvorlage.

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Auf den Hund gekommen

Timbuktu
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Paul Auster ist auf den Hund gekommen. Jedenfalls in seinem 190 Seiten kurzen Roman „Timbuktu“. Dort geht es um Mr Bones, welcher als wilder Mischling von seinem Herrchen als Welpe aus dem Tierheim gerettet ...

Paul Auster ist auf den Hund gekommen. Jedenfalls in seinem 190 Seiten kurzen Roman „Timbuktu“. Dort geht es um Mr Bones, welcher als wilder Mischling von seinem Herrchen als Welpe aus dem Tierheim gerettet wurde und diesen nun im wahrsten Sinne des Wortes bis zum letzten Atemzug begleitet. Willy, der Besitzer von Mr Bones, hat Ende der 1960er während seines Studiums ein paar Substanzen zu viel und zu durchmischt eingenommen und hängt seitdem auf einer substanzinduzierten Schizophrenie fest. So zieht er als Vagabund mit seinem tierischen Begleiter durch Amerika, nur im im Winter zu seiner Mutter ins warme Heim zurückzukehren. All das erfahren wir aus Erinnerungen bzw. Erzählungen aus dritter Hand, die wir durch den personalen Erzähler, der an Mr Bones orientiert ist, vermittelt bekommen. Die Erzählung setzt eigentlich erst ein, als sich Herrchen und Hund auf eine letzte Reise machen, da Willy sich eine schwere Erkrankung auf der Straße zugezogen hat und nun seine alte Englischlehrerin aufsuchen möchte. Doch Willy verstirbt und fortan ist Mr Bones auf sich allein gestellt, findet als Streuner neue Menschen und bewegt sich auf ein tragisches Ende zu. Laut Willy ist „Timbuktu“ der Ort, an den alle Menschen und Hunde nach dem Tod kommen.

Grundsätzlich scheint es ja erst einmal toll eine Hundegeschichte, geschrieben von einem preisgekrönten Autor, lesen zu können. Leider verliert Auster häufig den Faden, oder hatte ihn nie so richtig in der Hand. Die erste Hälfte des Buches strotzt nur so von frei assoziierten Monologen Willys, die mit der Zeit einfach sehr anstrengen und eben auch zu nichts führen. Damit spiegelt zwar Auster das kognitiv verzerrte Gedankenkonstrukt eines Schizophrenen sehr gut wider, man fragt sich aber über weite Strecken, was das jetzt noch mit Mr Bones zu tun hat. Während des Versterbens Willys nutzt dann Auster auch noch ein Stilmittel, welches an dieser Stelle stark überstrapaziert wurde. Erst träumt Mr Bones in einem ausführlich beschriebenen Traum, dass und wie genau Willy stirbt. Um diesem ins Krankenhaus folgen zu könne, was für Hunde ja nicht erlaubt ist, teilt er sein Hundebewusstsein auf in den Hund und in eine Fliege. Diese Fliege begleitet dann als stiller Beobachter den Sterbeprozess, nur um dann wieder aufzuwachen und einfach zu „wissen“, dass es genauso passieren wird in wenigen Momenten. Die Traumsequenz wird vom Hund Mr Bones leider auch sehr ausführlich reflektiert, was meines Erachtens etwas weit aus dem Fenster gelehnt ist.

In der zweiten Hälfte des Buches wird deutlich, dass Auster mithilfe des Vehikels Mr Bones versucht, verschiedene Lebensmodelle der Besitzer von Mr Bones gegenüberzustellen. Das Landstreichertum von Willy mit all seinen Freiheiten aber auch Beschwerlichkeiten gegenüber einem Familienleben in einer Vorortsiedlung mit Rasenmähen, Shopping Malls und all seinen Zwängen aber auch Sicherheiten. Hier wird dann auch am meisten auf die Bedürfnisse eines Hundes eingegangen. Was wirklich auch korrekt zusammengetragen ist und alle engagierten Hundebesitzer freuen wird zu lesen. Ein Rezensent von DIE ZEIT Hanns-Josef Ortheil benennt dies – durchaus nicht falsch - „seltsame Mischung aus einem flotten, sich anbiedernden Ton und der informativen Prosa eines Tiermagazins“. Und ja, da hat er recht. Für Otta-Normal-Leserin sind das die angenehmsten Passagen, und ja, auch der informative Charakter ist da. Ich oute mich: Mir hat dieser Teil am besten gefallen. Das Ende jedoch ist himmelschreiender, vermenschlichter Blödsinn. Leider kann und will ich an dieser Stelle nichts spoilern. Schade, denn so kann ich nicht mit Argumenten untermauern, warum dieser Roman bei insgesamt 3,5 Sternen, letztendlich für mich bei abgerundeten 3/5 Sternen gelandet ist.

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Veröffentlicht am 11.09.2023

Alles „nur“ ein Traum?

Chich
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Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen ...

Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen des Traums eingreifen kann. Ein wissenschaftlich hoch spannendes Thema, welches Jonas R. Kairies in einer postapokalyptischen Rahmenhandlung aufgreift.

Der Protagonist des Romans besitzt die Fähigkeit zum Klarträumen und wird immer tiefer in die Handlung seiner Klarträume hineingezogen. Im vermeintlichen Wachzustand lebt er in einer Welt, die in einer nicht näher bezeichneten Zukunft, nach einem nicht näher bezeichneten Zusammenbruch der Gesellschaft angesiedelt ist. Sein älterer Mentor Alfons leitet ihn darin an, seine Klarträume genauer zu betrachten und sich diese zunutze zu machen. Ein bestimmter Klartraum taucht dabei immer wieder auf: Der Protagonist findet sich in einer scheinbar vormittelalterlichen Zeit wieder, in einem fremden Körper, der von Narben gezeichnet ist und auf die Menschen abstoßend wirkt. Die Sprache der Menschen versteht er nicht, auch kann er sich nicht laut ausdrücken. Schnell wird klar, er hat keine Ahnung, wie man in dieser Zeit überlebt, ist er doch einen gewissen technischen Stand aus seiner Wachzeit gewöhnt.

Kairies entwirft geschickt diese beiden Welten aus postapokalyptischer Wiederaufbauphase und antiker Landschaft. Während wir in seiner Wachzeit mehr über die neuen gesellschaftlichen Strukturen erfahren, die mit Ressourcenknappheit versucht eine neue Ordnung zwischen den Menschen aufzubauen, wird sehr realistisch dargestellt, wie verloren ein moderner Mensch zu Vorzeiten sein würde. Dort gibt es zwar noch Wälder, Pflanzen, Tiere aber sich diese zunutze zu machen, muss erlernt sein. Zum Glück steht dem Ich-Erzähler bald ein Junge zur Seite, der ihm hilft, im Wald und in der Dorfgemeinschaft über die Runden zu kommen. Nur verschwimmen damit auch zunehmend für den Protagonisten die zunächst noch deutlichen und später nur noch feinen Linien zwischen Traum und Realität.

Die größte Stärke des Romans zeigt sich meines Erachtens in der Fähigkeit Kairies diese beiden Welten, obwohl in einem phantastischen Setting, unglaublich realistisch und glaubhaft zu erschaffen. Der Protagonist ist menschlich und kann daher nicht einfach alles. So fühlt man sich selbst in die Situation versetzt, wie man als verwöhnter, moderner Mensch überhaupt in diesem Traumszenario überleben würde. Geschrieben ist das alles in einem soliden Stil, der ab und an saloppe, alltagssprachliche Formulierungen einbindet, insgesamt aber sprachlich durchaus auf einem sehr guten Niveau changiert. So taucht man ganz schnell in die angebotenen Atmosphären ein und liest süffig und gern das Buch, möchte nach dem Cliffhanger zum Schluss am liebsten sofort mit dem, bisher noch nicht erhältlichem, Nachfolgeband weitermachen. Nach meinem Geschmack hätte es gerne noch mehr Ausführungen zum postapokalyptischen Erzählstrang, in den wir immer wieder zurückkehren, geben können. Wie aber bereits der Titel zeigt, liegt die Gewichtung des Romans eindeutig auf dem Phänomen des luziden Traums und der Frage nach der Realität. Was ist Wirklichkeit? Können wir dies tatsächlich klar festlegen? Und was sind eigentlich Träume? Wohin führen sie uns? Kairies stellt mit diesem Roman auf philosophischer Ebene das Konzept des Träumens in Frage, beleuchtet es und sortiert es neu.

Kleinere formelle Schwachstellen des gedruckten Buches stelle ich bei meiner Bewertung hinten an und runde auf 4 Sterne auf. Deshalb kann ich Interessierten die Lektüre dieses Buches über das Wesen von Klarträumen wirklich empfehlen. Ich habe es sehr gern gelesen. Personen, die selbst sehr intensiv und luzide träumen, werden sich hier mitunter wiederfinden und Menschen, denen dies nicht gegeben ist, können sich in diese Erfahrungen hineinfallen lassen und etwas Neues erleben.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 05.09.2023

Unentdecktes „Grooming“ in der Kirchengemeinde

Die Stärkste unter ihnen
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In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen ...

In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“ Ich musste den Begriff selbst erst nachschlagen. Ist zwar das Vorgehen durchaus bekannt, so hat das ganze jetzt auch einen Namen. Und mit dem Roman von Seemann bekommt es auch noch eine Geschichte.

Da ist Milena, die im Alter von 15 Jahren eine „Beziehung“ mit dem 35jährigen, verheirateten Kirchenmitarbeiter Nick gerät. Nick ist bei allen Kindern und Jugendlichen in der Kirchengemeinde beliebt. Er weiß mit jungen Menschen umzugehen, so scheint es von außen. Nur wenige fragen sich, warum er ausschließlich Jugendliche in seinem Freundeskreis hat und sich scheinbar gar nicht mit Gleichaltrigen abgibt. Die „Beziehung“ von Milena und Nick wird sechs Jahre anhalten, bis sie den Absprung schaffen und sich von ihm trennen wird. Das erfahren wir gleich zu Beginn des Romans, wenn Milena kurzerhand nach der Trennung in 2014 zu Josh nach Irland reist und sich direkt in die nächste merkwürdige Verbindung wirft.

Mithilfe von Rückblicken erfahren wir nach und nach, wie diese „Beziehung“ zwischen Milena und Nick zustande gekommen ist und welche Abscheulichkeiten die verliebte Milena alles ertragen musste. Bis zum Schluss bezeichnet sie die Verbindung zum Täter Nick als „feste Beziehung“, nimmt zwar zunehmend wahr, dass da etwas nicht richtig sein kann, bleibt aber für lange Zeit in dem Gefühl des Verliebtseins verhaftet. Nick unterdessen hat nicht nur mit der 15jährigen von Beginn an Sex, sondern überredet sie auch, mit fremden Männern Sex zu haben. Das wird alles im Anfangsteil des Romans ungeschönt beschrieben und hier sei eine Warnung an alle ausgesprochen, die mit solchen Beschreibungen nicht gut klarkommen, denn was Seemann beschreibt ist wirklich heftig.

So stellt sich schnell eine absolute Fassungslosigkeit aufgrund des Missbrauchs an Milena ein, die Seemann durch ihre direkte Sprache eindringlich zu evozieren weiß. Immer wieder möchte man dieses Mädchen aus dieser schrecklichen Verbindung herausreißen und schützen. Allein das Wissen vom Beginn des Romans, dass diese „Beziehung“ ein Ende haben wird, lässt einen die Beschreibungen aushalten. Sehr geschickt zeigt Seemann gleichzeitig durch die Zeitebene in 2014 auf, dass Milena aufgrund dieser vollkommen falschen Beziehungserfahrung zu Nick noch viele Jahre gezeichnet sein wird. Sie schafft es nicht zum gleichaltrigen Josh, der auch eine sehr merkwürdiger Zeitgenosse ist, eine adäquate Beziehung aufzubauen, bläst sie ihm doch direkt zur Begrüßung einfach mal eben einen. Wie vor den Kopf gestoßen liest man diese Szenen und muss sich erst einmal auf diese verqueren Verhaltensweisen einstellen.

Neben dieser authentischen Darstellung von Milena stellt meines Erachtens eine Stärke des Romans dar, dass, wenn auch nur ganz kurz, auch „nette“ Seiten von Nick aufblitzen, die verdeutlichen, warum Milena so viele Jahre trotz allem an Nick festgehalten hat. Die Trennung nach so vielen Jahren, obwohl es zuvor schon mehr als genug heftige Auslöser hätte geben können, wirkt dann doch irgendwie recht unverhofft und plötzlich. Das ging mir dann doch etwas schnell und hätte gern noch näher aus der Innensicht Milenas erklärt werden können. Auch springen wir letztlich noch einmal in die Gegenwart und erfahren, wie es mit Nick weitergegangen ist. Das wird dann nur kurz angerissen, ist aber eigentlich eine ganz schöne Bombe. Auch wundert man sich zuvor, dass die Ehefrau von Nick so gar nichts mitbekommen haben will von seinen Machenschaften. Das wäre für mich alles noch im literarischen Sinne zu tolerieren gewesen, leider hat der Roman aber meines Erachtens einen wirklich großen Schwachpunkt: Die Eltern oder generell die Familie von Milena findet im Roman nicht eine einzige Erwähnung. Die Figur Milena scheint im luftleeren Raum zu existieren. Nun könnte es ja sein, dass die Eltern physisch und/oder psychisch abwesend waren und sie erst dadurch zum Opfer dieses Groomings hat werden können. Aber dafür gibt es keinerlei Anhalt im Buch. Die Eltern existieren einfach nicht in der Erzählung. Und das ist für mich gerade bei diesem Thema einfach inakzeptabel. Bei einer 15Jährigen, die übrigens schon zuvor mit 14 Jahren eine sexuelle Beziehung hatte, spielen die Eltern doch noch in irgendeiner Weise eine Rolle. Diese auszusparen lässt eine klaffende Lücke zurück. Es gibt innerhalb des Romans keine Erklärung für diese literarische Entscheidung. Ich habe eine ganz wilde Vermutung, die aber in keinster Weise gesichert ist: Die Protagonistin hat dasselbe Geburtsjahr wie die Autorin; sie heißt Milena, die Autorin Selina; und die Autorin schreibt in der Danksagung an ihre Eltern folgendes: „Bitte blättert bei einigen Kapiteln einfach weiter.“… Vielleicht hat die Geschichte der Protagonistin ihre Inspiration in der realen Welt und eventuell sollten hier die Angehörigen geschützt bzw. nicht involviert werden. Keine Ahnung. Aber fachlich und literarisch kann ich diese Entscheidung nicht gutheißen.

So runde ich bei einem ansonsten sehr guten Roman letztlich doch noch auf 3 Sterne ab. Lesenswert ist der Roman definitiv trotzdem, nur gefestigt sollte man bezogen auf die Thematik schon sein, bevor man die Lektüre beginnt.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.09.2023

Tolle Sprache aber zu zerfaserte Geschichte über Gewalt

NOVA
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Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten ...

Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten sein jugendlicher Sohn und vor allem seine Ehefrau in einem Restaurant von einem fremden Mann angepöbelt, angebaggert und angegrapscht werden, reagiert Davide nicht, beobachtet alles aus einer sicheren Distanz heraus. Es greift ein Unbeteiligter ein, indem er selbst Gewalt anwendet, um den Übergriffigen zur Räson zu rufen. Während wir in den Alltag der Familie eintauchen, sucht sich Davide Hilfe, um sich die Fähigkeit zur Gewaltanwendung anzueignen, denn bisher ist er der Meinung, einfach dazu gar nicht fähig zu sein. Alles gipfelt in einem Showdown, in dem das Leben der Familie in Gefahr gerät. Wie wird sich Davide verhalten?

Gleich ab dem ersten Satz habe ich mich in die Sprache und Fabulierkunst von Fabio Bacà verliebt. Christine Ammann bringt mit ihrer Übersetzung aus dem Italienischen diesen Roman wirklich zum sprachlichen Meisterwerk, indem sie die in Masse angewandten Fachbegriffe aus der Neurologie, welche in das Denken der gesamten Familie eingezogen sind, wirklich sehr gekonnt ins Deutsche überführt. Mit einem stark selbstironischen Unterton wird hier eine hoch gestochene Sprache verwandt, die Substantive aneinander reiht, komplizierte Satzkonstruktionen und anspruchsvolle Inhalte verwendet. Gerade weil das alles mit viel Ironie geschieht, macht es so einen Spaß den Text zu lesen. Fachlich sind die Ausflüge in die Neurologie und Psychologie dabei korrekt vom Literaten Bacà wiedergegeben. Wirklich eine Freude. Allerdings wechselt zum Ende hin der Ton des Romans hin zu einem ernsten mit einer soliden, aber unauffälligeren Sprache, sodass damit auch der Fokus des Ganzen zunehmend verloren geht.

Der inhaltliche Fokus ist für mich auch das größte Problem am Buch. Folgt man noch den Alltagsgeschichten der Familie, die mitunter losgelöst vom Gesamttext wirken, noch über weite Strecken gern, so fragt man sich zunehmend, was uns der Autor mit dem Roman vermitteln möchte. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Gewalt immer noch mehr Gewalt nach sich zieht und dass Gewalt, egal mit welchem Zweck, unangebracht ist. Selbst zur Selbstverteidigung? Ich weiß es nicht. Der Roman bietet mir hier allerdings wenig neue Denkansätze, er wird zunehmend zu einer unfokussierten Geschichte über Gewalt im Alltag. Eine Quintessenz fällt mir allerdings schwer zu formulieren.

Die Zeichnungen der Figuren funktionieren als Skizzen, hätten aber auch noch tiefgründiger ausgearbeitet werden können. Man bekommt einen kleinen Eindruck, fast wie bei einer Kurzgeschichte, aber für einen Roman scheinen sie zu kurz gegriffen. Auch zaubert der Autor ganz zum Schluss eine vollkommen unerwartete Handlung einer Figur aus dem Hut, die im Roman keine Grundlage hat und erst im Nachhinein von einer anderen Figur erläutert wird. Das bewirkt zwar ein spektakuläres Finale für den Roman, entbehrt aber auch der notwendigen Unterfütterung und wirkt dadurch unglaubwürdig, wenn auch nicht vollkommen unmöglich.

Wenn es nur nach der Sprache gehen würde, der Roman hätte von mir 5 von 5 Sternen bekommen. Leider zerfasert er aber inhaltlich zu stark und lässt die Intention des Autors vermissen. Somit lande ich bei wirklich sehr guten 3 Sternen (3,5) und würde den Autor durchaus weiter im Blick behalten mit der Hoffnung, dass er sich zukünftig noch besser thematisch fokussieren kann.

3,5/5 Sterne

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