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Veröffentlicht am 29.01.2024

Tiefgründige Science-Fiction aus Nigeria

Rosewater
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Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde ...

Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde Welt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2066 ausdenkt, in der die Außerirdischen bereits lange auf der Erde angekommen sind. Und sie sind vielleicht laut Plothistorie 2012 erstmals in London angekommen, aber tatsächliche Auswirkungen zeigen sie - ganz ungewohnt - eben nicht in Europa oder Amerika, sondern auf dem afrikanischen Kontinent, speziell auf dem Gebiet Nigerias. Somit krempelt dieser Roman schon einmal vollkommen die Lesegewohnheiten von uns mitteleuropäischen Sci-Fi-Leser:innen gehörig um.

Im Zentrum des Geschehens steht Kaaro, ein Mitte 40-Jähriger sogenannter "Empfänger". Er hat seit seiner Kindheit "übernatürliche" Fähigkeiten (welche später noch sehr gut wissenschaftlich fundiert erklärt werden), durch welche er - einfach gesagt - die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Das ist jetzt stark verkürzt dargestellt, denn eigentlich ist er fähig, sich in die sogenannte Xenosphäre einzuklinken. Diese besteht aus zahlreichen miteinander vernetzten pilzartigen Organismen, die durch die Luft schweben und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Prinzipiell handelt es sich um ein ausgeweitetes Informationsnetzwerk, auf welches nur wenige Menschen (ich lasse hier mal offen weshalb) zugreifen können. Kaaro lebt in Rosewater, einer Stadt, die sich nach dem Auftauchen einer außerirdischen Entität, einer riesigen Kuppel mit einem Durchmesser von 50 km, um diese Kuppel herum gebildet hat. Denn - wieder entgegen der altbekannten Seh- und Lesegewohnheiten - zeigt sich die Entität nicht angriffslustig, sondern gütig in Form von Heilungen kranker Menschen, die einmal pro Jahr in ihrer Nähe stattfinden. Um Kaaro entwickelt sich ein fast schon Agenten-Plot, da er aufgrund seiner Fähigkeiten von einer Regierungsbehörde angeworben wurde.

All dies erfahren wir durch verschiedene Erzählstränge, die jedoch stets beim Ich-Erzähler Kaaro bleiben. Allein die Zeitebene wechselt ständig. Die so betitelte "Jetzt"-Zeit spielt 2066, dann gibt es noch Rückblicke in die "Früher"-Zeit beginnend mit 2031 bis ca. 2059, welche viel Wissen um Kaaros Fähigkeiten und die Geschehnisse bis aktuell vermitteln, sowie "Zwischenspiele" oder "Missionen", die besondere Ereignisse/Missionen in den letzten 10 Jahren von Kaaros Leben bis jetzt darlegen, mit dem Fokus auf seine "Agenten"-Tätigkeit. Das ist tatsächlich der verwirrendste Part dieses Romans. Meines Erachtens hätte es die gesondert betitelten "Zwischenspiele" nicht gebraucht bzw. wirkten diese ab und an überfordernd, wenn man sie gedanklich versucht, in das Gesamtbild chronologisch korrekt einzuordnen. Aber das ist eine minimale Kritik im Rahmen meiner allgemeinen Begeisterung für diesen Roman.

Denn dem Buch merkt man im allerbesten Sinne die Berufung des Autors als Psychiater an. So entwirft er die Charaktere des Romans nicht nur glaubwürdig sondern stellt psychologische Zusammenhänge, die sich aus der Fähigkeit des "Gedankenlesens" ergeben, schlüssig und fachlich fundiert dar. Auch das mykologische Konstrukt um die außerirdische Entität herum ist plausibel erschaffen. Der technische Fortschritt ist authentisch an das Jahr 2066 angepasst und wird gut erklärt. Was mich aber besonders am Roman begeistert hat: Thompson spart nicht an Gesellschaftskritik. So wird immer wieder das Thema der als "illegal" eingeordneten Homosexualität in Nigeria, welche in unserer Zeit 2022 vorherrscht, aber im Roman auch noch in 2066 dort besteht. Die Verfolgung dieser Menschengruppe bis zum Tod durch den Mob. Weiterhin findet die Vergangenheit Nigerias, als ein durch die Kolonialisierung traumatisiertes Land, Eingang in die Erzählung. Eine despotische, korrupte Herrscherrieger darf natürlich auch in 2066 nicht fehlen. So legt Thompson mit seinem als Science-Fiction "getarnten" Roman den Finger in gleich mehrere gesellschaftliche und politische Wunden seines Heimatlandes.

Insgesamt bin ich also äußerst begeistert von diesem ungewohnten Lektüreerlebnis. Science-Fiction mit Tiefgang auf mehreren Ebenen. Wirklich empfehlenswert für alle, die sich grundsätzlich auf die oben beschriebenen Grundannahmen einlassen können.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Abenteuer Sprache

Stürzen Liegen Stehen
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Als ich „Stürzen Liegen Stehen“ von Jon McGregor aufschlug, erwartete ich einen anspruchsvollen Abenteuerroman. Bekommen habe ich einen facettenreichen Roman über ein menschliches Unglück an einem unwirtlichen ...

Als ich „Stürzen Liegen Stehen“ von Jon McGregor aufschlug, erwartete ich einen anspruchsvollen Abenteuerroman. Bekommen habe ich einen facettenreichen Roman über ein menschliches Unglück an einem unwirtlichen Ort, die Geschichte eines Menschen, der durch eine Schlaganfall die Sprache und Teile seiner Motorik verliert, einer Ehefrau, die sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hat und nun zur häuslich-pflegenden Angehörigen wird und den Kampf aller Beteiligten zurück in ein nun neues, aber lebenswertes Leben.

Für mich stellt „die Sprache“ das eigentliche Abenteuer des vorliegenden Romans dar. Mit anbetungswürdigem Können nutzt McGregor Sprache, um nicht nur einen Defekt des Gehirns authentisch darzustellen, sondern auch, um Ereignisse von verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, Beziehungen punktgenau mit nur wenigen Worten auszuleuchten und unvorstellbare Belastungen herauszuarbeiten. In jedem der drei Abschnitte des Buches (logisch: Stürzen /, Liegen _, Stehen | ) verwendet der Autor verschiedene personale Erzählperspektiven, um die verschiedenen Persönlichkeiten in ihren Eigenarten sowie unterschiedliche Wahrnehmungen von ein und derselben Situation darzustellen. Das überrascht von Kapitel zu Kapitel und hält stets die Spannung und das Interesse am Plot hoch. Allein im letzten Abschnitt waren es mir ein bisschen zu viele neue Figuren, zu viele personale Erzählperspektivwechsel, was der beeindruckenden Gesamtlektüre jedoch keinen Abbruch tut.

Die Recherchearbeit, die hinter diesem Roman steckt, muss enorm gewesen sein und ich finde, McGregor hat es im besten Sinne hinbekommen, dass man trotzdem als Leser:in nur so in den Roman hinein gezogen wird. Äußerst nah an der Realität bewegt sich der Autor gekonnt zwischen den angesprochenen Themengebieten hindurch. Von Antarktismission mit katastrophalen Folgen, über medizinische Behandlung und Diagnostik, zu häuslicher Pflegesituation, hin zu dem ganz individuellen Kampf zurück in ein anderes, neues Leben. Besonders die häusliche Pflegesituation und daraus unweigerlich entstehende Überforderung war für mich besonders aufwühlend dargestellt. Auch hier sprachlich in ganz eigener Art und Weise.

Meines Erachtens sollte an dieser Stelle die Übersetzung von Anke Caroline Burger gesondert hervorgehoben werden. Wie sie mit der Vorlage des Autors umgegangen ist, könnte man virtuos nennen.

Wer also bei diesem Buch allein einen Abenteuerroman erwartet, wird keineswegs enttäuscht mindestens überrascht, nein, sogar begeistert mitgerissen werden in eine zunächst ungewöhnliche und später sehr menschlich tiefgründige Geschichte. Meine Begeisterung für diesen Roman ist so groß, dass ich eine Lektüre nur dringend empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 19.12.2023

Ein mit sehr viel Raffinesse konstruierter Roman

Das Meer der endlosen Ruhe
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Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie ...

Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie schon das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt durch die Zeit. Von einem britischen, ausgestoßenem Adelsspross, Edwin St. John St. Andrew, 1912 im kanadischem Exil, nach 2020 zu einer merkwürdigen, musikalischen Kunstperformance des Bruders der bereits verstorbenen Vincent (weibl.), zur Autorin Olive Llewellyn, die in 2203 für eine Lesereise ihre Heimat, die Mondkolonie, verlässt und auf der Erde herumreist, bis in die ferne Zukunft 2401 ebenso auf dem Mond, auf dem es ein Zeitreiseinstitut gibt und Gaspery-Jacques Roberts als Recherchemitarbeiter rekrutiert wird und beginnt durch die Zeit zu reisen. Wie man vermuten kann, hängen alle Erzählstränge miteinander zusammen.

Allein die Grundgeschichte hat St. John Mandel solide konstruiert. In Zeitreisegeschichten geübte Lesende werden relativ schnell hinter die Zusammenhänge steigen und sich trotzdem an den kleinen Geschichten, die in den einzelnen Erzählsträngen entstehen, erfreuen können, und am Ende vielleicht doch von dem letzten Dreh der Geschichte doch noch überrascht werden. Viel interessanter finde ich aber die anderen Aspekte, die die Autorin auf der Metaebene in den Roman eingebaut hat. Denn funktioniert vor allem der Strang um die Schriftstellerin Olive größtenteils durch die Einbindung zum einen eigener, persönlicher Erfahrungen der Ehefrau und Mutter Emily St. John Mandel während der Corona-Pandemie, denn auch in 2203 steht eine neue Pandemie, mit einem neuen Virus an. Aber die Autorin steigt noch eine Metaebene höher, denn ist Olives vorletzter Roman gerade einer über eine Pandemie. So wird sie nun bei ihrer Lesereise, die zum vorletzten Roman stattfindet, da dieser verfilmt werden soll, hauptsächlich zum Thema Pandemie befragt. Dann bricht tatsächlich diese neue Pandemie aus. Und genau das ist, was St. John Mandel mit ihrem 2014 im englischen Original und 2015 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Das Licht der letzten Tage“ passiert ist. Dieser wurde auch für eine Verfilmung gekauft, die geht damit auf Lesereise und dann kam Corona. Der fiktive Roman „Marienbad“ von Olive enthält wiederum Passagen, die Stellen aus „Das Licht der letzten Tage“ stark ähneln. So findet man sich als damalige Leserin von „Das Licht…“ während des Lesens von „Das Meer der endlosen Ruhe“ immer wieder erinnert an diesen real existierenden Roman von St. John Mandel. Aber damit nicht genug, denn auch das Personal aus dem Roman „Das Glashotel“ von St. John Mandel taucht als Personal in „Das Meer…“ wieder auf. Nun aber eben nicht als innerhalb des vorliegenden Romans fiktive Schöpfung von Olive, sondern als real existierende Figuren in der Handlung von „Das Meer…“.

Diese Konstruktion über mehrere Ebenen hinweg finde ich so großartig gelungen, dass für mich dieser trotzdem nie kompliziert geschriebene, sondern immer süffig zu lesende Roman komplett für sich einnehmen konnte und ein Highlight geworden ist. Es empfiehlt sich daher sehr stark, sollte man die anderen beiden Bücher von St. John Mandel sowieso vorhaben zu lesen, diese vor „Das Meer…“ zu lesen. Somit bekommt man nicht nur eine flotte, gut funktionierende Zeitreise-Pandemie-Geschichte, sondern auch noch das Extrapaket der raffiniert eingebundenen Querverweise mit dazu. Der Roman funktioniert definitiv auch ohne, aber mit dem Vorwissen wurde er eindeutig zu einem Highlight.

Viel Spaß also beim Entdecken dieses vielschichtigen Romans und gegebenenfalls beim „Nachlesen“ der vorherigen Bücher der Autorin. ;)

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Authentisch, zeitlos, meisterhaft!

Eine Laune Gottes
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Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren ...

Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren und 1987 gestorben, veröffentlichte sie den vorliegenden Roman schon in 1966.

Nun kann man sich fragen, ob ein Roman, der sich mit dem Kleinstadtleben einer 34jährigen Grundschullehrerin, „alten Jungfer“ und auch noch scheinbar von ihrer Mutter abhängigen Frau beschäftigt und aus dem Jahre 1966 stammt, noch zeitgemäß sein kann. Ob eine Lektüre hier wirklich lohnt oder doch unseren modernen Ansprüchen an Literatur gar nicht mehr genügen kann. Aber mit dieser Annahme kann man hier falscher nicht liegen! Laurence beschreibt das Leben von Rachel Cameron in ihren kleinen Gefängnissen des Alltags mithilfe eines inneren Monologs, den uns Rachel gedanklich vorträgt, vollkommen zeitlos in seiner Art und Umsetzung. Rachels Gedanken zu ihrer Arbeit, den Kolleg:innen, dem Verhältnis zur eigenen Mutter sowie zu einem Bekannten aus ihrer Kindheit, der in die Stadt Manawaka für einen Sommer zurückkehrt und mit welchem sie eine Affäre – ihre ersten sexuellen Erfahrungen überhaupt! - anfängt, repliziert Laurence so unglaublich gekonnt, nah am Menschen und stilistisch modern, dass man glauben könnte, es liege ein zeitgenössisches Werk vor.

Mithilfe dieses inneren Monologs werden wir Leser:innen Teil des Gedankenkonstrukts Rachels, ihre Sorgen und Nöte werden unsere Sorgen und Nöte. Selten habe ich mich beim Lesen so tief im Kopf einer Romanfigur angekommen gefühlt. So entsteht ein hoher, wenn nicht gar der höchste, Grad an Authentizität und glaubhafter Atmosphäre, den ein Roman überhaupt erreichen kann. Jede Handlung und Entscheidung Rachels wird dadurch Schritt für Schritt nachvollziehbar, wodurch wir unweigerlich mit dieser vielschichtigen Person bis zum unerwarteten Finale mitfiebern. Wir begleiten Rachel auf ihrem Weg von einer – bezogen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen – kindlichen Person, zu einer Frau, die erstmals wie eine Jugendliche sexuelle Erfahrungen macht und ihre Fühler Richtung persönlicher Freiräume ausstreckt, hin zu einer scheinbar erwachsenen Rachel. Sprachlich hat man das Gefühl, jeder Satz in diesem Roman ist punktgenau gesetzt und gibt Hinweise auf das weitere Schicksal Rachels. Die Autorin verwendet Sprachbilder, die über den Lektürezeitraum hinaus hängen bleiben, sich festsetzen und später in den eigenen Gedanken Wurzeln schlagen. Ein Werk, was auf diese Art einen tiefen Eindruck bei den Leser:innen hinterlässt und eigene Denk- sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen hilft.

Margaret Laurence bespricht in diesem Roman nicht nur den Drang zur Selbstbestimmtheit und Loslösung von der Familie einer Frau in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sondern streift auch das Thema Homosexualität, Umgang mit dem eigenen Körper und das Liebesleben einer Unverheirateten.

Sprachlich wie auch inhaltlich setzt dieser Roman eindeutig hohe Maßstäbe und ist ein – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher übersehenes Meisterwerk. Leser:innen sollten ob des frühen Entstehungszeitraumes keinesfalls zurückschrecken sondern fraglos sofort zu diesem Buch greifen und es lesen! Diese Frau schreibt nie eingestaubt, auch wenn das Setting verständlicherweise nicht ganz dem heutigen entsprechen kann. Die behandelten Themen bleiben hochaktuell und so lohnt sich wirklich für alle Interessierten diese umwerfende Lektüre. Ich bin hundertprozentig überzeugt von der Autorin und stehe ebenso vollständig hinter der Entscheidung des Eisele Verlags diese Autorin erneut aufzulegen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem lesenswerten und unerwartet persönlichen Nachwort Margaret Atwoods aus dem Jahre 1988.

Das ist ein absolutes Lesehighlight! In einem Wort: Wow!

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Du musst stark sein, wenn du dieses Buch liest

Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist
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Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die ...

Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die Überlastungen einer jungen Ärztin im Praktischen Jahr an einem unterbesetzten Krankenhaus in Johannesburg, sondern außerdem über den Rassismus von Schwarzen Südafrikaner:innen gegenüber Einwanderer:innen anderer afrikanischer Staaten, und vor allem auch über sexualisierte Gewalt und deren Folgen. Das ist der Part, für den man besonders stark sein muss bei der Lektüre dieses großartigen Romans.

Die Ich-Erzählerin – und wie man zügig erfährt, Tagebuchschreiberin – des Romans ist Masechaba, eine junge Ärztin, die (mit erschreckenden Parallelen zu ärztlicher Kolleg:innen in vielen anderen Ländern der Welt) massiv überarbeitet und mitunter auch stark überfordert aufgrund der ihr aufgebürdeten Verantwortung ist. In der ersten Hälfte des Romans begleiten wir sie in ihrem Alltag, der nicht nur von Überarbeitung sondern auch der Ausländerfeindlichkeit von Schwarzen Menschen untereinander durchsetzt ist. Masechaba rutscht zunehmend ob der Widrigkeiten des Alltags in eine schwere Depression, was den Tagebucheinträgen immer stärker anzumerken ist. Doch zum völligen Zusammenbruch kommt es erst, als sie, nachdem sie sich für ihre ausländischen Kolleg:innen eingesetzt hat, von drei fremdenfeindlichen Männern in einer Vergeltungstat vergewaltigt wird. Dies ereignet sich bei der Hälfte des nur 200 Seiten dünnen Buches und ab diesem Zeitpunkt verändert sich alles im Leben unserer Protagonistin, sowohl bezogen auf ihre Psyche aber auch ihre Familie und Freunde. Ob und wofür es sich trotzdem noch lohnt, weiterzuleben, erarbeitet man nun gemeinsam mit Masechaba mithilfe des eindringlichen Erzählstils der Autorin.

Die Sprache der Autorin ist niemals ausufernd, sondern immer punktgenau und authentisch formuliert. Und auch wenn sie gerade die Gewaltszenen nicht ausführlich schildert (zum Glück), reichen ganz kurze Nebensätze, um die mitfühlende Leserin tief verstören zu können. Hier sollte jede:r für sich entscheiden, ob man stark genug ist, der Autorin in diese Dunkelheit zu folgen. Jedoch gibt es auch Licht in diesem Roman und das macht ihn so besonders. Das sehen wir schon am Titel „Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.“ Im Original heißt der Roman übrigens „Period Pain“. Meines Erachtens sehr passend, da es sehr stark um das Selbst- und Fremdverständnis von Frauen geht. Die Autorin verbindet dies mit der Fremdenfeindlichkeit. Als Masechaba mit ihrer ärztlichen Kollegin und Freundin aus Simbabwe über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit spricht, vergleicht diese Freundin die (zu diesem Zeitpunkt noch „nur Alltagsfremdenfeindlichkeit“) mit „Wachstumsschmerzen“, die gerade Südafrika durchmache, Masechaba nennt es „Regelschmerzen“. Etwas, was nicht nur einmal im Leben auftritt und dann ist man darüber hinweg, nein, etwas, was immer wieder auftritt und auch zukünftig ziemlich sicher auftreten wird. So war es mir bis zu dieser erhellenden Lektüre nicht bewusst, dass in Südafrika Schwarze Ausländer so massiv diskriminiert werden und starken Gewaltausbrüchen zum Opfer fallen. Fremdenfeindliche Gewalt breite sich aus, „wie ein Buschfeuer“, Menschen werden mitunter bei lebendigem Leib angezündet und verbrannt. Viele Menschen, so auch die Mutter Masechabas sind der Meinung: „Sie kommen in unser Land, um uns alles wegzunehmen, wofür wir gekämpft haben“. Letztendlich wird jedoch wieder alles zurückgeworfen auf den Unterschied fernab der Hautfarbe, der Menschen zu oft zu Tätern und Opfern werden lässt: Der Unterschied zwischen den Geschlechtern. So legt Matlwa ihrer Protagonistin die eindringlichen Worte in den Mund:
„Ich bin nur ein Fall für die südafrikanische Vergewaltigungsstatistik. An meiner Geschichte ist nichts Besonderes, sie passiert überall, tagtäglich. Es spielt keine Rolle, dass ich hochgebildet bin, dass ich Ärztin bin, dass ich eine Petition aufgesetzt habe, die es bis in die Zeitung geschafft hat. Ich habe ein Scheide. Nur das zählt.“

Mich konnte dieser Roman aufgrund seiner knappen aber ausdrucksstarken Sprache, der gesellschaftlichen Sprengkraft und der psychologischer Nachvollziehbarkeit tief bewegen. Diese Autorin schreibt erbarmungslos ehrlich und legt den Finger in gleich mehrere Wunden, nicht nur Südafrikas sondern auch vieler anderer Länder dieser Erde. Dafür hat sie meine Hochachtung verdient und ich hoffe, es werden zukünftig noch weitere ihrer Romane ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Nach der Lektüre war ich teilweise verstört, zerstört, aber eben auch ein kleines bisschen mit Hoffnung erfüllt. Eine dringende Leseempfehlung für dieses erstaunliche Werk!

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