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Veröffentlicht am 29.01.2024

In Form und Inhalt konsequent erzählte Lebensgeschichte

Ein Tropfen Geduld
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Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach ...

Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach New York zum großen Erfolg und später mit zum Karrierefall. Ludlow ist ein Genie des Jazz, welchen er wie ein Handwerk betreibt, und er ist blind, und er ist schwarz.

All diese Faktoren verwebt William Melvin Kelley in seinem zweiten auf Deutsch - und viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung - erschienenem Roman "Ein Tropfen Geduld". Der Plot wird durchweg flott erzählt. Die Zeit- und Ortswechsel der sechs Romanteile werden durch den gekonnten Einsatz von fiktiven Interviewausschnitten mit dem scheinbar älteren und erfolgreichen Jazzmusiker Ludlow eingeleitet. So springt man viel schneller als erwartet weg vom Heim für Blinde, in welchem - nach nur wenigen Zeilen klar - scheußliche Dinge geschehen. Und landet elf Jahre später mit dem jugendlichen Ludlow bei seinem neuen "Besitzer" (aka Vormund, der ihn jedoch dem Heim aufgrund dessen Talent "abgekauft" wurde) und dessen Band. So zügig geht es durch das gesamte Buch. Was zunächst gewöhnungsbedürftig ist und das Gefühl hinterlässt, man hätte auch ein mindestens doppelt so dickes Buch lesen können und wollen, wirkt im Gesamtkonzept des Buches schlüssig. Ebenso schlüssig erklärt Gerald Early in seinem Nachwort aus dem Jahre 1996, dass Kelley in die Lebensgeschichte Ludlows nicht nur die Geschichte der Afroamerikaner*innen im frühen 20. Jahrhundert sondern auch die musikgeschichtlichen/-theoretischen Phasen des Jazz einwebt. Das ist im Rückblick ganz gekonnt gemacht und schafft somit ein großartiges Buch über ein Einzelschicksal, ein Massenschicksal und ein Musikphänomen.

Besondere Klasse macht für mich aber der konsequente Stil, in dem der Roman geschrieben ist, aus. So schildert Kelley von der ersten bis zur letzten Zeile mithilfe des personalen Erzählers Ludlows Leben allein durch akustische, olfaktorische, gustatorische und haptische Beschreibungen. Nicht ein einziges Mal tauchen visuelle Reize im Buch auf. So legt, laut Gerald Early, der Roman nahe, dass race eine Illusion ist, die jene blind macht, die eigentlich sehen können. Aber selbst ohne diese tiefere Deutung, ist es einfach ein ungewöhnliches und dadurch großartiges Leseerlebnis über 260 Seiten hinweg, Wahrnehmungen zu schärfen, die leider für Sehende häufig völlig außen vor bleiben. Diese Eindrücke, in ihrer Komplexität genauso wie in ihrer Einfachheit der Erkenntnis, hallen noch lang nach und lassen hoffen, dass sich der Verlag bald dazu entschließt, weitere Werke von Kelley auf Deutsch zu veröffentlichen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Klare Leseempfehlung für ALLE Literaturliebhaber*innen

FRAUEN LITERATUR
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Zugegeben: Nicole Seifert hatte mich schon auf der ersten Seite dieses Buches für sich und ihr Anliegen eingenommen. Und mit der ersten Seite meine ich den Abschnitt zum Sprachgebrauch im vorliegenden ...

Zugegeben: Nicole Seifert hatte mich schon auf der ersten Seite dieses Buches für sich und ihr Anliegen eingenommen. Und mit der ersten Seite meine ich den Abschnitt zum Sprachgebrauch im vorliegenden Buch, welcher dem eigentlichen Text vorangestellt ist. Denn schon hier fängt das an, was im weiteren Verlauf des Buches Programm ist: Seifert macht klar, wann und warum sie "Autorinnen" oder "Schwarze..." oder "weiße..." [kursiv] als Formulierung nutzt. Denn hauptsächlich sexistische aber auch rassistische Strukturen unserer Literaturgeschichte sowie die weiterhin ausgeprägte Misogynie werden hier ausführlich besprochen.

Trotz widriger Umstände gab es schon immer Frauen, die anspruchsvolle Literatur geschaffen haben. Ihre Fähigkeit zum literarischen Schreiben wurde und wird ihnen nicht nur aberkannt, sondern durch festgefahrene männliche Strukturen im Literaturbetrieb aktiv verdrängt und aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. So klar und hart muss man das sagen. Und nach der Lektüre dieses hervorragenden Sachbuchs ist es selbst den nicht mit einem literaturwissenschaftlichen Studium gesegneten Leser
innen deutlich wie nie zuvor. Etwas, was vor der Lektüre nur als vage Ahnung bestand, wird für uns leicht nachvollziehbar aufbereitet und verändert den Blick auf den Literaturbetrieb grundlegend.

Seifert leitet anhand konkreter historischer Beispiele die strukturelle Herabwürdigung literarischer Werke von Autorinnen eindringlich her. So vergleicht sie zum Beispiel Theodor Fontanes "Effi Briest" (1896), welches in den deutschen Literaturkanon aufgenommen wurde und bis heute in der Schule gelesen wird, mit den fast vergessenen Roman "Aus guter Familie" (1895) von Gabriele Reuter. Beide behandeln ähnliche Themen, sind fast zeitgleich erschienen, waren zur damaligen Zeit erfolgreich. Aber der Roman der Autorin wurde verdrängt (aktiv! nicht nur passiv "vergessen"). Dort, aber auch über die gesamte Literaturgeschichte hinweg zeigt sich, dass - beginnend bei der Annahme von Manuskripten durch Verlage, über die Vermarktung, hin zur Rezension von Kritikern und Präsentation im Buchhandel - eine frappierende Ungleichbehandlung zwischen dem Werk von Autorinnen und und dem von Autoren besteht. So gleicht die Lektüre von "FRAUEN LITERATUR" fast einem Erweckungserlebnis. Natürlich ist in den letzten Jahren etwas Bewegung in den Literaturbetrieb gekommen, keine Frage. Aber dies ist noch lange nicht genug. Denn wenn man den Satz "Männer haben immer noch Mühe, Frauen ausreden zu lassen, sie anzuhören und als die Expertinnen, die sie sind, ernst zu nehmen...", liest, unterstreicht er das vor kurzem Gesehene bei der beliebten Sendung "SWR Lesenswert Quartett" am 16.12.2021. Hier argumentierte - wie immer fundiert - Literaturkritikerin Insa Wilke in einer Runde von ansonsten ausschließlich Männern... und blieb verhältnismäßig ruhig, obwohl ihr überproportional häufig ins Wort gefallen oder schulmeisterhaft die Welt erklärt wurde.

Unser Augenmerk sollte zukünftig als Leser*innen nicht nur darauf liegen, WAS wir lesen, sondern auch VON WEM wir lesen. Wir sollten durch Kaufentscheidungen den Verlagen das Signal senden, dass wir uns eine Kultur und Gesellschaft ohne misogyne Strukturen wünschen. Denn wie die Autorin unterstreicht: "[…] durch Abwarten kam man Ungleichbehandlung in der Vergangenheit noch nie bei [...]".

Dieser aufrüttelnde Text über die strukturell nachweisbare, geschlechterbezogene Voreingenommenheit im Literaturbetrieb stellt meines Erachtens ein wichtiges Werk zum gesamten Themenkomplex dar und wird von mir uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen. Männern wie auch Frauen und allen nicht-binären Personen, ob Schwarz oder weiß [kursiv]. Unbedingt lesen und eigenes (Lese-)Verhalten ändern! Zum Beispiel anhand der in diesem Buch zuhauf befindlichen Lektüreanregungen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Opium fürs Literaturvolk

Hundepark
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Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman ...

Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman und ihren Recherchen im Rahmen dessen Glauben schenken kann, vielfältig genutzt, um weit verbreiteten, finanziellen Sorgen zu begegnen, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen und vielleicht den sozialen Aufstieg zu schaffen.

Geschickt verwebt Oksanen in ihrem Roman die Geschichte der Ich-Erzählerin Olenka, welche als im Westen gescheitertes Model in ihre Heimat Ukraine zurückkehrt, um dort zunächst selbst als Eizellspenderin und später aufgestiegen in der Hackordnung als Koordinatorin ebendieser zu agieren, mit den postsowjetischen Zuständen und politischen Ereignissen ab 2009 in der Ukraine. Das geschäftstüchtige Unternehmen "Eizellspende" wird kaltblütig mit bedürftigen Mädchen gefüttert, die nicht nur eine Hormontherapie über sich ergehen lassen müssen, sondern auch ihre Gesundheit durch dieses Verfahren riskieren. "So gern die Elite ins Ausland fuhr, um dort etwas für ihre Gesundheit zu tun, war unsere Gesetzgebung doch einzigartig, wenn es um die Unterstützung bei der assistierten Anschaffung von Kindern ging: Nur die künftigen Eltern genossen juristischen Schutz, während Spenderinnen und Leihmütter keinerlei Rechte besaßen." Die ukrainische Landbevölkerung hingegen hält sich mit illegalen Gruben und dem Schlafmohn- und damit Rohopiumanbau im Garten über Wasser. Beides zwielichtig, beides kreuzgefährlich.

Olenka schildert zunehmend um Verständnis bittend mit Rückschauen auf vergangene Jahre und Erlebnisse einem ominösen "Du" ihr Leben, was sie als einfache Putzfrau bis nach Helsinki geführt hat. Nur portionsweise, so wie es Olenka dem angesprochenen "Du" preisgeben möchte, erfahren wir mehr über die weitreichenden Zusammenhänge ihrer Handlungen und Taten. Wir müssen darauf hoffen, dass sie uns die Wahrheit - oder zumindest ihre Wahrheit - darlegt, denn Olenka ist eine Meisterin des Manipulierens gewesen. Doch in diesem Roman ist keine der Figuren einfach nur "böse" oder "gut", nur "Täter" oder "Opfer". Besonders Olenka bekommt so viele Facetten zugeschrieben, dass ihre Erzählung, ihr Geständnis umso lebhafter und authentischer wirkt. Zugegeben, der verknoteten Handlung muss man sehr aufmerksam folgen, um sie annähernd verstehen zu können. Verwirrend wird mitunter erzählt. Aber all dies ist grandios von Sofi Oksanen konzipiert. Der Roman fesselt bis zum Schluss und liest sich durch seine mitunter harte, dem Charakter und Denken der Protagonistin angepassten Sprache wie ein düsteres Spiegelbild einer zunehmend moralisch zerrütteten Gesellschaft.

So lässt sich dieses vom brillant durchdachten Cover bis zum letzten Satz durchweg stimmig konstruierte Buch uneingeschränkt für eine nicht nur spannende, sondern auch unglaublich wissenswerte - wie auch, aufgrund der Hintergrundinformationen zur modernen Ukraine, hochaktuelle - Lektüre dringend empfehlen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Wir sind die Bewunderung.

Wir sind das Licht
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Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er ...

Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er beginnt nämlich mit dem Satz "Wir sind die Nacht." und lässt gleich im ersten Kapitel die Nacht davon erzählen, was sich in dieser merkwürdigen Wohngemeinschaft zugetragen hat, dass hier jemand gestorben ist und danach alles ganz schnell ging, bis zum nächsten Tag. Als Überraschung erscheinen wir meist nur einmal kurz, denn wir sind per definitionem eigentlich ein kurzfristiges, einmaliges Gefühl. Aber während unsere Leserin dieses Buch las, traten wir gleich mehrfach auf. Mindestens 24 Mal, denn so viele Kapitel hat das Buch und - "Überraschung!" - jedes Kapitel wird von unterschiedlichen Entitäten (konkrete oder abstrakte Gegenstände, wer es nicht weiß und von diesem Wort "überrascht" ist) erzählt.

Wir sind der Plot. Unsere Leserin hat einen Roman über ein anorektisches Mädchen vielleicht Anfang 20 erwartet, die in ihrer WG an Unterernährung verstirbt. Dann wird geforscht, wie es dazu kommen konnte, usw. usf. Aber nein, wir sind kein aufgrund des Klappentextes vorhersehbarer Plot. Denn es geht um eine ältere Frau, mit grauen Haar, emotional sensibel, wortkarg, die einfach verhungert und es sitzen drei erwachsene Menschen währenddessen um sie herum, schauen zu und tun: nichts. Danach erfahren unsere Leser, wenn sie sich nicht durch die Überraschung über die Erzählperspektiven zu stark ablenken lassen, wie es zu der eingestellten Nahrungsaufnahme kam, wer die alternative Wohngruppe anleitet und vielleicht auch diese eine Person, Elisabeth ist ihr Name, in den Tod geführt hat.

Wir sind das Gehirn. Wir haben gern etwas zu tun. Und bei der Lektüre dieses Romans hatten wir ganz schön viel zu tun. Gar nichts so sehr auf der inhaltlichen Ebene (verratet es nicht "dem Plot") sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer wieder auf neue Erzählperspektiven einstellen mussten. Da tun nämlich nicht nur "die Nachbarn" ihre Meinung kund, sondern auch "das Brot", "der Orangenduft" oder (ganz grandios) "die Demenz".

Wir sind das Bücherregal. Häufig bekommen wir die Last von unglaublich dicken, schweren Büchern aufgebürdet. Dann wieder von viel zu dünnen, leichten Heftchen, die wir fast gar nicht auf unserem Rücken spüren. Mit dem vorliegenden - oder für uns eher "aufliegenden" - Werk haben wir aber genau das richtige Gewicht zum Aufbewahren bekommen. Es hat, wie es die Menschen sagen würden, genau die richtige Länge. Es endet an der perfekten Stelle, ist anspruchsvoll zwischendurch, aber nicht zu "schwer" trotz des Themas einer verhungerten Person im Inneren. Mit solchen Büchern sind wir immer sehr zufrieden, die bewahren wir noch sehr gern lange auf unseren Holzbrettern auf und vielleicht nimmt unsere Leserin ja genau dieses Buch in ein paar Jahren noch einmal aus uns heraus, um es noch einmal zu lesen. Denn wir haben gehört, auch das würde sich bestimmt lohnen. Wir wissen aber schon jetzt: Nie wieder werden wir dieses tolle Exemplar seiner Art wieder gänzlich abgegeben.

Wir sind die Leselampe. Wir sind eigentlich immer sehr pflichtbewusst. Bescheinen mit angenehmen Leselicht die Bücher, die unsere Besitzerin gerade lesen möchte. Normalweise bekommen wir dadurch nie den Schutzumschlag eines Buches zu sehen, weil dieser zuvor sicherheitshalber zur Seite gelegt wird. Den Sinn dahinter verstehen wir nicht, denn er soll ja das Buch "schützen". Aber gut, wir sind ja "nur" eine Leselampe. Bei "Wir sind das Licht" hat uns aber ganz besonders das Cover interessiert. Also haben wir, ganz schnell, wenn unsere Leserin mal gezwinkert hat, unser Licht auf den Umschlag geworfen. Das Umschlagbild erschien uns dabei sofort ganz passend. Das können wir beurteilen, denn wir lesen immer heimlich den Inhalt mit, während wir Licht spenden. Das Cover ist unheimlich und anlockend zugleich. Es ist stilsicher und gefällt auf den ersten Blick.

Wir sind die Bewunderung. Uns verspürt unsere Leserin nicht bei jedem Buch, nein, wir entstehen nur, wenn ihr etwas ganz Besonderes vorgelegt wird. Und der Roman "Wir sind das Licht" ist so etwas Besonders. Er ist innovativ und mutig für eine Debütantin im Feld der literarischen Veröffentlichungen. Hier hat sich jemand etwas gewagt - und gewonnen. So klingen wir noch lange in unserer Leserin nach, die gar nicht aufhören kann von diesem Roman zu schwärmen. Wir als Bewunderung versuchen so häufig wie möglich gefühlt zu werden, deshalb würde unsere Leserin diesen Roman von Gerda Blees auch so ziemlich allen Leser*innen weiterempfehlen. Also sagen wir: Lest dieses umwerfende Debüt!

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Ein Standardwerk

Heimkehren
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Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer ...

Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leserinnen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

"Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

"Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser
innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!

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