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Veröffentlicht am 29.01.2024

Wir sind die Bewunderung.

Wir sind das Licht
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Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er ...

Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er beginnt nämlich mit dem Satz "Wir sind die Nacht." und lässt gleich im ersten Kapitel die Nacht davon erzählen, was sich in dieser merkwürdigen Wohngemeinschaft zugetragen hat, dass hier jemand gestorben ist und danach alles ganz schnell ging, bis zum nächsten Tag. Als Überraschung erscheinen wir meist nur einmal kurz, denn wir sind per definitionem eigentlich ein kurzfristiges, einmaliges Gefühl. Aber während unsere Leserin dieses Buch las, traten wir gleich mehrfach auf. Mindestens 24 Mal, denn so viele Kapitel hat das Buch und - "Überraschung!" - jedes Kapitel wird von unterschiedlichen Entitäten (konkrete oder abstrakte Gegenstände, wer es nicht weiß und von diesem Wort "überrascht" ist) erzählt.

Wir sind der Plot. Unsere Leserin hat einen Roman über ein anorektisches Mädchen vielleicht Anfang 20 erwartet, die in ihrer WG an Unterernährung verstirbt. Dann wird geforscht, wie es dazu kommen konnte, usw. usf. Aber nein, wir sind kein aufgrund des Klappentextes vorhersehbarer Plot. Denn es geht um eine ältere Frau, mit grauen Haar, emotional sensibel, wortkarg, die einfach verhungert und es sitzen drei erwachsene Menschen währenddessen um sie herum, schauen zu und tun: nichts. Danach erfahren unsere Leser, wenn sie sich nicht durch die Überraschung über die Erzählperspektiven zu stark ablenken lassen, wie es zu der eingestellten Nahrungsaufnahme kam, wer die alternative Wohngruppe anleitet und vielleicht auch diese eine Person, Elisabeth ist ihr Name, in den Tod geführt hat.

Wir sind das Gehirn. Wir haben gern etwas zu tun. Und bei der Lektüre dieses Romans hatten wir ganz schön viel zu tun. Gar nichts so sehr auf der inhaltlichen Ebene (verratet es nicht "dem Plot") sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer wieder auf neue Erzählperspektiven einstellen mussten. Da tun nämlich nicht nur "die Nachbarn" ihre Meinung kund, sondern auch "das Brot", "der Orangenduft" oder (ganz grandios) "die Demenz".

Wir sind das Bücherregal. Häufig bekommen wir die Last von unglaublich dicken, schweren Büchern aufgebürdet. Dann wieder von viel zu dünnen, leichten Heftchen, die wir fast gar nicht auf unserem Rücken spüren. Mit dem vorliegenden - oder für uns eher "aufliegenden" - Werk haben wir aber genau das richtige Gewicht zum Aufbewahren bekommen. Es hat, wie es die Menschen sagen würden, genau die richtige Länge. Es endet an der perfekten Stelle, ist anspruchsvoll zwischendurch, aber nicht zu "schwer" trotz des Themas einer verhungerten Person im Inneren. Mit solchen Büchern sind wir immer sehr zufrieden, die bewahren wir noch sehr gern lange auf unseren Holzbrettern auf und vielleicht nimmt unsere Leserin ja genau dieses Buch in ein paar Jahren noch einmal aus uns heraus, um es noch einmal zu lesen. Denn wir haben gehört, auch das würde sich bestimmt lohnen. Wir wissen aber schon jetzt: Nie wieder werden wir dieses tolle Exemplar seiner Art wieder gänzlich abgegeben.

Wir sind die Leselampe. Wir sind eigentlich immer sehr pflichtbewusst. Bescheinen mit angenehmen Leselicht die Bücher, die unsere Besitzerin gerade lesen möchte. Normalweise bekommen wir dadurch nie den Schutzumschlag eines Buches zu sehen, weil dieser zuvor sicherheitshalber zur Seite gelegt wird. Den Sinn dahinter verstehen wir nicht, denn er soll ja das Buch "schützen". Aber gut, wir sind ja "nur" eine Leselampe. Bei "Wir sind das Licht" hat uns aber ganz besonders das Cover interessiert. Also haben wir, ganz schnell, wenn unsere Leserin mal gezwinkert hat, unser Licht auf den Umschlag geworfen. Das Umschlagbild erschien uns dabei sofort ganz passend. Das können wir beurteilen, denn wir lesen immer heimlich den Inhalt mit, während wir Licht spenden. Das Cover ist unheimlich und anlockend zugleich. Es ist stilsicher und gefällt auf den ersten Blick.

Wir sind die Bewunderung. Uns verspürt unsere Leserin nicht bei jedem Buch, nein, wir entstehen nur, wenn ihr etwas ganz Besonderes vorgelegt wird. Und der Roman "Wir sind das Licht" ist so etwas Besonders. Er ist innovativ und mutig für eine Debütantin im Feld der literarischen Veröffentlichungen. Hier hat sich jemand etwas gewagt - und gewonnen. So klingen wir noch lange in unserer Leserin nach, die gar nicht aufhören kann von diesem Roman zu schwärmen. Wir als Bewunderung versuchen so häufig wie möglich gefühlt zu werden, deshalb würde unsere Leserin diesen Roman von Gerda Blees auch so ziemlich allen Leser*innen weiterempfehlen. Also sagen wir: Lest dieses umwerfende Debüt!

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Ein Standardwerk

Heimkehren
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Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer ...

Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leserinnen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

"Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

"Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser
innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Tiefgründige Science-Fiction aus Nigeria

Rosewater
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Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde ...

Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde Welt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2066 ausdenkt, in der die Außerirdischen bereits lange auf der Erde angekommen sind. Und sie sind vielleicht laut Plothistorie 2012 erstmals in London angekommen, aber tatsächliche Auswirkungen zeigen sie - ganz ungewohnt - eben nicht in Europa oder Amerika, sondern auf dem afrikanischen Kontinent, speziell auf dem Gebiet Nigerias. Somit krempelt dieser Roman schon einmal vollkommen die Lesegewohnheiten von uns mitteleuropäischen Sci-Fi-Leser:innen gehörig um.

Im Zentrum des Geschehens steht Kaaro, ein Mitte 40-Jähriger sogenannter "Empfänger". Er hat seit seiner Kindheit "übernatürliche" Fähigkeiten (welche später noch sehr gut wissenschaftlich fundiert erklärt werden), durch welche er - einfach gesagt - die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Das ist jetzt stark verkürzt dargestellt, denn eigentlich ist er fähig, sich in die sogenannte Xenosphäre einzuklinken. Diese besteht aus zahlreichen miteinander vernetzten pilzartigen Organismen, die durch die Luft schweben und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Prinzipiell handelt es sich um ein ausgeweitetes Informationsnetzwerk, auf welches nur wenige Menschen (ich lasse hier mal offen weshalb) zugreifen können. Kaaro lebt in Rosewater, einer Stadt, die sich nach dem Auftauchen einer außerirdischen Entität, einer riesigen Kuppel mit einem Durchmesser von 50 km, um diese Kuppel herum gebildet hat. Denn - wieder entgegen der altbekannten Seh- und Lesegewohnheiten - zeigt sich die Entität nicht angriffslustig, sondern gütig in Form von Heilungen kranker Menschen, die einmal pro Jahr in ihrer Nähe stattfinden. Um Kaaro entwickelt sich ein fast schon Agenten-Plot, da er aufgrund seiner Fähigkeiten von einer Regierungsbehörde angeworben wurde.

All dies erfahren wir durch verschiedene Erzählstränge, die jedoch stets beim Ich-Erzähler Kaaro bleiben. Allein die Zeitebene wechselt ständig. Die so betitelte "Jetzt"-Zeit spielt 2066, dann gibt es noch Rückblicke in die "Früher"-Zeit beginnend mit 2031 bis ca. 2059, welche viel Wissen um Kaaros Fähigkeiten und die Geschehnisse bis aktuell vermitteln, sowie "Zwischenspiele" oder "Missionen", die besondere Ereignisse/Missionen in den letzten 10 Jahren von Kaaros Leben bis jetzt darlegen, mit dem Fokus auf seine "Agenten"-Tätigkeit. Das ist tatsächlich der verwirrendste Part dieses Romans. Meines Erachtens hätte es die gesondert betitelten "Zwischenspiele" nicht gebraucht bzw. wirkten diese ab und an überfordernd, wenn man sie gedanklich versucht, in das Gesamtbild chronologisch korrekt einzuordnen. Aber das ist eine minimale Kritik im Rahmen meiner allgemeinen Begeisterung für diesen Roman.

Denn dem Buch merkt man im allerbesten Sinne die Berufung des Autors als Psychiater an. So entwirft er die Charaktere des Romans nicht nur glaubwürdig sondern stellt psychologische Zusammenhänge, die sich aus der Fähigkeit des "Gedankenlesens" ergeben, schlüssig und fachlich fundiert dar. Auch das mykologische Konstrukt um die außerirdische Entität herum ist plausibel erschaffen. Der technische Fortschritt ist authentisch an das Jahr 2066 angepasst und wird gut erklärt. Was mich aber besonders am Roman begeistert hat: Thompson spart nicht an Gesellschaftskritik. So wird immer wieder das Thema der als "illegal" eingeordneten Homosexualität in Nigeria, welche in unserer Zeit 2022 vorherrscht, aber im Roman auch noch in 2066 dort besteht. Die Verfolgung dieser Menschengruppe bis zum Tod durch den Mob. Weiterhin findet die Vergangenheit Nigerias, als ein durch die Kolonialisierung traumatisiertes Land, Eingang in die Erzählung. Eine despotische, korrupte Herrscherrieger darf natürlich auch in 2066 nicht fehlen. So legt Thompson mit seinem als Science-Fiction "getarnten" Roman den Finger in gleich mehrere gesellschaftliche und politische Wunden seines Heimatlandes.

Insgesamt bin ich also äußerst begeistert von diesem ungewohnten Lektüreerlebnis. Science-Fiction mit Tiefgang auf mehreren Ebenen. Wirklich empfehlenswert für alle, die sich grundsätzlich auf die oben beschriebenen Grundannahmen einlassen können.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Abenteuer Sprache

Stürzen Liegen Stehen
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Als ich „Stürzen Liegen Stehen“ von Jon McGregor aufschlug, erwartete ich einen anspruchsvollen Abenteuerroman. Bekommen habe ich einen facettenreichen Roman über ein menschliches Unglück an einem unwirtlichen ...

Als ich „Stürzen Liegen Stehen“ von Jon McGregor aufschlug, erwartete ich einen anspruchsvollen Abenteuerroman. Bekommen habe ich einen facettenreichen Roman über ein menschliches Unglück an einem unwirtlichen Ort, die Geschichte eines Menschen, der durch eine Schlaganfall die Sprache und Teile seiner Motorik verliert, einer Ehefrau, die sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hat und nun zur häuslich-pflegenden Angehörigen wird und den Kampf aller Beteiligten zurück in ein nun neues, aber lebenswertes Leben.

Für mich stellt „die Sprache“ das eigentliche Abenteuer des vorliegenden Romans dar. Mit anbetungswürdigem Können nutzt McGregor Sprache, um nicht nur einen Defekt des Gehirns authentisch darzustellen, sondern auch, um Ereignisse von verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, Beziehungen punktgenau mit nur wenigen Worten auszuleuchten und unvorstellbare Belastungen herauszuarbeiten. In jedem der drei Abschnitte des Buches (logisch: Stürzen /, Liegen _, Stehen | ) verwendet der Autor verschiedene personale Erzählperspektiven, um die verschiedenen Persönlichkeiten in ihren Eigenarten sowie unterschiedliche Wahrnehmungen von ein und derselben Situation darzustellen. Das überrascht von Kapitel zu Kapitel und hält stets die Spannung und das Interesse am Plot hoch. Allein im letzten Abschnitt waren es mir ein bisschen zu viele neue Figuren, zu viele personale Erzählperspektivwechsel, was der beeindruckenden Gesamtlektüre jedoch keinen Abbruch tut.

Die Recherchearbeit, die hinter diesem Roman steckt, muss enorm gewesen sein und ich finde, McGregor hat es im besten Sinne hinbekommen, dass man trotzdem als Leser:in nur so in den Roman hinein gezogen wird. Äußerst nah an der Realität bewegt sich der Autor gekonnt zwischen den angesprochenen Themengebieten hindurch. Von Antarktismission mit katastrophalen Folgen, über medizinische Behandlung und Diagnostik, zu häuslicher Pflegesituation, hin zu dem ganz individuellen Kampf zurück in ein anderes, neues Leben. Besonders die häusliche Pflegesituation und daraus unweigerlich entstehende Überforderung war für mich besonders aufwühlend dargestellt. Auch hier sprachlich in ganz eigener Art und Weise.

Meines Erachtens sollte an dieser Stelle die Übersetzung von Anke Caroline Burger gesondert hervorgehoben werden. Wie sie mit der Vorlage des Autors umgegangen ist, könnte man virtuos nennen.

Wer also bei diesem Buch allein einen Abenteuerroman erwartet, wird keineswegs enttäuscht mindestens überrascht, nein, sogar begeistert mitgerissen werden in eine zunächst ungewöhnliche und später sehr menschlich tiefgründige Geschichte. Meine Begeisterung für diesen Roman ist so groß, dass ich eine Lektüre nur dringend empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 19.12.2023

Ein mit sehr viel Raffinesse konstruierter Roman

Das Meer der endlosen Ruhe
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Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie ...

Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie schon das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt durch die Zeit. Von einem britischen, ausgestoßenem Adelsspross, Edwin St. John St. Andrew, 1912 im kanadischem Exil, nach 2020 zu einer merkwürdigen, musikalischen Kunstperformance des Bruders der bereits verstorbenen Vincent (weibl.), zur Autorin Olive Llewellyn, die in 2203 für eine Lesereise ihre Heimat, die Mondkolonie, verlässt und auf der Erde herumreist, bis in die ferne Zukunft 2401 ebenso auf dem Mond, auf dem es ein Zeitreiseinstitut gibt und Gaspery-Jacques Roberts als Recherchemitarbeiter rekrutiert wird und beginnt durch die Zeit zu reisen. Wie man vermuten kann, hängen alle Erzählstränge miteinander zusammen.

Allein die Grundgeschichte hat St. John Mandel solide konstruiert. In Zeitreisegeschichten geübte Lesende werden relativ schnell hinter die Zusammenhänge steigen und sich trotzdem an den kleinen Geschichten, die in den einzelnen Erzählsträngen entstehen, erfreuen können, und am Ende vielleicht doch von dem letzten Dreh der Geschichte doch noch überrascht werden. Viel interessanter finde ich aber die anderen Aspekte, die die Autorin auf der Metaebene in den Roman eingebaut hat. Denn funktioniert vor allem der Strang um die Schriftstellerin Olive größtenteils durch die Einbindung zum einen eigener, persönlicher Erfahrungen der Ehefrau und Mutter Emily St. John Mandel während der Corona-Pandemie, denn auch in 2203 steht eine neue Pandemie, mit einem neuen Virus an. Aber die Autorin steigt noch eine Metaebene höher, denn ist Olives vorletzter Roman gerade einer über eine Pandemie. So wird sie nun bei ihrer Lesereise, die zum vorletzten Roman stattfindet, da dieser verfilmt werden soll, hauptsächlich zum Thema Pandemie befragt. Dann bricht tatsächlich diese neue Pandemie aus. Und genau das ist, was St. John Mandel mit ihrem 2014 im englischen Original und 2015 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Das Licht der letzten Tage“ passiert ist. Dieser wurde auch für eine Verfilmung gekauft, die geht damit auf Lesereise und dann kam Corona. Der fiktive Roman „Marienbad“ von Olive enthält wiederum Passagen, die Stellen aus „Das Licht der letzten Tage“ stark ähneln. So findet man sich als damalige Leserin von „Das Licht…“ während des Lesens von „Das Meer der endlosen Ruhe“ immer wieder erinnert an diesen real existierenden Roman von St. John Mandel. Aber damit nicht genug, denn auch das Personal aus dem Roman „Das Glashotel“ von St. John Mandel taucht als Personal in „Das Meer…“ wieder auf. Nun aber eben nicht als innerhalb des vorliegenden Romans fiktive Schöpfung von Olive, sondern als real existierende Figuren in der Handlung von „Das Meer…“.

Diese Konstruktion über mehrere Ebenen hinweg finde ich so großartig gelungen, dass für mich dieser trotzdem nie kompliziert geschriebene, sondern immer süffig zu lesende Roman komplett für sich einnehmen konnte und ein Highlight geworden ist. Es empfiehlt sich daher sehr stark, sollte man die anderen beiden Bücher von St. John Mandel sowieso vorhaben zu lesen, diese vor „Das Meer…“ zu lesen. Somit bekommt man nicht nur eine flotte, gut funktionierende Zeitreise-Pandemie-Geschichte, sondern auch noch das Extrapaket der raffiniert eingebundenen Querverweise mit dazu. Der Roman funktioniert definitiv auch ohne, aber mit dem Vorwissen wurde er eindeutig zu einem Highlight.

Viel Spaß also beim Entdecken dieses vielschichtigen Romans und gegebenenfalls beim „Nachlesen“ der vorherigen Bücher der Autorin. ;)

5/5 Sterne

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