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Veröffentlicht am 22.04.2024

„Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“

James
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Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer ...

Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer entlang des Mississippi Mitte des 19. Jahrhunderts. Percival Everett schnappt sich nun die Romanvorlage von Twain, den er sehr verehrt (siehe Danksagung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“), und erweitert diesen Klassiker um den Blickwinkel des Sklaven Jim.

Everett löst dies sehr geschickt, indem er die Passagen auserzählt bzw. hinzuerfindet, in denen im Originaltext Huck und Jim voneinander getrennt sind. Erfährt man bei Twain ausschließlich, was Huck in diesen Episoden passiert, ist es bei Everett umgekehrt. Wir begleiten die gesamte Zeit über Jim und mit zunehmenden Verlauf weicht Everetts Roman sowie Everetts Jim auch mehr und mehr vom Originaltext ab. Wir werfen quasi einen Blick hinter die Kulissen von Twains Roman, denn Jim erschien damals eher eine Kulisse für Hucks Abenteuer zu sein. Nun spielt er die Hauptrolle und somit erfahren sehr viel über die Lebensrealität von Sklaven in der damaligen Zeit.

Hier macht sich Everett, wie auch schon in „Die Bäume“, das Stilmittel der phantastischen Elemente zunutze. Denn Jim kann nicht nur lesen und schreiben, was damals nur ganz, ganz selten überhaupt der Fall war, sondern er liest auch noch aus der Bibliothek von Richter Thatcher Bücher von Voilaire und anderen Philosophen und Gesellschafts-/Staatstheoretikern. Jim ist hochgebildet. Überhaupt erfährt man schon auf den ersten Seiten, dass alle Sklaven in diesem Roman „zweisprachig“ aufwachsen. Sie können ganz regulär Standardenglisch sprechen, was sie allerdings nur tun, wenn sie sich untereinander unterhalten, und wenn sie mit Weißen sprechen, nutzen sie eine vereinfachte und grammatikalisch falsche „Sklavensprache“. Denn die Weißen sollen sich überlegen fühlen. So heißt es im Buch „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Eine Feststellung, die noch bis in die Gegenwart hineinreicht, wenn Schwarze Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich weißen Polizisten gegenüber verhalten sollen, damit sie ja nicht aus Versehen bei einer Polizeikontrolle umgebracht werden. Und mit diesem Verweis in unsere heutige Zeit ist gleich die Tiefgründigkeit und Doppeldeutigkeit des vorliegenden Romans skizziert. Everett hat definitiv keinen einfachen historischen Roman geschrieben, nein es handelt sich meines Erachtens um Gegenwartsliteratur, die das historische Setting nutzt, um nicht nur die lebensbedrohliche Realität für Schwarze in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Querverweise in die Gegenwart zu geben und weiterhin bestehende Probleme anzuprangern.

Hatte ich zunächst noch Probleme mit dem Tempo, der Struktur des Romans, der nun einmal stark an den Abenteuerroman angelehnt ist, waren mir die Episoden zu schnell erzählt und wechselten von einer Szene in die nächste hopplahopp. So ergriff mich „James“ im späteren Verlauf immer mehr. Ich habe den Roman zu Beginn als sarkastisch und beißend empfunden, nie lustig/witzig/amüsant, wie es bei Twain der Fall war. Später wird er immer ernster und tonnenschwer, indem er immer stärker von "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" abweicht und - nicht nur - in die (Überlebens-)Realität von James eintaucht. Hier bleibt der Autor vom Stil her der Vorlage treu, es sind meist sehr kurze, "abenteuerliche" Sequenzen, die schnell wechseln. Das ist grundsätzlich ein Stil der mir nicht gut gefällt, aber ich kann nachvollziehen, warum sich hier Everett anpasst an Twains Vorlage. Umso stärker der Roman ein Eigenleben entwickelt und auch immer stärker der "Sklave Jim" zum "freien Mann James" wird, umso stärker hat der Roman mir gefallen. An einer Stelle sagt James zu Huck: „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“ als es um das Leben als Schwarzer geht. Und dieser Satz unterstreicht hervorragend nicht nur den Unterschied zwischen Twains und Everetts Werk sondern auch die Wichtigkeit von dieser literarischen Ergänzung Everetts zum Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur.

Mir hat der Roman als Ganzes sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Everetts Ideen, wie er das Thema Sprache, Intelligenz, Bildung und die damit einhergehende Gefahr für die Unterdrücker umgeht. Er zeigt auf, dass Schwarze eben nie per se "dumm" waren, sondern genauso intelligent (oder eben nicht), wie alle anderen Menschen auch. Gleichzeitig zeigt er, wie (überlebens)wichtig ein an die Unterdrückung angepasstes Verhalten für die damaligen Sklaven war.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl finde ich, besonders unter Betrachtung der „Sklavensprache“, „eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde und in Grammatik und Aussprache stark vom Standardenglisch abweicht“ (aus den Nachbemerkungen des Übersetzers), äußerst gelungen und auch dessen Nachbemerkungen erscheinen mir interessant und wichtig.

Somit handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman, der den Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain keinesfalls vollständig ersetzen will, sondern eine dringliche Ergänzung zu der bisherigen Charakterisierung und der Geschichte der Sklaven in den USA darstellt. Ein Roman, der definitiv eine Leseempfehlung von mir erhält, auch wenn er meines Erachtens an den Vorgänger „Die Bäume“ nicht heranreicht.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Eine feministische Utopie und Dystopie zugleich

Und alle so still
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Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch ...

Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch bekannter Strukturen führt, weil sich Frauen verweigern.

Die Prämisse des Romans wird gleich mit dem ersten Kapitel mit der Überschrift „Die Pistole“ vorgelegt: Hier wird es gewaltsam und nicht friedlich bleiben. „Die Pistole“ ist neben „Die Berichterstattung“ und „Die Gebärmutter“ eine aus sich heraus sprechende Entität, die neben den im personalen Erzählstil gehaltenen Kapitel der Protagonist:innen Elin (Anfang 20jährige, gut situierte Influencerin und Tochter der Feministin der Dritten Welle Alma), Nuri (19jähriger Sohn einer sri-lankischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterschicht, lebt in prekärsten Lebensumständen) und Ruth (55jährige Krankenschwester am absoluten Leistungslimit), im Buch auftreten. Fallwickl begleitet nun eine Woche lang diese Figuren und zeichnet nicht nur die Entwicklung der Personen sondern auch die besorgniserregenden Entwicklungen in der Gesellschaft nach. Denn plötzlich beginnen immer mehr Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit niederzulegen und sich selbst gleich noch mit dazu. Sie liegen regungs- und sprachlos vor Krankenhäusern, Kindergärten und anderen Einrichtungen. Habe keine Forderungen, schreien keine Parolen. Sie verweigern sich. Und es schließen sich immer mehr diesem stillen Protest an. Innerhalb weniger Tage passiert das, was schon seit längerem in der Theorie vorhergesagt wird: das System bricht zusammen, denn die Frauen sind durchaus systemrelevant. Nach erstem Unverständnis kippt die Stimmung schnell und es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf die Frauen, welche aber weiterhin still zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.

Fallwickl entwirft in ihrem Roman eine Utopie und eine Dystopie zugleich. Utopisch ist sicherlich die Idee, dass sich tatsächlich eine kritische Masse an Frauen zusammenschließt und vollkommen solidarisch sich verweigert. Schon Karl Marx und Friedrich Engels forderten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, hier könnte es heißen „Frauen aller Länder, vereinigt euch!“. Der erste Ruf war schon wünschenswert, aber utopisch, der zweite ist es ebenso. Trotzdem ist es hoch interessant dieses Gedankenexperiment einmal mit all seinen Konsequenzen durchdekliniert zu lesen. Denn hier kommt das dystopische Momentum ins Spiel: Welch schreckliche Szenarien muss man sich konkret dann vorstellen? Krankenhäuser, in denen Chaos herrscht und die Patient:innen unterversorgt wegsterben (wir sind nicht weit davon entfernt!), Gruppen von überforderten Männern, die unberechenbar werden, (aber auch Männer, die sich mit den Frauen solidarisieren und ihnen helfend zur Seite stehen!), ein Gesellschaftssystem, welches die Arbeit der Frauen nicht annähernd ausreichend wertschätzt und diese gleich verteilt, und deshalb über kurz oder lang zusammenbricht. In dieser Fiktion passiert es über kurz, nämlich innerhalb weniger Tage.

Zunächst hatte ich Probleme in den Text hineinzufinden, da das erste Figurenkapitel mit der Influencerin Elin auf mich durch und durch abstoßend wirkte. Erst nach und nach habe ich in die Geschichte hineingefunden, die allerdings meines Erachtens nicht so genial konstruiert ist, wie dies bei „Das Licht ist hier viel heller“ der Fall war. Die Geschichte greift nicht so gut ineinander, der Spannungsbogen erscheint mir insgesamt nicht so richtig konsistent. Trotzdem hat mich die Autorin in vielen Einzelszenen richtig fest packen und sogar zu Tränen rühren können. Wie eindringlich sie den dreizehnten Nachtdienst am Stück von Ruth beschreibt, auf einer unterbesetzten Station, allein mit 24 hoch pflegebedürftigen Menschen, vollkommen überfordert und schon weit über der Leistungsgrenze. Wie aufrüttelnd die prekäre Lebenssituation und die scheußlichen Arbeiten, die Nuri für einen Lohn ausführt, der nicht mehr zum Leben reicht. Das ist schon großartig gemacht.

Insgesamt macht dieser Roman unglaublich wütend. Wütend ist man über das Gefälle, welches immer noch existiert, welches geändert gehört. Aber auch die Autorin weiß darauf kein Patentrezept. Sie legt ihren Roman als Gedankenexperiment an, eines welches wahrscheinlich nie in der Realität umgesetzt wird. Aber sich damit zu beschäftigen, hat mir unglaublich angeregt. Auch wenn also der Roman für mich literarisch nicht ganz rund wirkte, so bekommt er doch von mir eine Leseempfehlung ausgesprochen. Inhaltlich hat er mich total angesprochen. Nun muss ich nur noch endlich „Die Wut die bleibt“ lesen, denn lässt doch Fallwickl eine ihrer Figuren im Roman, der wie eine Fortführung des eben genannten wirkt, fragen: „Und was kommt nach der Wut?“ Das vorliegende Buch scheint die Antwort zu geben, denn wie es dort auch heißt „[sind] diese Frauen […] die Knochen nach einem Ermüdungsbruch. Sie sind durchgescheuert, angeknackst, verschlissen.“ und nun gehen sie einen neuen Weg und es entsteht „Die Panik, das Wissen, wie verkehrt alles läuft und dass niemand es erkennt, aber auch die Ratlosigkeit und die Verlorenheit, weil es abseits der Norm keine Wege gibt, nur Dickicht.“ Dieses einmal außerhalb der Norm denken, gefällt mir am Roman.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Interessant konstruierter Roman mit aufschlussreichem Inhalt

Augenstern
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Was werden wir im Laufe unseres Lebens vergessen? Unsere erste Liebe? Ungerechtigkeiten gegenüber unserer Familie? Oder doch nur das, was wir vergessen wollen: traumatisierende Erlebnisse, die einfach ...

Was werden wir im Laufe unseres Lebens vergessen? Unsere erste Liebe? Ungerechtigkeiten gegenüber unserer Familie? Oder doch nur das, was wir vergessen wollen: traumatisierende Erlebnisse, die einfach zu schlimm erscheinen, um sie zu erinnern?

Amir ist vor dem Sturz des iranischen Schah Reza in 1979 ein Lebemann in dieser weltoffenen und mitunter sehr progressiven Gesellschaft. Er genießt nicht nur den Alkohol sondern auch die Frauen. Gefühlt alle Frauen Teherans, aber dazu gleich mehr. All das erfahren die Lesenden jedoch erst nach und nach im Roman. Und zwar nicht durch Amir sondern durch die sogenannten "Schulterengel" Amirs. Gemäß der islamischen Tradition zeichnen sie auf der rechten und linken Schulter einer Person sitzend auf, was diese Person in ihrem Leben denkt/sagt/tut, damit diese Aufzeichnungen am Tag des Jüngsten Gerichts festzustellen, ob die Person würdig ist, ins Paradies aufgenommen zu werden. Wir benötigen diese Aufzeichnungen, um in die Vergangenheit von Amir zu schauen. Die Handlung setzt nämlich nach dem iranisch-irakischen Krieg der 1980er Jahre ein, nachdem Amir von seiner Mutter und Schwester in einer Psychiatrie wiedergefunden wird, Jahre nachdem er im Krieg schwerst traumatisiert wurde. Er kann sich an nichts oder zumindest nicht viel erinnern und begibt sich auf eine Suche nicht nur nach seinem früheren Leben, sondern auch seiner großen Liebe.

Geschickt stellt der Autor anhand des Lebens seines Protagonisten Amir das "freie" Leben unter dem Schah und mit dem harten Einschnitt der islamischen Revolution und des darauffolgenden Krieges mit dem Irak die spätere islamische Republik dar. Amir führte ein ausschweifendes Leben mit viel Geld, Alkohol und Frauen. Die Frauen wollte er sammeln wie Trophäen, eine für jeden Buchstaben im persischen Alphabet wollte er vögeln. Und ja, da sind wir schon beim einzigen Kritikpunkt zum Buch: Es wird über weite strecken gefickt, gevögelt usw. Ständig ist von Muschis, Schwänzen, Blüten ... die Rede. Was der Autor deutlich klarstellen will: Dass ein ausschweifendes, sexuell freies Leben zu Zeiten der modernen Monarchie überhaupt möglich war, wird nach den ersten zwei oder drei Beispielen von Affären deutlich. Leider übertreibt er es meines Erachtens ein wenig und bringt dann doch zu viele Beispiele Amirs Sexlebens im Buch an. Zugutehalten muss ich dem Autor, dass alle dieser "Sexobjekte" als selbstbestimmte Frauen dargestellt werden. Etwas, was mit der islamischen Revolution kippt. Die Frauen werden verhüllt, der Minirock verschwindet und der Hidschab taucht auf und damit auch das Ende der Freiheiten für den weiblichen Teil der Bevölkerung. Zuletzt bindet der Autor überdies noch den Kampf nach Autonomie der iranischen und irakischen Kurden in das Buch ein. Das ist alles in allem hoch informativ und bringt die historischen Veränderungen im Iran aber auch das Drumherum, um es mal salopp zu sagen, den Lesenden auf einer persönlichen Ebene sehr nahe.

Insgesamt kann ich diesen Roman aufgrund seiner Direktheit, nähe zu einem menschlichen Schicksal - und damit zu vielen Schicksalen - aber vor allem auch aufgrund seines kreativen Ansatzes bezüglich der Zeitsprünge durch die Aufzeichnungen der Schulterengel sehr empfehlen.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Dokumentation oder Fiktion?

Die Verlassenen -
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Zugegeben: Bevor ich das schon im Regal stehende Buch "Die Verlassenen" las, hörte ich zufällig ein Interview mit dem Autor im MDR Kultur Radio. So erfuhr ich vorab, dass es sich bei dieser Geschichte ...

Zugegeben: Bevor ich das schon im Regal stehende Buch "Die Verlassenen" las, hörte ich zufällig ein Interview mit dem Autor im MDR Kultur Radio. So erfuhr ich vorab, dass es sich bei dieser Geschichte über die menschlichen Folgen von Stasi-Machenschaften um einen Roman mit "gefälschten" Stasi-Unterlagen und Fotonachweisen handelt. Ganz ehrlich, hätte ich das nicht vorab gewusst, ich wär reingefallen und hätte den Roman als "autofiktional" gelesen.

Der Ich-Erzähler schildert mit recht einfacher, manchmal ungelenker Sprache, mithilfe von Rückblicken und angeblichen Kopien von Stasi-Akten seine Lebensgeschichte mit dem Tod der Mutter im Alter von fünf Jahren, das plötzliche Verschwinden des Vaters acht Jahre später in 1994 und den Tod der einzigen verbleibenden Verwandten, der Großmutter wenige Jahre später.

Zunächst nervte mich die einfache Sprache des Erzählers, das fast zwanghafte und scheinbar um Authentizität bemühte Benennen von realen Orten in Halle an der Saale (übrigens der Geburtsort des Autors), sowie auch später ein wenig die "überzufällige" Schicksalhaftigkeit der Lebensgeschichte. Trotzdem entwickelte der Roman in seiner Kürze einen Sog auf mich, dass ich gespannt wie beim Lesen eines Thrillers, endlich erfahren wollte, was denn nun wirklich mit der Mutter und dem Vater des Ich-Erzählers geschehen ist. Fast erschrocken und verwirrt, unzufrieden und nach Rache lechzend bleibt man zurück. Da ist das Buch schon vorbei, die Geschichte erzählt und man selbst zurückgeworfen auf die eigenen Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen. Unerwartet tiefgründig bleiben die nur 170 Seiten im Gedächtnis. Ein durchaus lesenwerter Roman, der durch seine Kürze letztendlich besticht und kein Wort zu viel aufweist.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Misogynie durch Staatsfeminismus?

Macht
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Karen Duve entwirft in diesem Roman eine nahe Zukunft im Jahre 2031, die eigentlich scheinbar recht positive politische Entwicklungen andeutet: Es gibt mindestens 50% Frauen in den Ministerien und Unternehmen, ...

Karen Duve entwirft in diesem Roman eine nahe Zukunft im Jahre 2031, die eigentlich scheinbar recht positive politische Entwicklungen andeutet: Es gibt mindestens 50% Frauen in den Ministerien und Unternehmen, durch ein CO²-Punktesystem werden die Bürger Deutschlands dazu angehalten sich einzuteilen, ob sie nun eine Flugreise unternehmen oder Fleisch essen (können), in Russland wurden Mammuts ausgewildert, um den Permafrostboden festzutrampeln und damit das Methan zu binden. (Auf den letzten Punkt komme ich später noch zu sprechen.) Trotz der Bemühungen scheint jedoch die Erde als Lebensraum für die Menschen am Ende. Umweltkatastrophen ziehen über den Planeten und, wer hätte es gedacht, religiöse Sekten schießen aus dem Boden.

Die gesellschaftlichen Umwandlungen erfahren wir aus den Erzählungen des Ich-Erzählers dieser Geschichte. Sebastian ist eigentlich um die 70 Jahre alt, aufgrund eines populären Medikaments sieht er aber aus wie Ende 30. Was die Autorin meines Erachtens großartig macht, ist diesen verachtenswerten Menschen psychologisch vollkommen schlüssig darzustellen. Denn obwohl er früher Umweltaktivist und Befürworter des Feminismus war, kann er an anderer Stelle auch ganz anders. Er ist nämlich ein psychopathischer Sadist. Er verachtet die Frauen für ihr hart erkämpftes Oberwasser und lässt diesen Hass an seiner Ex-Frau aus, die er seit zwei Jahren im Kellerverlies gefangen hält. Jede seiner verdrehten Einstellungen ist dabei (im Rahmen seiner Persönlichkeit) hochrealstisch und zeigt, wie perverse Gewalt gegen Frauen innerlich gerechtfertigt wird von bestimmten Tätergruppen. Dabei wird Karen Duve in ihren Schilderungen der (sexuellen) Gewaltszenen sehr konkret und drastisch. Das kann und will sicherlich nicht jeder Leserin aushalten. Meines Erachtens sind diese Szenen auch irgendwie nur aushaltbar, weil man im Hinterkopf hat, dass dieses Buch von einer Frau geschrieben wurde und sie etwas deutlich machen will damit. Die Beschreibung hätte es jedoch auch bei der ersten auftauchenden Szene getan und hätte nicht zwingend immer wieder so ausführlich geschildert werden müssen. Trotzdem finde ich dies im Rahmen des Gesamtwerks hinnehmbar. Sprachlich glänzt Duve in diesem Roman ohne Zweifel. Ich war von der ersten Seite an gefesselt und blieb es bis zum Schluss aufgrund des Könnens der Autorin.

Die Autorin macht im Rahmen des Plots viele Themen auf, die durchaus realistisch bzw. bezogen auf die Zukunftsszenarien wissenschaftlich fundiert sind. Das oben genannte Vorhaben mit den Mammuts wird z.B. tatsächlich derzeit angestrebt, so abwegig die (im Buch verwobene) Nachrichtenmeldung während des Lesens auch wirken mag. Über die ersten zwei Drittel des Buchs hinweg, hätte dieses für mich Potential für ein Jahreshighlight gehabt. Leider baut sich der Plot zum Ende hin zu einem deplatzierten Showdown auf, thematisch so angesiedelt, dass insgesamt der Roman nicht mehr rund wird. So bleiben leider zu viele (interessante und wichtige!) Themen angeschnitten. Eine Reduktion hätte dem Roman gut getan.

Trotzdem ist mir die Lektüre im Nachhinein eine eindeutige Leseempfehlung wert. Es muss jedoch klar und eindeutig vor den frauenverachtenden Szenen sexualisierter Gewalt gewarnt werden!

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