Hervorragend und sehr besonderes Buch
Du hast mir nie erzähltWorum geht es?
London im Jahr 1997. Lily Miller, 25 Jahre alt, gefangen in psychischen Problemen und Ängsten, musste ihr Studium aufgeben und hält sich mit einem Job über Wasser. Ihre ältere Schwester ...
Worum geht es?
London im Jahr 1997. Lily Miller, 25 Jahre alt, gefangen in psychischen Problemen und Ängsten, musste ihr Studium aufgeben und hält sich mit einem Job über Wasser. Ihre ältere Schwester Maya kümmert sich um sie. Durch einen Brief, eines Notars erfährt sie, dass ein ihr unbekannter Geschäftsmann aus Hongkong, dem Heimatland ihrer verstorbenen Mutter, ihr eine große Summe Geld hinterlassen hat. Einzige Bedingung: Sie muss persönlich nach Hongkong, um dieses Erbe persönlich anzunehmen. Lily kämpft mit sich und ihrer Neugierde und bricht zur Reise in eine ihr unbekannte Kultur und Vergangenheit auf.
Abwechselnd dazu wird die Geschichte von Sook-Yin, Lilys Mutter erzählt. Diese startet 1966 in Kowloon (Hongkong), als sie, verstoßen durch ihren Bruder, nach London geschickt wird. Diese beiden Geschichten nähern sich immer mehr einander an, ergänzen und erklären sich, im Verlauf des Buches.
Lily tritt die Reise in ihre Vergangenheit an und macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Stück für Stück erfährt sie mehr über ihre Vergangenheit und reift zu einer selbstbewussten und selbstwirksamen Frau.
Der Roman, „Du hast mir nie erzählt“ von Wiz Wharton, ist eine Geschichte über Liebe, Mut, Trauer und Hoffnung, Migration und Entwurzelung, über kulturelle Unterschiede und das „Nirgendwo richtig hingehören“, Fremdenfeindlichkeit, Verlust von Identität. Und die Auswirkungen davon, die generationsübergreifend weiter wirksam werden können.
Meine Meinung
„Du hast mir nie erzählt“ ist der erste Roman der Autorin. Sie ist in London geboren und hat selbst chinesisch-europäische Wurzeln. Aus ihren Danksagungen geht hervor, dass die Inspiration zu diesem Buch, dessen Geschichte „…nie als Roman geplant war“, ein, bei einem Umzug, gefundener Karton mit Tagebüchern ihrer Mutter war. In Großbritannien erschien dieser autofiktive Roman unter dem Titel „Ghost Girl, Banana“.
Zu den beiden Hauptakteurinnen:
Sook-Yin (Mutter) ist ein Stehaufmännchen. Sie ist fleißig, mutig, hat keinerlei Unterstützung und kämpft immer wieder ums Überleben. Durch ihre Migration bedingten mangelnden Sprachkenntnisse, die für sie fremden kulturellen Gegebenheiten hat sie es nicht leicht. Ihr begegnen immer wieder rassistische Beleidigungen, aufgrund ihrer Herkunft.
Lily wirkt depressiv. Sie ist nicht nur finanziell abhängig von ihrer älteren Schwester Maya. Auch sie ist immer wieder Opfer von Fremdenhass und Rassismus. Sie fühlt sich verloren und halb -Ausgestattet mit einer „halben Identität“. Lily hat so gut wie keine Kindheitserinnerungen mehr.
Dieses besondere Buch sollte man möglichst nicht nebenbei lesen. Es bedarf, vor allem zu beginn, etwas Aufmerksamkeit, um die vielen bildhaften und stimmungsbildenden Abschnitte aufnehmen und den Wechsel der Zeiten und Orten verstehen zu können. Sich darauf einzulassen beschert den Genuss, der einen abholt und tief mitnimmt, in die Geschichte von Sook-Yin und Lily. Eine weitere Besonderheit ist der stetige Kapitelwechsel zwischen Mutter und Tochter, im Abstand von ca. 20 Jahren. Dieser ergibt Stück für Stück ein Bild aus vielen Puzzleteilen, löst aufkommende Fragen mit teilweise unerwarteten Wendungen auf. Die Autorin lässt historische Ereignisse in ihre Erzählungen einfließen. Das macht das Buch noch realitätsnäher. Es fällt leicht, sich ganz tief in die Charaktere einzufühlen.
Die Besonderheiten des Buches sind beispielsweise die zwei Zeitebenen mit verschiedenen Handlungsorten, der Inhalt aufgeteilt in die Bereiche Mutter und Tochter, einfühlsame Beschreibungen und dadurch bedingt der gute Transfer von Stimmungen, Umgebung und Persönlichkeiten. Das Buch spricht nebenbei viele spannende Themen an (Vertreibung, Migration, Entwurzelung, Verlust von Identität und Identitätsfindung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Geschlechterrollen im kulturellen Kontext, Trauer, Hoffnung und das Zurechtfinden in einer fremden Welt). Das Buch beschreibt besondere Herausforderungen des Lebens bei beiden Protagonistinnen und wie stark „Zuschreibungen“ wirken können. Wiz Wharton schafft es, all das in die Geschichte zu transportieren.
Fazit
Zu Beginn war ich, durch die vielen bildsprachlichen Eindrücke und dem Schreibstil etwas herausgefordert. Schnell wurde ich „eingesaugt“ in die Handlung und konnte das Buch kaum aus den Händen legen. Emotionen wurden so gut beschrieben und transportiert, dass ich stark mit den Hauptfiguren mitgefühlt habe. Die Hauptfiguren wurden fast „lebendig“. Die Geschichte hatte immer wieder unerwartete Wendungen und blieb bis zur letzten Seite spannend. Das Buch macht deutlich, wie Migration, Entwurzelung und persönliche Zuschreibungen wirken können und wie wichtig die Herkunft und die Familiengeschichte für die eigene Identität sein kann.
Wiz Wharton hat mit ihrem Debutroman bei mir voll „eingeschlagen“. Ich hatte immer das Gefühl mitten in der Geschichte zu sein. Ich hoffe unbedingt auf weitere Werke dieser Autorin.