Leseempfehlung für feinfühlige Menschen!
LeuchtfeuerWie kommt man schnell und preiswert nach Amerika? Klar, mit einem Buch! Dani Shapiro versetzte mich in die Mittelklasse einer amerikanischen Kleinstadt, mit all ihren Nöten und Tücken, die das Eheleben, ...
Wie kommt man schnell und preiswert nach Amerika? Klar, mit einem Buch! Dani Shapiro versetzte mich in die Mittelklasse einer amerikanischen Kleinstadt, mit all ihren Nöten und Tücken, die das Eheleben, die Arbeit und das Kindsein so mit sich bringen. Das alles überschattende Drama vom 27. August 1985 stellt für die Familie Wilf das Ende des gewohnten Lebens dar, nichts ist nach einem Autounfall und dem durch die Kinder der Familie, Sarah und Theo, verursachten Tod der Schulfreundin Misty noch, wie es war. Mit eisernem Schweigen versuchen alle Beteiligten, das Unheil zu bannen.
Ich erinnere mich an die Hysterien zum Jahrtausendwechsel selbst sehr gut, ich hatte die Aufgabe, Hunderte PCs per Installationsdiskette auf das Jahr 2000 vorzubereiten. Das ist ein Klacks im Gegensatz zum unerwarteten Einsatz von Dr. Wilf, der dem Kind der Nachbarn auf dem Küchenboden den Weg ins Leben weist. Das ist der kleine Waldo.
Im Verlauf der Geschichte lernt man dann 2010 den unterdessen elfjährigen Waldo kennen, den auf ganz besondere Weise die Sterne faszinieren. Er kommt mit Dr. Benjamin Wilf, nun Mitte 70, zu einem nächtlichen Treffen zusammen, das sehr poetisch beschrieben wird. Dass Waldo für seinen Ausflug bei Nacht von seinen Eltern nicht gelobt wird, liegt auf der Hand. Der fitnessbesessene Vater liebt sein Kind zwar, wird aber sofort wütend, die Mutter, immer mit etwas Wein im Kopf, ist auch keine Hilfe fürs empfindsame Kind. So kommt es kurze Zeit später zu folgenschweren Verwicklungen.
Waldo verlässt sein Zuhause ein zweites Mal, Mimi Wilf entwischt aus dem Pflegeheim. Im Schneetreiben werden sich beide begegnen. Dass Mimi Wilf selbst kurz vor ihrem Tod fast nur einen Gedanken in ihrem alzheimerkranken Kopf hin- und herbewegt, hat mich sehr berührt. Theo, immer wieder Theo ist es, an den sie denkt. Er ist und bleibt ihr Ein und Alles. Der kleine, hochintelligente und hochsensible Waldo beschützt sie in ihren letzten Minuten, als wäre er ihr Theo.
Die letzten Episoden springen noch einmal zurück ins Jahr 1985, zum Tag des tödlichen Unfalls im Garten der Wilfs. An diesem Tag gab es den ultimativen "Point Of No Return" in der Familie Wilf, die Leben der vier zersprangen in zwei Teile, in zwei Seelenzustände: glücklich und unglücklich. Jeder bewältigt die (im Buch beschriebenen) kommenden 25 Jahre auf seine Weise. Sarah braucht unendlich lange, um sich, aber auch der Öffentlichkeit ihre Schuld einzugestehen. Theo versucht, nach fünf Jahren Familienabstinenz, seine Schuld auf seine Weise abzuarbeiten, Benjamin findet in Waldo sein Lebenselixier und Mimi, bevor sie in Alzheimer versinkt, verliert die Lebensfreude ohne ihren Theo. Hinzu kommen die Probleme der Familie Shenkman, jedes der drei Familienmitglieder immer im harten Kampf mit sich und der Welt da draußen. 2020 wird Waldo ein Student sein, immer noch befreundet mit seinem Ins-Leben-Bringer Benjamin, immer noch in Distanz zu seinem Vater, der versucht, sich ohne seine verstorbene Ehefrau über Wasser zu halten.
Am Schluss weiß man, es gibt eine leuchtende Zukunft, die jeder an einem bestimmten Tag in seinem Leben sehen kann und die doch nicht so in Erfüllung geht, wie man es sich erträumt hat. Trennungen, Kontaktabbrüche, Todesfälle, Trauer, Schweigen, Schuld, Vergeben, Vergessen, aber auch Liebe und Glück muss man aushalten können. Das macht das Leben lebenswert.
Es gab schon Bücher, in denen mich Zeitsprünge störten, in diesem ist das anders. Ich las es wie etwas, das Vergangenheit ist und durch den Kopf geistert, nicht in der richtigen zeitlichen Abfolge, aber immer mit den richtigen Übergängen. Ja, man kann im Kopf an zwei Jahrzehnte gleichzeitig denken, sie miteinander verknüpfen. „Alles ist miteinander verbunden.“ (S. 217)
Der Sprachstil ist angenehm, nicht aufdringlich, nicht Aufmerksamkeit heischend, sondern eher poetisch und wachsam. Mir gefällt das.
Das inhaltlich eher unpassende Cover ist zwar mit den pastellfarbenen Blüten ein Hingucker, aber ich finde es etwas kitschig und verspielt. Das amerikanische Original trifft den Kern der Geschichte schon eher – nachtblau, leuchtende Sterne, ein riesiger Baum, zwei kleine Menschen am Fuß des Baums...als würden sich Benjamin Wilf und Waldo dort treffen und das Weltall erkunden.
Die Typografie des Buches gefällt mir sehr, sie gibt dem Leser Halt in den vielen Zeitenwechseln, die Dani Shapiro bereithält. Der großzügige Satzspiegel, die Schriftwahl, auch die für mich als Brillenträger gut lesbare Schriftgröße sowie die Wahl des Papiers runden diesen Eindruck ab.
Fazit: ein hochemotionaler Roman, der eine Zeitspanne von 50 Jahren und zwei Familien umfasst, die man so leicht nicht wieder vergessen kann. Es gäbe viele Einzelheiten, die noch erwähnenswert wären in dieser Rezension, aber nichts geht über das Selbstlesen und Selbstempfinden.