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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.04.2024

Recht unterhaltsam, aber auch sehr konstruiert und handwerklich mittelmäßig

The Hike
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„The Hike“ (warum werden Buchtitel eigentlich vermehrt nicht mehr ins Deutsche übersetzt?) reizte mich als begeisterte Wanderin; der Blick in die traumhaft-einsame Landschaft Norwegens machte mich ebenfalls ...

„The Hike“ (warum werden Buchtitel eigentlich vermehrt nicht mehr ins Deutsche übersetzt?) reizte mich als begeisterte Wanderin; der Blick in die traumhaft-einsame Landschaft Norwegens machte mich ebenfalls neugierig, gerade auch, weil diese Landschaft für eine solche Geschichte wunderbar geeignet ist. Der Klappentext versprach zudem psychologisch Interessantes – vier Freundinnen in der Natur, auf sich gestellt, mit aufbrechenden alten Konflikten. Klingt nach einer guten Mischung.
Ganz wurden meine Erwartungen letztlich nicht erfüllt. Das Buch braucht sehr lange, bis es in Fahrt kommt. Die eigentliche Wanderung fängt erst irgendwann um Seite 100 herum an. Bis dahin trottet die Geschichte recht zäh dahin. Das liegt vor allem daran, daß die Autorin sich mit allerlei irrelevanten Details aufhält und auch vieles wiederholt. Gerade, wenn es darum geht, die Charaktere der vier Frauen darzustellen, greift Clarke immer wieder auf dieselben Sätze zurück. Maggie ergeht sich regelmäßig darin, wie sehr sie ihre Tochter vermisst, von Liz wird etwa sechs- oder siebenmal betont, wie sehr sie Joni immer zur Seite stand, Helena befühlt regelmäßig ihren Bauch und gibt sich einer wiederholenden Gedankenschleife hin und Joni reflektiert vorhersehbar darüber, welche Schatten ein schillerndes Starleben hat (und wem da einiges bekannt vorkommt: ja, was die Frauencharaktere und ihre Gedanken betrifft, hat Lucy Clarke in mancherlei Hinsicht ihr letztes Buch recyclet – die stereotypen vier Freundinnen und ihre Gedanken entsprechen in etwa denselben Schubladen wie in „One of the Girls“). Der Pathos der ständigen Freundschaftsbeschwörung war etwas anstrengend, genau wie das arg zuckrige Ende.
Der Schreibstil ist durchschnittlich. Es gibt einige gelungene Formulierungen, die ich mehrmals gelesen habe, auch die Naturbeschreibungen sind ausgezeichnet und bildhaft. Diese habe ich genossen. Manche Formulierungen sind etwas unbeholfen, sonst liest sich alles gut weg, bleibt nicht weiter in Erinnerung. Für einen Krimi ist das ausreichend.
Die Geschichte wird überwiegend durch die wechselnden Perspektiven der vier Freundinnen erzählt. Das ist eine gute Idee, denn so lernen wir die vier Frauen sowohl durch ihre eigenen Gedanken wie auch durch die Augen der anderen kennen und auch verschiedene Schauplätze und Geschehnisse können durch die Wechsel geschmeidig dargestellt werden.
Sobald die Wanderung losgeht, steigt das Erzähltempo und ist gerade in der Mitte des Buches angenehm. Es passiert genug, daß man weiterlesen möchte und gespannt ist, aber es überschlägt sich nicht unangenehm. Das passiert dann aber leider im letzten Drittel. Hier nutzt die Autorin, die ohne große Innovationen die üblichen kommerziell erfolgreichen Bestandteile des Genres abarbeitet, dann das Stilmittel zahlreicher sehr kurzer Kapitel, die jedes mit einem kleinen Cliffhanger enden – ein Stilmittel, das mir schon bei Fitzek so auf die Nerven fiel, daß ich seine Bücher nicht mehr lese. Hier und da ein Spannungsmoment, das Ganze verbunden mit einem Perspektivwechsel, um die Spannung zu halten, ist an sich eine gute Idee, aber wenn es derart überbenutzt und zum Selbstzweck wird, dann nutzt es sich enorm ab und nach einer Weile wollte ich einfach nur, daß das Buch endlich zu Ende ist. Dies auch, weil zwischen den Cliffhangern dann häufig Passagen folgten, die reines Füllmaterial waren. Auch schon zu Anfang der Wanderung versucht die Autorin, ständig Spannung zu erzeugen, geht da aber ebenfalls keine kreativen Wege und so folgt ein falscher Alarm dem anderen – unheilvolle Schritte, das Gefühl des Beobachtetseins, ein ungewöhnliches Geräusch wechseln sich beständig ab und verlieren schnell an Bedeutung. Wie bei den Charakteren wird hier zu viel in Schubladen gegriffen, zu viel wiederholt – das ist handwerklich leider nur durchschnittlich.
Doch legt Clarke auch durchaus gelungene falsche Fährten und schafft es, die anderen Charaktere undurchschaubar zu gestalten. Auch baut sie einige überraschende Wendungen ein und konnte zumindest mich mehrere Male erfolgreich hinters Licht führen. Die Geschichte selbst ist an sich gut ausgedacht – nur leider auch sehr konstruiert. Das fängt schon damit an, dass es kaum glaubhaft ist, dass diese vier Frauen, von denen nur eine halbwegs wandererfahren ist, all die beschriebenen Strapazen überhaupt bewältigen. Sie tragen neue, nicht eingelaufene Schuhe, sind kaum sportlich, eine betreibt seit Jahren heftigen Alkohol- und Drogenmissbrauch, eine ist übergewichtig – im wirklichen Leben hätten sie nicht mal den ersten Tag durchgestanden. Als diese vier Frauen dann nach einer durchwachten Nacht und einem zermürbenden Tag völlig ausgehungert mal eben tausend Höhen(!)meter an einem gefährlichen Berg hinter sich bringen, konnte ich nur den Kopf schütteln. Das ist komplett unglaubwürdig. Als sie dann noch die Muße fanden, auf diesem Weg zwischendurch stehenzubleiben und sich erst einmal wegen einer Nebensächlichkeit - mal wieder - ausgiebig anzuzicken, obwohl sie auf der Flucht vor einem gefährlichen Menschen waren, mußte ich schon ein wenig schmunzeln. Auch sonst ist vieles unrealistisch und konstruiert.
Insofern bot „The Hike“ leidlich gute Unterhaltung und einige schöne Naturbeschreibungen, hat einige gelungen überraschende Momente, ist aber durch Wiederholungen, inhaltliche Längen und einer Überbenutzung abgenutzter Stilmittel zum Spannungsaufbau sowie der äußerst konstruierten Geschichte nicht wirklich überzeugend.

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Veröffentlicht am 18.02.2024

Sprachlich hervorragend, inhaltlich nicht ganz überzeugend

Krummes Holz
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„Krummes Holz“ hatte es mir schon auf den ersten Seiten wegen der gelungenen Sprache angetan. Julja Linhof erzählt so bildhaft, daß ich das Gefühl hatte, selbst in dieser hitzeflirrenden Landschaft zu ...

„Krummes Holz“ hatte es mir schon auf den ersten Seiten wegen der gelungenen Sprache angetan. Julja Linhof erzählt so bildhaft, daß ich das Gefühl hatte, selbst in dieser hitzeflirrenden Landschaft zu stehen und den heruntergekommenen Hof mit Jirka zu entdecken. Es werden wenige Worte gebraucht, um die jeweilige Szenerie entstehen zu lassen. Auch gibt es von Anfang an viele Andeutungen auf dunkle Ereignisse und Familienkonflikte, was mich auf die Geschichten neugierig gemacht hat.
Lange erfahren wir allerdings sehr wenig. Die Handlungen und Motivationen der Charaktere bleiben größtenteils im Dunkeln. Der Vater Georg ist verschwunden, Jirka taucht nach Jahren unangemeldet auf und nichts davon wird wirklich angesprochen. Wir beobachten Jirka auf seinen einsamen und stummen Gängen durch das Haus und über das Grundstück und ich fand die Spärlichkeit der Informationen zunehmend schwierig, da mir das Geschehen nicht vorstellbar wurde und auch die Charaktere so recht blass blieben.
Das Erzähltempo ist sehr langsam, eigentlich fast nicht vorhanden. Das funktioniert allerdings lange erstaunlich gut, was für mich zum großen Teil an dem ausgezeichneten Umgang mit Sprache lag. Ich las diesen farbigen Stil sehr gerne. Auch das fast fluide Spiel mit den Zeitebenen ist hervorragend gemacht. Jirka entdeckt diesen Hof seiner Kindheit nach mehrjähriger Abwesenheit neu und dadurch werden allerlei Erinnerungen in ihm wach. Der Wechsel von der erzählten Gegenwart zu den Erinnerungen ist unmittelbar, wird kaum angekündigt oder verdeutlicht und die Zeiten wechseln häufig. Das wirkt beim Lesen fast mühelos, wie von selbst geschehend, was zeigt, wie sorgfältig diese Passagen ausgearbeitet und geschrieben wurden. Es sind letztlich auch eher diese Erinnerungen, die für Erzählfluss sorgen, denn in Jirkas Gegenwart passiert lange Zeit so gut wie nichts. Das Gesamtbild füllt sich so ein wenig.
Ab etwa der Hälfte begann das Buch mich allerdings zu verlieren. Die statische Trostlosigkeit ist ausgezeichnet geschildert, wurde aber zunehmend repetitiv. Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten und mein Interesse an der Geschichte nahm ab, das Ewiggleiche begann mich zu langweilen. Auch die zusätzlichen Charaktere, die für kurze Zeit hineingeworfen werden, brachten für mich eher Irritation, da insgesamt einfach viele Details berichtet werden, die letztlich kaum eine Rolle spielten. Dann kam auch noch eine Outinggeschichte mit allerlei entsprechenden Details hinzu, was thematisch überhaupt nicht mein Fall ist, so daß mir das letzte Drittel des Buches insgesamt nicht mehr gefiel. Die Auflösung des Verbleibs des Vaters war dann durchaus interessant, bzw. wäre es gewesen, wenn sie nicht so untergegangen wäre. Zu diesem Zeitpunkt hatte mich das Buch einfach schon verloren.
Sprachlich ist „Krummes Holz“ durchweg erfreulich, die Autorin hat einen ungewöhnlichen und gekonnten Stil und kann meisterhaft Atmosphäre hervorrufen. Die Handlung hatte Potential, das für meinen Geschmack aber nicht komplett genutzt wurde, vieles blieb zudem offen, und das fast Statische des Erzähltempos ist für ein ganzes Buch m.E. nicht geeignet. Insofern überzeugte „Krummes Holz“ mich nur teilweise.

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Veröffentlicht am 31.12.2023

Origineller, aber oft überemotionaler und egozentrischer Blick auf Berlin

Gezeiten der Stadt
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Die Idee, eine Geschichte Berlins zu schreiben, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ein Stück weggeht und sich auf ungewöhnlichen Pfaden durch die Stadt bewegt, ist hervorragend und es gelingt ...

Die Idee, eine Geschichte Berlins zu schreiben, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ein Stück weggeht und sich auf ungewöhnlichen Pfaden durch die Stadt bewegt, ist hervorragend und es gelingt Kirsty Bell durchaus, sich der Stadt auf eine eigene und originelle Art zu nähern. Man kann hier manch neuen Blick auf Berlin erlangen.
Eine Geschichte Berlins im zeitlich umfassenden Sinne ist es nicht, Bell behandelt die Zeit etwa zwischen spätem Biedermeier und der Gegenwart. Hier sind der Untertitel und der Klappentext irreführend und das fand ich enttäuschend, denn so wurde vieles nicht thematisiert, was die Stadt ausmacht und was oft zu wenig Beachtung findet. Nur ein Drittel des Buches ist der Zeit vor der Nazidiktatur gewidmet – schade, denn das ist eine sehr einseitige Gewichtung, die inhaltlich wiederkäut, was man schon sehr oft gelesen hat. Insgesamt muß ich sagen, daß ich aus dem Buch wenig Neues erfahren habe.
Die Vorgehensweise hat mir trotzdem in mancherlei Hinsicht gut gefallen. Vor den einzelnen Zeitabschnitten finden wir jeweils einen Stadtplan oder Auszug eines Stadtplans jener Epoche, das ist eine ausgezeichnete Visualisierung und unterstreicht den Inhalt gelungen. Auch die Verwebung mit Gemälden und Büchern fand ich erfreulich. So nutzt Bell z.B. Fontanes Werke, um uns das kaiserliche Berlin näherzubringen, unterlegt Romanauszüge mit Hintergrundfakten und schafft so ein farbiges Bild.
Absolut unangenehm fand ich dagegen ihre Neigung, sich und ihre eigene Geschichte ständig in den Vordergrund zu drängen. Das Buch beginnt schon mit einer ausführlichen Schilderung ihrer Ehekrise und Wohnungsprobleme. Das ist denkbar uninteressant, aber als Einführung für ihre Gründe, sich mit ihrem Haus und von dort aus der Geschichte der Berliner Umgebung zu befassen, noch nachvollziehbar. Allerdings bleibt es nicht dabei. Bell redet über weite Strecken des Buches nicht über Berlin, sondern über sich. Kein Kapitel kommt ohne – meistens anstrengend larmoyante – Bemerkungen über ihre Familiensituation aus und es ging mir zunehmend auf die Nerven, ständig über ihre persönlichen Befindlichkeiten lesen zu müssen, die mit dem Thema nichts zu tun haben. Auf eine seltsam egozentrische Art bezieht sie letztlich alles auf sich – wenn sie über den Umgang mit Scham in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt, fügt sie einen langen Abschnitt über die Scham ein, die sie angesichts ihrer gescheiterten Ehe fühlt. Als sie herausfindet, daß jemand, der vor vielen Jahrzehnten in ihrem jetzigen Haus lebte, 1932 in die Nazipartei eingetreten ist und ein propagandistisches Kartenspiel herstellte, reagiert sie so dramatisch und entsetzt, als ob es sich um einen engen Verwandten handele, der ein Versprechen an sie gebrochen hätte.
Überhaupt ist Bells Besessenheit von der Familie, welche das Haus, in dem sie heute wohnt, baute und lange bewohnte, verstörend. An sich ist der Gedanke, die Geschichte ihres Hauses zu erforschen und die Geschichte der dortigen Bewohner mit der Berlins zu verbinden – durch Einzelschicksale das Geschehen persönlicher zu machen – ausgezeichnet. Auch ist die Geschichte des Hauses durchaus interessant. Aber Bell steigert sich sehr dort hinein, baut eine innerliche Beziehung zu diesen Menschen auf, schreibt Seiten über Seiten mit überdramatisierten Fragen und Vermutungen über diese voll und führt am Ende des Buches sogar das bedenkliche und zweifelhafte Verfahren einer Familienaufstellung mit den Charakteren dieser seit langem verstorbenen früheren Bewohner des Hauses durch, was zu einem der befremdlichsten Abschnitte des Buches führt. Auch sonst tropft reichlich Esoterik von den Seiten. Da wird dann ein banaler Wasserschaden zu den Tränen einer Wohnung, die nicht möchte, daß Bell dort wohnt. Angebliche Heilsteine werden auslegt und die Leser allerlei esoterischen Ansichten ausgesetzt. Was das mit der Geschichte Berlins zu tun hat, bleibt ein Rätsel, aber auch die geschichtlichen Betrachtungen erfolgen leider häufig mit derlei esoterischem Unterton.
Wenn es denn mal um die Geschichte Berlins geht, sind die Ansichten durchaus interessant, auch sprachlich kann das Buch überzeugen. Ich freute mich nicht nur über Fontane, sondern auch, daß weniger bekannte Berliner wie Gabriele Tergit zu Wort kommen. Allgemein floss viel Wissen und hingebungsvolle Recherche ins das Buch. Auf die zahlreichen philosophischen Exkurse und ziellos mäandernden Gedanken hätte ich gut verzichten können, aber es ist durchaus eine Geschichtsbetrachtung, die neue Aspekte eröffnet. Die obskuren esoterischen Ausführungen und die Penetranz, mit der die Autorin ständig um sich kreist, und bei der ich mich immer wieder fragte, warum sie glaubt, das könnte die Leser, die ein Buch über die Geschichte Berlins gekauft haben, interessieren, hat mir das Buch allerdings sehr verleidet.

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Veröffentlicht am 18.12.2023

Gut recherchierte, aber oft langatmig erzählte Geschichte

Das Geheimnis der Mona Lisa
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Beate Rygiert thematisiert in ihrem Roman eine zwar nicht bewiesene, aber – wie sie im Nachwort darlegt – auf fundierten Annahmen begründete Theorie über die Geschichte des Gemäldes, das seit Jahrhunderten ...

Beate Rygiert thematisiert in ihrem Roman eine zwar nicht bewiesene, aber – wie sie im Nachwort darlegt – auf fundierten Annahmen begründete Theorie über die Geschichte des Gemäldes, das seit Jahrhunderten die Fantasie der Menschen beschäftigt. Sie erzählt diese Geschichte aus zwei Blickwinkeln, einmal aus dem Mon(n)a Lisas und einmal aus dem Leonardo da Vincis, und webt sie in die dramatische Historie um die Medici und ihre Epoche ein.

Das Titelbild kann gar nicht genug gelobt werden. Es hebt sich herrlich reduziert und stilvoll von dem unerträglich einfallslosen Einerlei der lieblosen „Frau-vor-Gebäude“-Titelbilder historischer Romane ab. Hier paßt alles – Farben, Schrift, Motive. Eine wahre Freude.

Der Roman beginnt in einem ausgezeichneten Erzähltempo mit dramatischen Ereignissen, welche die Leser gleich mitten in die Handlung ziehen und uns Lisa in der ganzen Dramatik ihres Schicksals präsentieren. Die Kapitel, in denen es um Lisa geht, halten dieses Erzähltempo größtenteils und können mit abwechslungsreichen Geschehnissen und einigen überraschenden Entwicklungen aufwarten. Die Sprache in den Dialogen war mir manchmal zu modern und riss mich aus dem Gefühl jener Zeit – hier hätten schon ein paar kleine Wortveränderungen eine Menge bewirkt, ohne die Sprache gekünstelt altertümlich wirken zu lassen.

Die Kapitel, die sich mit Leonardo befassen, sind wesentlich geruhsamer und haben wenig Handlung. Schon am Anfang werden die Leser hier mit Fakten überschüttet, so rasch und sachbuchartig, dass man sie gar nicht alle verarbeiten kann – viele davon sind interessant, gehen aber in der schieren Fülle unter. Wir lernen Leonardo als Mensch zwar ein wenig kennen, hauptsächlich aber ist er Stichwortgeber für Hintergrundinformationen, auch handeln sehr ausführliche Passagen davon, wie er zu diesem und jenem seiner Werke inspiriert wurde oder wie er bei seiner Arbeit vorging. Das ist an sich passend, aber in einer solchen Ausführlichkeit und Faktenlastigkeit bremst es die Romanhandlung aus und entfernt sich zudem von der eigentlichen Geschichte – bevor es wirklich um das Gemälde geht, ist schon mehr als die Hälfte des Romans vorbei. In einer Romanbiographie wäre solche Detailfreude angemessen gewesen, hier überlagert es die Romanhandlung und ist oft so langatmig, dass ich manchmal zum Abbruch des Buches neigte.

Die historische Recherche ist ausgezeichnet, zeugt von Hingabe, nur die Einbindung in die Geschichte fand ich manchmal nicht gelungen. Wiederholt wird Dialog-Infodumping betrieben, an einer Stelle hält Leonardo einen fast eine Seite langen Monolog, in dem er seinem Gegenüber diesem bekannte Fakten mitteilt und ihm weitere Fakten in der Art eines Kunstbucheintrags herunterrasselt. An einer anderen Stelle wird von Lisas Ehemann auf Leonardos Satz, ihr Kleid für das Gemälde solle so schlicht wie möglich sein, allerlei Modegeschichtliches heruntergebetet, was gleich aus mehreren Gründen nicht in den Dialog paßt und ein plumpes Einschieben von Fakten um ihrer selbst darstellt. Solche Passagen gab es öfter, dem stehen aber viele Stellen gegenüber, an welchen sich die Fakten gekonnt und elegant in die Geschichte einfügen.

Nachdem mich die erste Hälfte des Buches nur wenig überzeugte, konzentriert sich die zweite Hälfte mehr auf die eigentliche Handlung und überzeugt auch erzählerisch mehr. Einige Szenen haben mich gebannt lesen lassen und sowohl Lisa als auch ihr Ehemann entwickeln sich als Charaktere weiter und zeigen den Lesern interessante Facetten – ansonsten fand ich viele Charaktere leider eher blass und in einem Fall nicht ganz nachvollziehbar. Hier wird nun Lisas Leben ausgezeichnet mit den historischen Entwicklungen zusammengeführt, die Szenen sind wieder so lebendig wie am Anfang, man sieht die Bilder vor sich. Die Hintergründe und Umstände der Gemäldeentstehung sind nachvollziehbar geschildert. Das Ende hat eine für mich zu zuckrige Komponente, ist ansonsten aber ebenfalls nachvollziehbar und erfreulich realistisch.

Insgesamt ist die Idee hervorragend, hat die Geschichte viel Ungewöhnliches und Mitreißendes. Auch wenn der Schreibstil aus mehreren Gründen nicht ganz meinen Geschmack traf, habe ich gerade in Lisas Abschnitten viele farbig geschilderte Szenen erfreut gelesen und zudem durch das Buch viel Neues gelernt. Wenn das Erzähltempo etwas lebendiger, die faktenlastigen Passagen wesentlich kürzer gewesen wären und sich auf für die Geschichte Relevantes beschränkt hätten, hätte ich das Buch genossen. Wer eine geruhsamere Erzählweise schätzt und über da Vincis Arbeit und Denken Ausführliches erfahren möchte, wird hier einen guten Griff tun.

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Veröffentlicht am 11.12.2023

Spannendes Thema, zu selbstverliebt und abschweifend erzählt

Die Spurenleserin
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Dieses Buch war schon beim ersten Anblick eine Freude – es ist voller Sorgfalt gestaltet und wirkt durch die Klappenbroschur, die farbliche Absetzung der Kapitelüberschriften und die visuellen Komponenten ...

Dieses Buch war schon beim ersten Anblick eine Freude – es ist voller Sorgfalt gestaltet und wirkt durch die Klappenbroschur, die farbliche Absetzung der Kapitelüberschriften und die visuellen Komponenten ansprechend und hochwertig. Das kleine Bild einer Fliege unterteilt die Kapitelabschnitte – ein botanisches Motiv hätte noch besser gepaßt, aber auch so ist es ein gutes Gestaltungselement.

Auch thematisch besteht hier eine Menge Potential und natürlich macht der Untertitel „Die spektakulärsten Kriminalfälle einer biologischen Forensikerin“ äußerst neugierig. Allerdings überzeugte der Inhalt mich weitaus weniger als die Gestaltung. Das liegt keineswegs an den gegebenen Informationen – Wiltshire weiß viel Interessantes zu berichten und führt die Leser auf vielfältige Weise in die Welt der Pflanzen, Pilze und Verwesung ein. In der ersten Hälfte ist mir das oft noch zu kompliziert naturwissenschaftlich dargelegt – hier scheint die Autorin zu vergessen, daß sie sich an Laien wendet, denn manche Abschnitte lasen sich wie ein Vorlesungsskript. Im zweiten Teil dagegen sind die Informationen unterhaltsamer dargebracht, bleiben beim Wesentlichen und Praktischen, ohne sich zu sehr in biologisch-chemischen Vorgängen zu verlieren. Die Themenvielfalt war erfreulich, sowohl als Blick in die Pflanzen- und Pilzwelt an sich wie auch im Hinblick auf die forensischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.

Leider werden in dem Buch weitaus weniger Fälle geschildert, als man annehmen könnte. Hier ist der Originalbuchtitel („The Memoir of a Forensic Scientist“) weniger irreführend als der deutsche Titel, denn die Autorin widmet gleich mehrere Kapitel ihrer Kindheit und ihrem Werdegang. Warum ihre persönliche Geschichte in diesem Buch so viel Raum findet, ist nicht erklärlich, denn sie ist keineswegs außergewöhnlich, hat mit der Forensik-Thematik nichts zu tun und liest sich in dieser hingebungsvollen Ausführlichkeit äußerst langweilig. Ich habe noch nie erlebt, daß sich jemand in einem Sachbuch mit seiner persönlichen Geschichte derart ausführlich in den Vordergrund drängt und damit dem eigentlichen Thema etwa ein Drittel des Raumes wegnimmt. Diese Abschnitte haben das Buch für mich sehr geschwächt – es wird wohl den meisten Lesern so wie mir gehen, daß sie hier etwas über die forensische Arbeit und dadurch gelöste Fälle lesen wollen.

Diese Abschnitte sind symptomatisch für den sonstigen Schreibstil der Autorin, die durchweg selbstverliebt wirkt. Sie betont gerne und häufig, wie brillant sie und wie ungemein wichtig ihre Arbeit ist. Ebenso gerne webt sie herabsetzende Bemerkungen über andere ein, was ausgesprochen unangenehm zu lesen war. In einer Fallschilderung regt sie sich auf drei Seiten gleich viermal über die angeblich „hämische“ Art eines Polizeigaragenmitarbeiters auf, was geradezu kindisch wirkte.

Auch schiebt sie sich immer wieder in den Vordergrund. In Fallschilderungen erfahren wir dauernd, daß die Autorin fror, Rückenschmerzen oder Hunger hatte, welche Musik sie auf der Fahrt hörte, was sie zum Abendessen aß, etc. etc. Inmitten einer Fallschilderung beginnt sie plötzlich mit Erinnerungen an ihren Großvater. Hier und da ein kleines persönliches Detail kann eine Fallschilderung weniger steril machen, aber in dieser Häufung war es enervierend und ich habe mir oft gewünscht, Wiltshire hätte sich weniger ihren Befindlichkeiten und mehr dem jeweiligen Fall gewidmet. Auch ihre Meinung zu allerlei Themen drückt sie uns häufig und ausführlich auf.

Diese Selbstverliebtheit beeinträchtigte das Lesevergnügen ebenso wie die zahlreichen unnötigen Details (so wird an einer Stelle eine Seite lang die Kleidung und das Aussehen irgendeiner Frau beschrieben, die eine Haustüre öffnete, nie wieder erwähnt wird und komplett unwichtig für den Fall ist). Immer wieder mäandern die Fallerzählungen in alle möglichen Richtungen und auch zahlreiche Wiederholungen enervieren beim Lesen. Es werden so viele Dinge (wie z.B. Ötzis Pfeilspitze) mehrfach geschildert, daß ich mich beim Lesen fragte, warum beim englischen Verlag kein Lektorat eingegriffen hat. Wenn man die ausführlichen Werdegangserzählungen, die Wiederholungen und irrelevanten Abschweifungen herausnimmt, bleibt nur noch etwa die Hälfte des Buches, die informativ und lesenswert ist.

Die geschilderten Fälle und Ermittlungen an sich sind nämlich interessant und vielfältig. Sehr schön ist es, wie hier verschiedene Bereiche der biologischen Forensik beleuchtet und dadurch die allgemeinen Informationen an praktischen Beispielen veranschaulicht werden. Auch manche Hintergrundinformationen wie die Body Farm, die Polizeiarbeit in Albanien oder das größte Myzel der Welt reichern die Fallschilderungen und allgemeinen Informationen gelungen an. Wenn es um dieses eigentliche Thema geht, habe ich gebannt gelesen und die Lektüre genossen. Genau deshalb wäre es schön gewesen, wenn die Autorin sich weniger sich selbst und mehr der Darstellung ihrer Fälle gewidmet hätte. Dann wäre das hier ein 5-Sterne-Buch geworden.

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