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Veröffentlicht am 06.05.2024

Jetzt werden sie Estela zuhören!

Mein Name ist Estela
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Die Haushälterin befindet sich in einem Raum. Dort legt sie Zeugnis ihres Lebens ab. Estela kam als Haushälterin ins Haus eines reichen Ehepaares, als die Frau gerade schwanger wird und ein Mädchen geboren ...

Die Haushälterin befindet sich in einem Raum. Dort legt sie Zeugnis ihres Lebens ab. Estela kam als Haushälterin ins Haus eines reichen Ehepaares, als die Frau gerade schwanger wird und ein Mädchen geboren wird. Sieben Jahre später ist das Mädchen tot und Estela sitzt in diesem Vernehmungsraum.

Das Leben der letzten Jahre, aus dem Estela erzählt, ist ein fast unsichtbares. Immer im Hintergrund, und doch essentiell. Sie kocht, sie bügelt, kauft ein, faltet die Wäsche, versorgt das Kind, betreut das Kind. Eine eigene Stimme hatte Estela all die Jahre nicht, auch dann nicht, wenn sie von diesem Kind drangsaliert wurde oder ihre Vorgesetzte sie hat spüren lassen, was sie von dem armen chilenischen Hausmädchen hält.
Immer wieder will Estela den Haushalt verlassen. Sie wollte ursprünglich nur eine Weile dort arbeiten, um genug Geld zu verdienen für ein angenehmes Leben gemeinsam mit ihrer Mutter. Erinnerungen an das Vergangene und Wünsche für das Zukünftige sind ihre Gesellschaft in diesem Haus, in dem die fremde Familie mit ihr nur am Rande zu tun haben will, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Nun, in diesem Vernehmungszimmer, spricht sie mit den Menschen hinter dem Spiegel. Sie beantwortet keine Fragen zur Sache, zum Tod des Mädchens. Erstmals seit vielen Jahren beansprucht Estela das Narrativ für sich, erzählt aus ihrer Perspektive, ungeschönt und frei, und wo kein gutes Haar an ihren Vorgesetzten ist, da lässt sie auch keins.
Es ist die Geschichte eines Lebens, geprägt durch Klassenunterschiede und fehlender Zugehörigkeit.

Alia Trabucco Zerán lässt in "Ich bin Estela" ihre Protagonistin mit eigener Stimme sprechen und sie die Abschweifungen wählen, die für sie und nicht die Autoritäten wichtig sind. Ein interessantes und wichtiges Buch!

Veröffentlicht am 06.05.2024

Soooo wichtig!

Frau, Leben, Freiheit
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Der gewaltsame Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini löst weltweit eine Welle der Proteste aus. Die Sittenpolizei hatte die junge Frau verhaftet, weil ihre Haare nicht ausreichend bedeckt waren. Im Gewahrsam ...

Der gewaltsame Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini löst weltweit eine Welle der Proteste aus. Die Sittenpolizei hatte die junge Frau verhaftet, weil ihre Haare nicht ausreichend bedeckt waren. Im Gewahrsam der Polizei wurde Jina so schwer verletzt, dass sie am 16. September 2022 ihren Verletzungen erlag.

Ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini veröffentlicht Marjane Satrapi eine Graphic Novel unter dem Wahlkampfslogan der politischen Arbeiterpartei: Frau Leben Freiheit.
In dieser Graphic Novel sind die Werke von siebzehn Künstler:innen vereint, deren Bilder ein Protest gegen die islamische Diktatur der Mullahs ist, unter deren Herrschaft keines der Geschlechter sich frei entfalten kann.
Nicht nur Jina Mahsa Aminis sinnloser Mord findet in diesem buch-/bildgewordenen Aufschrei Erwähnung. Sahar Chodayari, als das "blaue Mädchen" tragisch bekannt geworden, nachdem sie verbotenerweise als Mann verkleidet zu einem Fußballspiel ins Stadion gegangen ist; sie wurde verhaftet und wurde bis zur Verhandlung wieder freigelassen; Sahar wusste, was ihr drohte, sie verbrannte sich selbst - ihre Geschichte hat mich sehr berührt.

Alle in dieser Graphic Novel vereinten Werke sind komplett individuell und erzählen jede auf ihre Weise von den vielfältigen Schrecken, denen die Protestierenden ausgesetzt sind. Berührend und mit Kloß im Hals lesenswert war dieses Buch, das ich für den feministischen Buchclub im März gelesen habe.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Eine Freundschaft von Außenseitern

Boys Run the Riot 1
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Ryo ist ein Junge. Weil er aber als Mädchen geboren wurde, wird er auch als solches behandelt. Vor allem in der Schule stößt er mit Versuchen, seine eigene eigene Identität zu finden, immer wieder an die ...

Ryo ist ein Junge. Weil er aber als Mädchen geboren wurde, wird er auch als solches behandelt. Vor allem in der Schule stößt er mit Versuchen, seine eigene eigene Identität zu finden, immer wieder an die Grenzen der Erwartungen.
Und dieser eine Morgen in der Schule ändert alles. Denn am Nachbartisch sitzt ab heute Jin auf. Unangepasst taucht er auf und erregt Ryos Bewunderung, denn von Kopf bis Fuß, von seiner Frisur über Piercings bis zu seinen Klamotten verkörpert der lässige Sitzenbleiber alles, was der Transjunge gerne wäre. Eine zufällige Begegnung in ihrer Freizeit besiegelt die Freundschaft der beiden, als Jin Ryo fragt, ob sie nicht ein Klamottenlabel zusammen gründen wollen. Die zwei völligen Unbekannten starten durch, um sich einen Namen zu machen.

Eine Freundschaftsgeschichte deluxe! In Japan gibt es ein Sprichwort:
出る杭は打たれる。 Deru kugi wa utareru. Der hervorstehende Nagel wird eingeschlagen.
Die Gemeinschaft und Angepasstheit gilt in Japan alles. Darunter leidet Ryo, der sich nicht in seine zugedachte Rolle fügen kann. Was macht man, wenn die Gesellschaft einen nicht akzeptiert? - Man gründet eine eigene. Und so beginnt diese vierbändige Manga-Reihe für mich, und jetzt muss ich ganz schnell zusehen mir die anderen drei Bände zu besorgen!

Veröffentlicht am 18.02.2024

Ein ganz, ganz tolles Buch für Kinder UND Erwachsene

Himmelwärts
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«Da ist ein Loch in der Welt, das genau Mamas Konturen hat.»

Toni hat eine große „Vermissung“, denn sie hat ihre Mutter verloren. Aus diesem Grund zelten sie und ihre beste Freundin YumYum im Garten, ...

«Da ist ein Loch in der Welt, das genau Mamas Konturen hat.»

Toni hat eine große „Vermissung“, denn sie hat ihre Mutter verloren. Aus diesem Grund zelten sie und ihre beste Freundin YumYum im Garten, um mithilfe eines selbstgebauten kosmischen Radios Kontakt zu Tonis Mama aufzunehmen. Mit Unmengen an Snacks und YumYums geballten Wissen übers Weltall nehmen sie das Radio in Betrieb und kriegen statt Tonis Mutter eine waschechte Astronautin an die Strippe. Doch zu keinem Zeitpunkt kommt Enttäuschung darüber auf, Tonis Mutter nicht erreicht zu haben. Die Astronautin Zanna erzählt den Mädchen vom All-Tag (pun intended!) und beantwortet Tonis brennende Frage, was der Himmel eigentlich ist. Zanna gibt den beiden Mädchen, die von der Vergangenheit getrieben den Kontakt aufgebaut haben, einen Blick voraus in die Zukunft und hinterlässt einen Berg an Zuversicht und Freude.

Die inbrünstige Freundschaft zu Yumyum bildet einen blühenden Kontrast zu den Erinnerungen Tonis an ihre Mutter und deren traurigen Tod. Die abwechslungsreiche Erzählweise, die einfallsreichen Illustrationen und auch visuellen Spielereien mit dem Text mildern das ernste Thema des Buches ab, ohne ihm die Relevanz zu nehmen. Karen Köhler hat ein ganz zauberhaftes Buch geschrieben, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu berühen und begeistern in der Lage ist.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Ein Einblick in eine verborgene Welt

Sex-Workers
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In letzter Zeit habe ich mehr und mehr Lust auf Bildbände, und wie die meisten habe ich mir auch diesen hier antiquarisch besorgt.
Tim Oehler hat für ein Fotoprojekt Sexarbeitende besucht. Sexarbeiter:innen, ...

In letzter Zeit habe ich mehr und mehr Lust auf Bildbände, und wie die meisten habe ich mir auch diesen hier antiquarisch besorgt.
Tim Oehler hat für ein Fotoprojekt Sexarbeitende besucht. Sexarbeiter:innen, Stripper:innen, Masseur:innen, Frauen wie Männer und Transpersonen. Jede:n von ihnen lässt er mit einem Portrait und Text/Gedanken zu Wort kommen. Sowohl an ihrem Arbeitsplatz in Bordellen, BDSM-Studios, Massagestudios, Laufhäusern oder Stripclubs als auch in ihren Freizeithabitaten hat er Fotos mit ihnen gemacht und in diesem Bildband vereint. Kontraste, die größer nicht sein könnten und doch zusammen gehören wie jeder Feierabend zur berufstätigen Person. Und zeigt damit, dass Sexarbeit auch Arbeit ist. Care-Arbeit auf einem anderen Level.

Der Bildband ist wunderschön gestaltet, das fängt bereits im Außen an. Eingebunden in lilafarbenen Samt will ich beim Betrachten und Lesen das Buch gar nicht aus der Hand legen. Das Konzept Oehlers gefällt mir unglaublich gut. Auf einer Doppelseits jeweils Gedanken/Text und Portraits einer Person nebeneinander. Die Porträts immer im gleichen Stil; dunkler Hintergrund, die Person beleuchtet in Lila- und Pinktönen. Auf den Folgeseiten die jeweilige Person in ihren Arbeitsräumen. Dann die Person in ihren privaten Umfeldern, bunt wie das Leben selbst. Die Gedanken der vorgestellten Personen sind vielfältig, doch eins eint sie; der Wunsch, nicht mehr stigmatisiert und ihre gewählte Arbeit nicht tabuisiert zu werden.

Ich stelle demnächst gerne noch andere Bildbände vor, in die ich in der letzten Zeit hineingeblättert habe!