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Veröffentlicht am 19.02.2024

Leseempfehlung für feinfühlige Menschen!

Leuchtfeuer
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Wie kommt man schnell und preiswert nach Amerika? Klar, mit einem Buch! Dani Shapiro versetzte mich in die Mittelklasse einer amerikanischen Kleinstadt, mit all ihren Nöten und Tücken, die das Eheleben, ...

Wie kommt man schnell und preiswert nach Amerika? Klar, mit einem Buch! Dani Shapiro versetzte mich in die Mittelklasse einer amerikanischen Kleinstadt, mit all ihren Nöten und Tücken, die das Eheleben, die Arbeit und das Kindsein so mit sich bringen. Das alles überschattende Drama vom 27. August 1985 stellt für die Familie Wilf das Ende des gewohnten Lebens dar, nichts ist nach einem Autounfall und dem durch die Kinder der Familie, Sarah und Theo, verursachten Tod der Schulfreundin Misty noch, wie es war. Mit eisernem Schweigen versuchen alle Beteiligten, das Unheil zu bannen.
Ich erinnere mich an die Hysterien zum Jahrtausendwechsel selbst sehr gut, ich hatte die Aufgabe, Hunderte PCs per Installationsdiskette auf das Jahr 2000 vorzubereiten. Das ist ein Klacks im Gegensatz zum unerwarteten Einsatz von Dr. Wilf, der dem Kind der Nachbarn auf dem Küchenboden den Weg ins Leben weist. Das ist der kleine Waldo.
Im Verlauf der Geschichte lernt man dann 2010 den unterdessen elfjährigen Waldo kennen, den auf ganz besondere Weise die Sterne faszinieren. Er kommt mit Dr. Benjamin Wilf, nun Mitte 70, zu einem nächtlichen Treffen zusammen, das sehr poetisch beschrieben wird. Dass Waldo für seinen Ausflug bei Nacht von seinen Eltern nicht gelobt wird, liegt auf der Hand. Der fitnessbesessene Vater liebt sein Kind zwar, wird aber sofort wütend, die Mutter, immer mit etwas Wein im Kopf, ist auch keine Hilfe fürs empfindsame Kind. So kommt es kurze Zeit später zu folgenschweren Verwicklungen.
Waldo verlässt sein Zuhause ein zweites Mal, Mimi Wilf entwischt aus dem Pflegeheim. Im Schneetreiben werden sich beide begegnen. Dass Mimi Wilf selbst kurz vor ihrem Tod fast nur einen Gedanken in ihrem alzheimerkranken Kopf hin- und herbewegt, hat mich sehr berührt. Theo, immer wieder Theo ist es, an den sie denkt. Er ist und bleibt ihr Ein und Alles. Der kleine, hochintelligente und hochsensible Waldo beschützt sie in ihren letzten Minuten, als wäre er ihr Theo.
Die letzten Episoden springen noch einmal zurück ins Jahr 1985, zum Tag des tödlichen Unfalls im Garten der Wilfs. An diesem Tag gab es den ultimativen "Point Of No Return" in der Familie Wilf, die Leben der vier zersprangen in zwei Teile, in zwei Seelenzustände: glücklich und unglücklich. Jeder bewältigt die (im Buch beschriebenen) kommenden 25 Jahre auf seine Weise. Sarah braucht unendlich lange, um sich, aber auch der Öffentlichkeit ihre Schuld einzugestehen. Theo versucht, nach fünf Jahren Familienabstinenz, seine Schuld auf seine Weise abzuarbeiten, Benjamin findet in Waldo sein Lebenselixier und Mimi, bevor sie in Alzheimer versinkt, verliert die Lebensfreude ohne ihren Theo. Hinzu kommen die Probleme der Familie Shenkman, jedes der drei Familienmitglieder immer im harten Kampf mit sich und der Welt da draußen. 2020 wird Waldo ein Student sein, immer noch befreundet mit seinem Ins-Leben-Bringer Benjamin, immer noch in Distanz zu seinem Vater, der versucht, sich ohne seine verstorbene Ehefrau über Wasser zu halten.
Am Schluss weiß man, es gibt eine leuchtende Zukunft, die jeder an einem bestimmten Tag in seinem Leben sehen kann und die doch nicht so in Erfüllung geht, wie man es sich erträumt hat. Trennungen, Kontaktabbrüche, Todesfälle, Trauer, Schweigen, Schuld, Vergeben, Vergessen, aber auch Liebe und Glück muss man aushalten können. Das macht das Leben lebenswert.
Es gab schon Bücher, in denen mich Zeitsprünge störten, in diesem ist das anders. Ich las es wie etwas, das Vergangenheit ist und durch den Kopf geistert, nicht in der richtigen zeitlichen Abfolge, aber immer mit den richtigen Übergängen. Ja, man kann im Kopf an zwei Jahrzehnte gleichzeitig denken, sie miteinander verknüpfen. „Alles ist miteinander verbunden.“ (S. 217)
Der Sprachstil ist angenehm, nicht aufdringlich, nicht Aufmerksamkeit heischend, sondern eher poetisch und wachsam. Mir gefällt das.
Das inhaltlich eher unpassende Cover ist zwar mit den pastellfarbenen Blüten ein Hingucker, aber ich finde es etwas kitschig und verspielt. Das amerikanische Original trifft den Kern der Geschichte schon eher – nachtblau, leuchtende Sterne, ein riesiger Baum, zwei kleine Menschen am Fuß des Baums...als würden sich Benjamin Wilf und Waldo dort treffen und das Weltall erkunden.
Die Typografie des Buches gefällt mir sehr, sie gibt dem Leser Halt in den vielen Zeitenwechseln, die Dani Shapiro bereithält. Der großzügige Satzspiegel, die Schriftwahl, auch die für mich als Brillenträger gut lesbare Schriftgröße sowie die Wahl des Papiers runden diesen Eindruck ab.
Fazit: ein hochemotionaler Roman, der eine Zeitspanne von 50 Jahren und zwei Familien umfasst, die man so leicht nicht wieder vergessen kann. Es gäbe viele Einzelheiten, die noch erwähnenswert wären in dieser Rezension, aber nichts geht über das Selbstlesen und Selbstempfinden.

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Veröffentlicht am 08.02.2024

Spannender Start für Leo Asker

Stille Falle
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Anders de la Motte bin ich zuletzt bei "Der Tod macht Urlaub in Schweden" begegnet, das war ein Cosy-Krimi, und ja, den habe ich abgebrochen. Nun also "Stille Falle" - das ist eine ganz andere Hausnummer! ...

Anders de la Motte bin ich zuletzt bei "Der Tod macht Urlaub in Schweden" begegnet, das war ein Cosy-Krimi, und ja, den habe ich abgebrochen. Nun also "Stille Falle" - das ist eine ganz andere Hausnummer! Der Krimi gefällt mir von der ersten Seite an, die Charaktere werden gut beschrieben, die Spannung steigt.
Es verschwinden zwei, die ihr Herz an sogenannte Lost Places verloren haben. Schon nach ein paar Seiten ist jedem klar, ein gefährliches Hobby. Leo Asker, Kriminalkommissarin, gerät mit Vorgesetzten und Kollegen aus privaten Gründen in Konflikt. Und ehe sie recht angefangen hat zu recherchieren, ist sie auch schon ins Souterrain versetzt. Dort gibt es ein Dezernat, das sehr an den Keller bei Jussi Adler-Olsen und an sein Sonderdezernat Q erinnert. Aber sei's drum, de la Motte beschreibt sein unterirdisches Dezernat und das Personal so wunderbar, da stört die Ähnlichkeit nur einen kurzen Moment. Leo also wird ersatzweise die Chefin für die nicht in die Obergeschosse der Malmöer Polizei passenden Fälle. Und bald tauchen erste Hinweise auf, dass auch in ihrer Abteilung das Verschwinden von Smilla und ihrem Freund MM nicht unbeachtet bleibt.
Gekonnte Szenenwechsel, ungewöhnliche Einfälle und ein gut lesbarer Schreibstil machen aus "Stille Falle" ein gänsehauterzeugendes Lesevergnügen.

StilleFalle

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Veröffentlicht am 01.02.2024

Eiserner Überlebenswille hat die Eltern gerettet

Hitler, Stalin, meine Eltern und ich
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Daniel Finkelstein hat ein gehörig Maß an Schicksal und Erinnerungskultur, dass er schultern muss. Er lebt in Großbritannien, aber seine Wurzeln sind breit gefächert: Der Vater Ludwik stammt aus Lemberg ...

Daniel Finkelstein hat ein gehörig Maß an Schicksal und Erinnerungskultur, dass er schultern muss. Er lebt in Großbritannien, aber seine Wurzeln sind breit gefächert: Der Vater Ludwik stammt aus Lemberg (der Stadt mit den vielen Namen und Herrschern), seine Mutter Mirjam aus Berlin. Während des Zweiten Weltkrieges erleben und überleben die Eltern sowohl den Holocaust als auch Stalins Regime. Insbesondere die Lebensgeschichte der Großeltern wird im Buch ausführlich beschrieben. Großvater Alfred Wiener, einen bekannter jüdischer Publizist und aktiver Gegner der Nazis, und seine Aktivitäten hat Daniel Finkelstein stark im Fokus. Aber auch die dramatischen Ereignisse in Lemberg, verbunden mit dem Tod des Großvaters Finkelstein, bestimmen seine Recherchen. Der Autor geht sicher davon aus, dass nicht alle seine Leser mit der Geschichte vertraut sind, vieles beschreibt er aus meiner Sicht zu ausführlich. Interessanter sind für mich die persönlichen Erlebnisse der Familienmitglieder, die Furchtbares und eigentlich Unvorstellbares erdulden und erleiden müssen. Sei es die "Verbannung" der Großmutter mit Finkelsteins Vater Ludwik, damals ein Zehnjähriger, in den unwirtlichen Kaukasus oder die Verfolgung und Deportation seiner Mutter, Tanten und Großmutter. All das ist heute schwer zu verkraften, ich gehöre zur Nachkriegsgeneration wie auch Daniel Finkelstein. Ich habe mit ihm gemeinsam, dass er alles, aber auch wirklich alles über seine jüdischen Wurzeln und die Schicksale jedes einzelnen erfahren will. Dass es ihm nicht leicht fällt, auch Passagen mit langen Erklärungen wegzulassen, kann ich verstehen. Für die Lesbarkeit dieses Buches mit über 500 Seiten wäre es besser gewesen.
Fazit: Eiserner Wille und eine nicht unterzukriegende Hoffnung haben die Eltern von Daniel Finkelstein überleben und weiterleben lassen. Ein lesenswertes Stück Geschichte.

HitlerStalinmeineElternundich

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Veröffentlicht am 24.01.2024

Eine ungeheuer bewegende Geschichte

Das Philosophenschiff
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Anouk Perlemann-Jakob, 100 Jahre alt, berühmte Architektin und man würde umgangssprachlich sagen "mit allen Wassern gewaschen", möchte ihre Geschichte endlich auf Papier sehen. Für eine Biographie erscheint ...

Anouk Perlemann-Jakob, 100 Jahre alt, berühmte Architektin und man würde umgangssprachlich sagen "mit allen Wassern gewaschen", möchte ihre Geschichte endlich auf Papier sehen. Für eine Biographie erscheint sie ihr Geschichte jedoch zu unglaubwürdig und so bittet sie einen Schriftsteller, aus ihren Erzählungen einen Roman zu machen. Schwankend zwischen Ehrgeiz und Ehrfurcht hört er ihr fasziniert zu. Ja, er wird den Roman schreiben, aber was ihm bevorsteht, das ahnt er nicht.
Jetzt, im Jahr zwei nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, ist es ein sehr bedrückendes Gefühl, an das alte St. Petersburg, die bolschewistische Diktatur, die Unterdrückung und Verjagung der "Intelligenzija" zurückzudenken. Was wird aus dem geliebten Russland werden?
Aunouk hat als Kind und Jugendliche so viel Unrecht und Hass erfahren, mit 100 Jahren erscheint sie abgeklärt und weise. Aber sie ist auch verletzlich, eine einzige Frage, die eine wunde Stelle trifft, bringt sie zuweilen aus dem Gleichgewicht. Spricht man von Schicksal, wenn man so eine Lebensgeschichte hört und aufschreiben soll? Schwer zu sagen, Anouk hat ihren schicksalhaften Weg fast vollendet. Ich erzähle hier keine Einzelheiten, jeder Leser sollte sich selbst in diese Geschichte verlieben, ich jedenfalls habe es getan.
Nach "Zwei Herren am Strand" ist auch dieser Roman von Michael Köhlmeier ein tiefgründiges und philosophisches Werk, das unbedingt noch einmal gelesen werden will! Ein wunderbares Buch!

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Veröffentlicht am 29.12.2023

Fünf Stunden, die unter die Haut gehen

Das späte Leben
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Bernhard Schlink sucht sich nie leichte, oberflächliche Themen für seine Bücher. Ob der Vorleser oder Olga, ob die frühen Selb-Romane, alles geht in die Tiefe, unter die Oberfläche der Protagonisten und ...

Bernhard Schlink sucht sich nie leichte, oberflächliche Themen für seine Bücher. Ob der Vorleser oder Olga, ob die frühen Selb-Romane, alles geht in die Tiefe, unter die Oberfläche der Protagonisten und unter die Oberfläche der Leser.
Dieser Roman geht beinahe noch tiefer, es macht betroffen, mit Martin, dem wichtigsten Protagonisten dieses Buches, einen sehr endlichen Weg zu gehen.
Martin, Mitte 70, später Vater des sechsjährigen David, Ehemann von Ulla, die wohl 30 Jahre jünger ist als er, erhält die tödliche Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Keine Aussicht auf Heilung oder Lebensverlängerung, ob er die Einschulung des Sohnes erleben wird, steht in den Sternen. Der Schock sitzt tief, bei allen dreien, auch der Junge beginnt zu begreifen, dass er nur noch einen Vater auf Zeit hat. Ulla möchte alles richtig machen, Martin auch, wie hinterlässt man etwas für sein Kind, ohne zu verletzen, zu kränken, sich selbst zu überhöhen.
Noch bringt Martin David in den Kindergarten, holt ihn ab, spielt mit ihm, noch empfindet er Begehren für seine Frau, hat Freude an gemeinsamen letzten Unternehmungen. Aber die Zeiger der Lebensuhr drehen sich schnell, schneller als gedacht. Und es ist nicht alles, wie es scheint, in ihrer Ehe.
Martin hat bis zum Schluss Prüfungen zu überstehen, die fast zu viel sind für ihn, aber immer bleibt er am Ende doch ruhig und verantwortungsvoll. Mit dieser Ehefrau Ulla, die manchmal sehr hart scheint, ist das nicht so einfach. Für David ist er schlimm-müde-krank. Sehr traurig. Die Betrachtung von Sterben und Tod mag für viele Leser oder Hörer sehr unangenehm, vielleicht zu eindringlich wirken, Ulrich Nöthen macht es dem Hörer etwas leichter mit seiner einfühlsamen Sprechweise. Dafür war ich am Ende am meisten dankbar.
Fazit: Tapferes Lebensende eines Todkranken, der nicht jammert, aber der es sehr bedauert, sein Kind nicht aufwachsen sehen zu können. Empfehlenswert.

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