Lil: Ein fulminantes Plädoyer gegen die Unterdrückung der Frauen im New York des 19. Jahrhunderts
Lil«Bist du hier, gehörst du hierher und kommst nur raus, wenn du nicht mehr rauswillst» sagte eine, «Kannst jede Behandlung brauchen, weil du alle Krankheiten hast, die sie dir anbieten» eine andere.
Buchzitat ...
«Bist du hier, gehörst du hierher und kommst nur raus, wenn du nicht mehr rauswillst» sagte eine, «Kannst jede Behandlung brauchen, weil du alle Krankheiten hast, die sie dir anbieten» eine andere.
Buchzitat (S. 71)
Markus Gasser entführt uns mit seinem Roman "Lil" in das New York des 19. Jahrhunderts, wo die Protagonistin Lillian Cutting sich mit unerschütterlichem Willen gegen die rigiden gesellschaftlichen Konventionen auflehnt. Der Autor, Essayist und Universitätsdozent präsentiert nicht nur eine mitreißende Geschichte, sondern auch eine eindringliche Gesellschaftskritik, die die Leser:innen tief in die düsteren Abgründe einer misogynen Epoche führt. Er selbst ist bekennender Feminist.
Die Geschichte folgt der erfolgreichen Unternehmerin Lillian Cutting, die sich gegen alle Widerstände behauptet und dabei New York gegen sich aufbringt. Nach dem Tod ihres Mannes Chev versucht ihr Sohn Robert, sie mit Hilfe eines Psychiaters zu entmündigen. Doch Lil kämpft gegen eine Gesellschaft an, die Eigenständigkeit (der Frau) als Krankheit betrachtet. Markus Gasser entfaltet eine universelle Erzählung über den Kampf um Freiheit, Würde und das Recht auf den eigenen Lebensentwurf.
Gassers Erzählstil ist von Anfang an packend und einzigartig. Sein direkter, humorvoller Schreibstil hat mich sofort begeistert, während die Charaktere mit einer Mischung aus Überzeichnung und Realismus lebendig werden. Das Cover, geheimnisvoll und ansprechend, spiegelt die Atmosphäre des Romans wider.
Die Geschichte von Lil ist nicht nur eine individuelle Rachegeschichte, sondern ein eindringliches Porträt der damaligen Frauenrolle. Gasser konfrontiert die Leser:innen mit dem toxischen Frauenbild des 19. Jahrhunderts, das leider bis heute seine Schatten wirft. Lil ist eine Ausnahmeerscheinung, die sich in einer männerdominierten Welt behauptet, was sowohl bewundernswert als auch erschreckend realitätsnah dargestellt wird. Die Misogynie, der Lil und andere Frauen begegnen ist schwer zu ertragen, aber genau darin liegt die Stärke des Romans. Gasser schafft es, die Empörung der Leser:innen zu wecken und gleichzeitig eine Botschaft der Ermächtigung zu vermitteln. Die Racheakte von Lil und ihren Verbündeten gegen die frauenverachtende High Society sind gleichermaßen erhebend wie verstörend.
Die Struktur des Romans, die zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart wechselt, verleiht der Geschichte eine zusätzliche Tiefe. Die Verbindung zwischen Lil und ihrer Nachfahrin Sarah, die durch einen wiederentdeckten Brief hergestellt wird, fügt dem Roman eine zeitlose Dimension hinzu. Ein besonderes Highlight ist der sarkastische Ton, mit dem die Erzählerin Sarah ihre Familiengeschichte präsentiert. Gassers Humor ist beißend und klug, was dem Buch eine einzigartige Atmosphäre verleiht. Die Dinnerparty-Szene, in der Gäste als Tiere metaphorisiert werden, ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch eine subtile Kritik an der Dekadenz der High Society - eine meiner Highlight Szenen des Buches.
"Lil" ist nicht nur ein Roman über Rache, sondern auch über Gier, Frauenrechte, und den Kampf gegen gesellschaftliche Normen. Die detaillierten Beschreibungen von Lil's Erfahrungen in der Nervenklinik und während des Gerichtsprozesses sind erschütternd. Die Darstellung von Fairwell als Quacksalber und Frauenfeind ist beängstigend realistisch. Die Offenlegung der Frauenfeindlichkeit durch angeblich wissenschaftliche Erkenntnisse ist verstörend, aber notwendig, um die Absurdität dieser Überzeugungen zu entlarven. Markus Gasser gelingt es, mit "Lil" eine universelle Geschichte zu erzählen, die auch heute noch relevante Themen wie Rassismus, Frauenrechte und den Kampf gegen toxische Männlichkeit anspricht. Der Roman ist literarisch anspruchsvoll, fesselnd und regt zum Nachdenken an.
Insgesamt verdient "Lil" ohne Zweifel eine Bewertung von 5 von 5 Sternen. Der Roman überzeugt nicht nur durch seine packende Handlung und den außergewöhnlichen Schreibstil, sondern auch durch die tiefgreifende Auseinandersetzung mit zeitlosen gesellschaftlichen Problemen auf seine ganz eigene Art.
«Ist es ein Mann, meine Damen und Herren, oder eine Frau oder beides oder keines von beidem oder etwas dazwischen? Oder etwas Drittes oder Viertes? Gibt es das über- haupt? Oder ist das die falsche Frage? Das entscheiden Sie, meine Damen und Herren, Sie und nur Sie allein!» - Buchzitat (S. 237)
Bei dem Buch handelt es sich um ein Rezensionsexemplar. Dies hat die Bewertung jedoch nicht beeinflusst.