Klug, gesellschaftskritisch und mit einer guten Portion Zynismus - ein wahrer Lesegenuss!
LilLil von Markus Gasser kam für mich überraschend daher. Der Plot in Klappentext und Leseprobe klang in seiner historischen Einbettung zunächst einfach interessant. In seiner Gesamtheit hat sich für mich ...
Lil von Markus Gasser kam für mich überraschend daher. Der Plot in Klappentext und Leseprobe klang in seiner historischen Einbettung zunächst einfach interessant. In seiner Gesamtheit hat sich für mich der Roman dann zu einem echten, ersten Highlight im noch jungen Lesejahr entwickelt und gesteigert. Wie kam es dazu?
Zunächst zum Plot: Aus der Perspektive der Journalistin Sarah Cuttings, werden wir in die Geschichte ihrer Vorfahrin Lillian Cutting eingeweiht. Lillian Cutting, klug, emanzipiert und erfolgreiche Geschäftsfrau im Gilded Age der USA, vereint mit diesen Eigenschaften alles, was eine Frau nach herrschender Meinung nicht ist und sein sollte. Damit ist sie nicht nur suspekt, sondern auch eine Gefahr, nicht zuletzt für ihren Sohn Robert, der nach dem Tod des Vaters das Erbe für sich beansprucht. Die verbreitete Misogynie in Medizin und Gesellschaft macht es ihm leicht, seine Mutter in die Psychatrie zu verweisen und sich ihrer so zu entledigen. Am Schicksal Lillian Cuttings zeigt der Autor auf wie unter dem Deckmantel vermeintlicher Wissenschaft nicht mehr als Scharlatanerie, Missbrauch und Gewalt ausgeübt und in den Dienst gesellschaftlicher Diskriminierung gestellt werden. Dabei schwingt auch bis in die Gegenwart eine Kritik an unwissenschaftlichen Methoden und Fehldiagnosen mit.
Vorbehalte hat diese Gesellschaft jedoch nicht nur gegenüber Frauen, sondern eigentlich allen Menschen gegenüber, die anders sind als der erwählte Kreis und von seinem Normenkorsett abweichen. Rassismus, Klassismus, Ableismus, Antisemitismus und die Unterdrückung von Frauen gehen hier eine unheilvolle Symbiose ein, die von den Protagonist:innen der Upper Class in einer Selbstverständlichkeit gelebt und reproduziert werden.
Aufgelockert wird die Erzählung immer wieder durch das Zwiegespräch Sarahs mit ihrem Hund Miss Brontë. Was zunächst irritiert, entwickelt sich als kurzweiliger Dialog, der die Geschichte um Lillian Cutting humorvoll bereichert. Immer wieder begegnen uns im Roman fast märchenhafte, magische Elemente und Anspielungen, die einen willkommenen Kontrast zum düsteren Geschehen setzen, und gleichzeitig in parabelhafter Weise die Erzählung ergänzen.
Der Roman besticht zum einen mit der geschickt arrangierten Geschichte um Lillian Cutting und deren Einbettung in ein gesellschaftskritisches Porträt ihrer Epoche. Was ihr widerfährt liest sich fast wie ein Krimi, man leidet mit der Protagonistin, empört sich mit ihr angesichts der gesellschaftlich tief verwurzelten und verbreiteten Misogynie, und ja, man empfindet auch Genugtuung mit ihr, wenn sie ihren Peiniger:innen gestärkt gegenübertritt.
Neben der Geschichte als solches hat mich jedoch auch die Erzählweise Markus Gassers vollkommen eingenommen und begeistert. Es ist zum Teil bitter-böser Humor mit dem der Autor Sarah Cutting die Geschichte erzählen lässt, anders wären die vermutlich leider allzu realistischen Grausamkeiten der Geschichte kaum zu ertragen. Dies ist auch insofern klug gewählt, da nur wenn Missstände als solche in aller Deutlichkeit benannt werden, Veränderung möglich wird und wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln können.
Lil ist ein Roman, der mit Übersteigerung und ein bisschen Magie, der Realität vielleicht gerade am nächsten kommt und für mich in seiner Grundaussage auch ein mahnendes Plädoyer für die Anerkennung von menschlicher Vielfalt in allen Variationen ist.
Wer mit Lil eine sensible Romanbiografie erwartet, wird eventuell enttäuscht werden. Belohnt wird der:die Leser:in jedoch mit einem klug erzählten und zuweilen bitter-bösen Sittengemälde einer dekadenten und zutiefst frauenfeindlichen Gesellschaft! Für mich ein echtes Lesehighlight!