Gleichzeitig genial und schwer auszuhalten
LilIch habe wahrscheinlich noch nie ein literarisches Highlight gelesen, das dermaßen unerträgliche, mir körperlich weh tuende Szenen enthält. Obwohl hier sehr bildhaft Abscheulichkeiten der Menschheit herausgearbeitet, ...
Ich habe wahrscheinlich noch nie ein literarisches Highlight gelesen, das dermaßen unerträgliche, mir körperlich weh tuende Szenen enthält. Obwohl hier sehr bildhaft Abscheulichkeiten der Menschheit herausgearbeitet, beispielsweise Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen beschrieben werden, bin ich begeistert von Grassers Roman. Wie kann das sein?
Markus Grasser beschönigt nicht. Er setzt die Gewalttaten in den Kontext einer Gesellschaft um 1880 und analysiert das damalige Rollenbild. Schließlich bewegen wir uns in einem Umfeld, wo unliebsame Damen, die sich nicht wie gewünscht, devot und angepasst verhalten, als abnormal erklärt und ganz schnell in eine Nervenklinik eingewiesen werden. So eine Dame ist Lillian „Lil“ Cutting, eine Eisenbahnmagnatin mit unkonventionellem Führungsstiel und für ihre Zeit angeblich zu kreativem Investitionsmanagement. Da sie lieber rund um die Uhr an ihrem Unternehmen arbeitet, statt sich auf Partys zu amüsieren, verstößt sie gegen sämtliche gesellschaftlichen Konventionen und hat über die Jahre die gesamte New Yorker High Society gegen sich aufgebracht. Nach dem Tod ihres Gatten nutzt der eigene Sohn die Möglichkeiten des Systems, um Lil in einer Anstalt weg zu sperren.
Die literarische Umsetzung der Entsetzlichkeiten ist genial. Verpackt in eine gehobene Sprache mit teils selten verwendetem Vokabular entsteht eine maximal kritische Auseinandersetzung mit der damaligen New Yorker Gesellschaft. Durch gezielt gesetzte bissige Spitzen wirkt diese Kritik auch in das Hier und Jetzt hinein. Aktuelle Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Misogynie sind passend mit der Handlung verwoben. Die Aufteilung in zwei zeitlich auseinander liegenden Handlungssträngen lässt die Lesenden dieses rasanten Romans inne halten, vorübergehend zur Ruhe kommen, bevor sie von neuerlichen Grausamkeiten überrollt werden.
Dem in mir wohnenden Bösen hat natürlich ganz besonders auch der bereits im Klappentext angekündigte Rachefeldzug gefallen. Das Zusammenspiel lief hier zwar für meinen Geschmack insgesamt etwas zu glatt. Trotzdem musste der Rachedurst gestillt werden.
Insgesamt ein sprachlicher Hochgenuss, der einen zum Lächeln zwingt, wenn es eigentlich nicht angebracht ist.