Ein sehr persönlicher Text, der unter die Haut geht
Maman. Mama. Wenn jemand Mama sagt, horche ich auf. Fühle mich angesprochen. Spüre in mich hinein, in diesen Raum, den sie bewohnt. Wenn jemand Mama sagt, überfällt mich Traurigkeit.
Als meine Mutter ...
Maman. Mama. Wenn jemand Mama sagt, horche ich auf. Fühle mich angesprochen. Spüre in mich hinein, in diesen Raum, den sie bewohnt. Wenn jemand Mama sagt, überfällt mich Traurigkeit.
Als meine Mutter vor 5 Jahren starb war sie Anfang 60, ähnlich alt wie auch Sylvie Schenks Mutter Renée. Nicht mehr jung, aber doch so früh, dass ich mich um das letzte gemeinsame Stück des Weges betrogen fühle. Es gibt vieles, was ich nicht über sie weiß, nie wissen werde. Was ich weiß: Meine Mutter war das Zentrum unserer Familie. Es ist heute noch so leer, als sei sie gerade erst gegangen. Wir Zurückgelassenen kreisen um diesen Hohlraum, ihn zu überwinden oder gar neu zu füllen will uns nicht gelingen. Was ich auch weiß: Dieses Hadern mit Angelegenheiten die nicht mehr besprochen, geklärt, erklärt werden können, die ich nur noch mit mir alleine ausmachen kann, irgendwie annehmen muss, das bleibt. Ein ewiger Mangel an etwas für mich Undefinierbarem, Essentiellem. Die Suche nach meiner Mutter, nach dem Kern ihres Wesens, beginnt zwangsläufig wo ich mich selbst und mein Innerstes erforsche, mein Frausein, mein Muttersein, meinen Ursprung.
Sylvie Schenks Annäherung an ihre Mutter ist ehrlich und ungeschönt, der kritische Blick einer emanzipierten Tochter; ein Blick, der ganz ihr eigener ist, den keins ihrer vier Geschwister teilt. Dem mitunter zu große Strenge vorgeworfen wird. Ich kenne diesen Blick gut und auch die Differenz der Wahrheiten, dessen was sich für jeden einzelnen wahr anfühlt. Denn hat nicht ein jedes Kind seine ganz eigene Sicht auf diesen Menschen, zutiefst individuelle Erfahrungen gemacht, Liebkosungen und Kränkungen erlebt? Sylvie beschreibt hier eine sich entziehende Mutter, die Körperlichkeiten verabscheute, abgewandt war, nicht (an)greifbar. Sich nicht liebende Eltern, eine arrangierte Ehe, in der sich beide arrangierten. Klaffende Lücken in der Vergangenheit, Unklarheiten die eine innere Unruhe hervorrufen. Vererbte Traumata, Schicksale, die sich zu wiederholen scheinen, bis da wie zur Erlösung aller Flore ist, endlich, ein gewünschtes Kind. Ein sehr persönlicher Text, der unter die Haut geht, distanziert und dann wieder überraschend zart. Große Empfehlung!
„Meine Mutter entgleitet mir. Sie fließt mir davon, eine innere Blutung, ich muss versuchen, sie festzuhalten, sie wiederzufin-den. Ja, sie war erdrückt und entrückt. Unsicher. Unwissend. Es gibt Leute mit einem festen Kern, um den herum sind ihnen Fleisch und Geist gewachsen. Und es gibt Leute wie Maman, die eine Art schwebendes, undefiniertes Wesen haben. Wir sind alle vergänglich, sie aber war vergänglicher, fluider, ungreifbar. Sie hielt sich an der Türklinke fest, an der Teekanne, dem Strickzeug, dem Nähzeug, dem Einkaufskorb, dem Portemonnaie, den Kochtöpfen. Ihre Hände falteten Wäsche, stützten sich auf die Badewanne, in der die Wäsche eingeweicht wurde, sie öffneten Schränke […] Ihr Leben war ein Mosaik aus kleinen Handgriffen. Aber uns wird sie immer durch die Finger gleiten, eine sich entziehende Mutter.“ S. 115