Der Untergang Venedigs im Namen des Profits?
Mit einem düsteren Ereignis greift Autissier der Zukunft voraus – 2021 ist Venedig von einer Flutwelle zerstört worden.
Guido Malegatti hat das Unglück schwer verletzt überlebt und fährt Monate später ...
Mit einem düsteren Ereignis greift Autissier der Zukunft voraus – 2021 ist Venedig von einer Flutwelle zerstört worden.
Guido Malegatti hat das Unglück schwer verletzt überlebt und fährt Monate später mit einem Boot durch die zerstörte, menschenleere Stadt, vorbei an eingestürzten Palazzi, zertrümmerten Gondeln, die Seitenkanäle verstopfen, und einem Haufen Schrott, der einst der stolze Dogenpalast war. Er ist auf der Suche nach seiner Tochter, die seit dem Unglück verschwunden ist.
Zwei Jahre zuvor. Die Familie Malegatti liebt Venedig, jeder auf seine Weise. Guido, Sohn armer Bauern, hat es aus eigener Kraft geschafft, er ist erfolgreicher Bauunternehmer und Wirtschaftsrat im Stadtrat, hat Macht, Einfluss und Geld. Um die Brücken, Denkmäler und Kanäle instandzuhalten, will er noch mehr Touristen anlocken, noch mehr Mietwohnungen in Airbnbs umwandeln. Seine Frau Maria Alba entstammt der venezianischen Aristokratie, Venedig ist ihre einzige wahre Liebe und sie scheint teilnahmslos in der glanzvollen Vergangenheit verhaftet, ohne sich für die Nöte der Stadt zu interessieren. Ganz anders ihre Tochter Léa. Während des Architekturstudiums erkennt die Fragilität ihrer Stadt, die jedes Jahr um mehrere Millimeter sinkt. Sie erkennt aber auch, dass falsche politische Entscheidungen und fragwürdige Baumaßnahmen den Untergang beschleunigen. Als Umweltaktivistin macht sie auf die Probleme aufmerksam, will etwas verändern und überwirft sich mit ihrem Vater.
Autissier zeigt uns anhand vieler Fakten, wie schlimm es tatsächlich um die altersschwache, stolze Serenissima steht. Die Malgattis sind hier nur stellvertretend für die typischen Positionen, die wir Menschen im fortschreitenden Klimawandel einnehmen. Dass ihre Figuren dadurch sehr stereotyp geraten und Klischees bedienen, ist sicher der Kürze des Romans geschuldet.
Problematisch hingegen fand ich das Frauenbild, das sie zeichnet, ohne es zu reflektieren. Ich haderte auch immer wieder mit dem angestaubten auktorialen Erzähler. Was das Buch aber absolut lesenswert macht, sind die erschreckenden Fakten. Dieses einmalige sensible Ökosystem der Lagune, das Jahrhunderte lang funktionierte und nun in rasender Geschwindigkeit zerstört wird. Ob nun durch das umstrittene Flutsperrwerk MO.S.E., die verheerenden Folgen der Kreuzfahrtschiffe oder der schädliche Massentourismus und das damit anwachsende Müllproblem. Das alles beschleunigt den unausweichlichen Untergang Venedigs. Berechnungen von Wissenschaftlern zeigen, dass bereits Ende des Jahrhunderts die Stadt unter Wasser stehen wird. Das fühlt sich an, wie einem Menschen beim Sterben zuzuschauen.
Manche Bücher müssen literarisch nicht perfekt sein, können aber eine unvergessliche, berührende Wirkung haben – wenn man bereit ist, der Wahrheit endlich ins Auge zu blicken. Acqua Alta ist so ein Buch. Es schockiert, rüttelt wach, macht traurig, wütend und nachdenklich. Auch wenn sich Autissier jeder Wertung enthält, kommt man als Leser nicht umhin, mit sich zu ringen, will man anteilnahmslos zusehen, weiterhin Teil des schädlichen Massentourismus sein oder Teil der Lösung werden.
Ich habe viel recherchiert und einige Dokus dazu angeschaut. Mir war nicht bewusst, wie es um Venedig steht. Und es macht mich traurig, wie wir Menschen sehenden Auges die Stadt systematisch und wider besseren Wissens zerstören, statt sie für zukünftige Generationen zu bewahren.
Und das nächste Acqua Alta wird kommen – sehr bald sogar.