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Veröffentlicht am 19.03.2024

Leidvolle Geschichte

Mein Name ist Estela
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Dieses Buch ist eigentlich ein Verhör, eine Aussage zu einem schrecklichen Ereignis, oder auch ein Aufschrei und eine bittere Anklage. Die Haushälterin, Estela, erzählt wie es sich so lebte in der Familie ...

Dieses Buch ist eigentlich ein Verhör, eine Aussage zu einem schrecklichen Ereignis, oder auch ein Aufschrei und eine bittere Anklage. Die Haushälterin, Estela, erzählt wie es sich so lebte in der Familie von Don Juan Christóbal Jensen: Ein Arzt, eine Unternehmerin, ein kleines Mädchen, für das niemand Zeit hat.

Anfangs hatte ich ein bisschen zu kämpfen. Die Situation kommt einem gar zu klischeehaft vor. Die Herrschaften scheinen ignorante Snobs aus dem Bilderbuch zu sein. Estela hat wirklich nichts zu lachen in ihrer neuen Anstellung. Sie bekommt ein Zimmer, das eine bessere Abstellkammer ist und muss springen, wenn die Señora ruft. Auch das Mädchen muss funktionieren, Leistung bringen, den Erwartungen entsprechen und ansonsten nicht stören. Das haben sie gemeinsam, Estela und die bedauernswerte Kleine, die plötzlich tot ist. Wie konnte das passieren?

Estela ist verbittert und verzweifelt, das fühlt man hier in jeder Zeile. Ab und an redet sie sich fast in Rage. Nie hat jemanden ihre Meinung interessiert und jetzt, wo es zu spät ist, soll sie erzählen? Sie schmeißt uns die ganze Wahrheit vor die Füße, schonungslos.

Das Lesen dieses Buches ist leidvoll und nimmt sehr mit. Ich musste es tatsächlich öfter mal beiseite legen. Alles steuert auf ein schreckliches Finale zu, man ist gespannt, aber auch ein bisschen angstvoll.

Am Ende stellt man mit Erstaunen fest, das Fragen bleiben, aber auch eine Erkenntnis. Wir haben den leidvollen Alltag eines Hausmädchens erlebt, das für viele steht und uns spüren ließ, wie sich die Zwei-Klassen-Gesellschaft in Chile auswirkt, wie soziale Ungleichheit immer wieder laute Protestbewegungen in Gang setzt.

Ich bin sehr beeindruckt.

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Veröffentlicht am 15.03.2024

Hinterhältiges Verwirrspiel

Yellowface
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Das einzige Problem an diesem Buch ist eigentlich der irre Hype, der darum betrieben wird und dem im Grunde nichts gerecht werden kann.

Ich fand es gut, nur eben nicht sensationell. Und dann findet man ...

Das einzige Problem an diesem Buch ist eigentlich der irre Hype, der darum betrieben wird und dem im Grunde nichts gerecht werden kann.

Ich fand es gut, nur eben nicht sensationell. Und dann findet man ein Buch grundsätzlich gut und sucht trotzdem das Haar in der Suppe, weil man sich ja nicht vom Hype beeinflussen lassen möchte. Ein Dilemma, das im Grunde auch Thema dieses Buches ist.

Woran liegt der Erfolg eines Buches? Reicht es, ein geniales Buch zu schreiben, oder muss man auch Starpotenzial haben und mit den Medien umgehen können, damit die Welt es bemerkt?

June stand immer im Schatten ihrer schillernden Freundin Athena, mit der sie gemeinsam Literatur studiert hat. Athena hatte alles Schönheit, Ruhm, Follower, Migrationshintergrund und einen Bestseller. Als ihr nach Athenas Tod ein Manuskript in die Hände fällt, kann sie nicht widerstehen, es zu benutzen und tritt damit eine Lawine los.

Wem gehört eine Geschichte? Dem, der sie erdacht oder erlebt hat, der sie erzählt oder der sie aufschreibt? Was nützt Geschriebenes, das keiner liest? Genie in der Schublade, Skandale in den Medien, wird gekauft, was gefällt oder gefällt, was einen Farbschnitt hat? Huhn oder Ei?

Rebecca F. Kuang hat hier ein Verwirrspiel entworfen, das Grenzen sprengt und gleichzeitig auf ganz hinterhältig verdrehte Art die eigene Biografie auf die Schippe nimmt. Dieses Buch ist die Beichte der Juniper Song, wahrscheinlich, und ein genial erdachter Thriller, der unterhaltsam die Routinen des modernen Verlagswesens untersucht und bewirkt, dass wir am Ende gar nicht mehr wissen, was wir glauben sollen.

Eigentlich wollte ich einen Stern abziehen, aber mir fällt nichts ein, was ich bemängeln könnte, außer, dass ich natürlich keinem Hype erliege (Ich würde töten für die gelbe Tasche!).

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Veröffentlicht am 10.03.2024

Aufwühlend und witzig gleichzeitig

Demon Copperhead
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Wer David Copperfields Geschichte kennt, kann es ahnen, dieses Buch nimmt einen mit. Es bleibt tatsächlich ganz nah an der Originalgeschichte, nur verlegt es sie ins Hillbillymilieu der 90er Jahre.

Demon ...

Wer David Copperfields Geschichte kennt, kann es ahnen, dieses Buch nimmt einen mit. Es bleibt tatsächlich ganz nah an der Originalgeschichte, nur verlegt es sie ins Hillbillymilieu der 90er Jahre.

Demon Copperhead hat die rötesten Haare der Welt und wird in einem Trailerpark geboren. Seine drogensüchtige Mutter stirbt früh. Demon ist plötzlich seinem brutalen Stiefvater ausgeliefert und durchläuft dann jede traurige Station, die ein Waisenkind durchlaufen kann, das keinen groß zu interessieren scheint. Es ist herzzerreißend, was dieser kleine Junge alles ertragen muss.

Später hat er auch mal ein bisschen Glück, wäre beinahe ein Baseballstar geworden, aber seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Es ist ein steiniger Weg, bis er sich aus der Abwärtsspirale durch Drogen, Alkohol und falsche Freunde befreien kann.

Der Schreibstil ist soghaft und auf ganz eigene Art poetisch. Da jagen sich die originellen Vergleiche, es ist amüsant und bedrückend gleichzeitig. „Ich versuchte, mich nicht wie einer zu benehmen, der ungefähr seit August keinen Nachschlag mehr gekriegt hatte.“

„…ich war ein Stück größer als Mr Golly, der wie ein kleiner brauner Baum aussah, denn man vergessen hatte zu gießen.“

Solche Formulierungen sind grandios. Ich habe in diesem fetten Schinken jeden einzelnen Satz genossen.

Man muss die Dickens-Version nicht kennen, um dieses Buch zu lesen. Allerdings hat man noch viel mehr davon, wenn man David Copperfield kennt. Es macht großen Spaß, die Parallelen zu suchen und immer wieder Copperfield Figuren zu identifizieren. Sie sind irgendwie alle da und es ist spaßig zu gucken, wie sie hier präsentiert werden. U-Haul ist Uriah Heep, der hier wie da ganz besonders schleimig ist. Selbst Dickens Weitschweifigkeit und feinen Humor nimmt die Autorin auf und macht sehr elegant etwas Neues daraus.

Das war ein wundervolles Buch, eine aufwühlend dramatische Geschichte, mitreißend erzählt und dabei auch noch witzig. Ich bin begeistert und tief beeindruckt.

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Veröffentlicht am 02.03.2024

Intensiv

Der ehrliche Finder
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Verglichen mit den anderen Romanen von Lize Spit ist dieser hier ein Häppchen, fast nur ein Booksnack, aber nichtsdestotrotz spannend und berührend. Es geht um Kinder die Probleme haben und uns zeigen, ...

Verglichen mit den anderen Romanen von Lize Spit ist dieser hier ein Häppchen, fast nur ein Booksnack, aber nichtsdestotrotz spannend und berührend. Es geht um Kinder die Probleme haben und uns zeigen, dass Kindersorgen ganz und gar keine Kleinigkeit sind.

Jimmy ist elf, ein Nerd, ein Außenseiter ohne Freunde, bis Tristan in seine Klasse kommt.

Wir erleben die Geschichte aus Jimmys Sicht, der ein seltsamer Junge ist. Zu klug, zu eigen, zu uncool, um bei seinen Klassenkameraden zu bestehen, hat er sich an sein Außenseiterdasein gewöhnt. Er wäre gerne wie andere Kinder, hätte gerne Freunde, aber er kann halt nicht anders. Tristan, der neu ist und noch nicht einmal ihre Sprache beherrscht, ist seine Chance.

Tristan und seine Familie sind frisch aus dem Kosovo gekommen. Nach einer abenteuerlichen Flucht sind sie in Jimmys Stadt gelandet und versuchen zurechtzukommen. Jimmy und Tristan werden beste Freunde und ergänzen sich bestens. Aber dann passiert etwas Unerwartetes, was sie aus der Bahn wirft und die Leser gleich mit.

Ich war wirklich froh, schon andere Bücher der Autorin gelesen zu haben, weil mir eigentlich klar war, dass es nicht die nette Geschichte über Freunde sein kann, die es anfangs zu sein scheint.

Dieses Buch fasst einen an, zieht einen mit. Auch wenn Jimmy irgendwie seltsam ist, tut er einem auch sehr leid. Fast möchte man sich für ihn freuen, wäre da nicht der fiese Hintergedanke, dass es nicht so nett ausgehen kann. Erst macht man sich Sorgen und dann bekommt man Angst um ihn.
Mehr sag ich nicht. 😊

Das neue Buch von Lize Spit ist klein aber intensiv und macht deutlich, dass Kindersorgen keine Lappalien sind und man hinschauen sollte.

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Veröffentlicht am 27.02.2024

Ein richtig gutes Buch

Der Stich der Biene
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Fast hätte ich es vergessen, aber dieses Buch hat mich wieder daran erinnert, wie toll es ist, dicke Schinken zu lesen. Man taucht ein und ist weg, ganz weit weg, sehr lange. Man hat alle Zeit der Welt, ...

Fast hätte ich es vergessen, aber dieses Buch hat mich wieder daran erinnert, wie toll es ist, dicke Schinken zu lesen. Man taucht ein und ist weg, ganz weit weg, sehr lange. Man hat alle Zeit der Welt, andere Leben mitzuleben.

Dabei geht es hier gar nicht mal um eine ganz große Geschichte. Da ist nur die Familie Barnes, die versucht mit sich und der Wirtschaftskrise fertigzuwerden. Das Autohaus von Dickie Barnes steht kurz vor dem Konkurs. Und während seine Frau Imelda zähneknirschend ihre Designerklamotten verkauft, versucht Dickie endlich sich selbst zu finden. Er hatte niemals vor, Autoverkäufer zu werden. Allerdings hatte Imelda niemals vor, Dickies Frau zu werden. Ihre Tochter Cass sieht ihre Pläne, in Dublin zu studieren, platzen und findet, dass Drogen sehr wohl eine Lösung sind. Und der kleine PJ kann plötzlich machen was er will, weil alle mit sich selbst beschäftigt sind.

Wir nehmen hier jeden einzelnen Blickwinkel ein, lernen alle Familienmitglieder kennen und sogar verstehen, kommt ihnen sehr nahe, obwohl man anfangs denkt, dass eigentlich niemand so besonders interessant ist.

Dieses Buch ist intensiv, analysiert messerscharf und ist dabei auch noch hoch komisch. Ich habe den fetten Schinken sehr langsam gelesen, weil ich nahezu jeden Satz genossen habe. Paul Murray ist der König der treffenden Vergleiche.

„Als seine Hobbys nennt er Selbstmordgedanken und Boccia."

Solche Sätze sind schlicht, aussagekräftig und unfassbar originell. Das Lesen ist ein einziges Vergnügen.

Was als schwierige Situation beginnt, entwickelt sich. Gegen Ende hat nicht jeder die perfekte Lösung gefunden, aber dazugelernt haben alle. In einem furiosen Showdown kommen alle Fäden zusammen, holen aus zum großen Finale mit Hörnern, Pauken und Trompeten. Der Schluss ist ein klein wenig hinterhältig, aber auf jeden Fall ganz großes Kino.

Ich bin beeindruckt und ein bisschen traurig, dass es vorbei ist. Das schaffen nur richtig gute Bücher.

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