Lesehighlight !
Späte ErnteLis kennt nur noch einen Weg und der heißt Flucht. Ihr Leben ist vollkommen aus den Fugen geraten, aber dem Scherbenhaufen kann und will sie sich noch nicht widmen. Als Anna sie quasi mehr oder weniger ...
Lis kennt nur noch einen Weg und der heißt Flucht. Ihr Leben ist vollkommen aus den Fugen geraten, aber dem Scherbenhaufen kann und will sie sich noch nicht widmen. Als Anna sie quasi mehr oder weniger am Wegesrand aufliest, scheint dies der Beginn einer ganz besonderen Freundschaft zu werden. Beide Frauen eint, dass sie Narben und eine Last auf der Seele tragen, die bleischwer auf ihnen lastet. Anna gelingt es, dass sich Lis für die Arbeit auf ihre Apfelhof begeistert. So zieht ein ganzes Jahr ins Land, in dem sich beide öffnen....
Leseempfehlungen sind immer etwas ganz Besonderes. Wenn aber der Buchtipp von einem Herzensmenschen ausgesprochen wird, ist das für mich schon die Garantie, einen kleinen Stern am Bücherhimmel entdeckt zu haben. Und genau das ist mir mit "Späte Ernte" von Nicole Wellmin widerfahren, denn ohne die begeisterten Worte einer lieben Freundin hätte ich nie zu diesem Roman gegriffen.
Wellemin erzählt in einer sehr feinen, aber doch unglaublich einnehmenden Schreibweise von seelischen Wunden, Ereignissen, die mal mehr, mal weniger durch das eigene Zutun beeinflussbar sind und von der Kunst des Lassens: Zulassen, Loslassen und Weglassen.
Daraus entsteht ein Roman, der mit einer ungeahnten Wucht seine ganze Energie entfaltet. Lis, getrieben von Scham, Angst und Selbstvorwürfen, begegnet Anna, die auf den ersten Blick mit beiden Beinen fest im Leben steht. Annas Energie wirkt ansteckend und die Begeisterung für ihren Apfelhof ebenso. Hinter der Fassade trägt sie aber die Last der familiären Vergangenheit, die vom Schweigen und Verdrängen der Nachkriegsgeneration auf die Enkelin übertragen wird.
Bei Lis sieht es anders aus. Ihr Leben in der Bussi-Bussi-Gesellschaft wird durch einen SEK-Einsatz mit voller Wucht zerstört und sie muss erkennen, dass der Mann, mit dem sie verheiratet ist, zwei Gesichter hat. Ihre Flucht ist kein Weglaufen vor der Verantwortung, sondern ein Versuch, den Hasskommentaren in der digitalen Welt zu entfliehen, um mit sich selbst und der ganzen Situation ins Reine zu kommen.
Die Autorin nimmt den Verlauf eines Jahres auf dem Apfelhof als Anlass, um die Entwicklung ihrer beiden weiblichen Hauptfiguren mit dem Wachstumsprozess eines Apfels zu vergleichen, um am Schluss des Buches wichtige Erkenntnisse zu pflücken.
Im Frühjahr kommt der Rückschnitt der Äste, um sich ganz auf das Wachstum neuer Triebe vorzubereiten. Mit der Apfelblüte entfalten sich die beiden Charaktere, um in einer unglaublichen inneren Schönheit zu erstrahlen. Doch erst im Herbst zeigt sich, dass aus den kleinen Dingen etwas ganz Großartiges wird und die Mühen eines Jahres sich gelohnt haben, wenn die Ernte ansteht.
Wellemin erzählt in Rückblenden die Familiengeschichte von Anna und schlägt immer wieder die Brücke in das Hier und Jetzt, um hinter das große Geheimnis von Lis zu kommen. Beide Frauen sind sich gegenseitig Pflaster auf der Seele und geben sich Halt, um an den negativen Erfahrungen zu wachsen.
Mehr vom Inhalt zu verraten, würde Spoilern bedeuten und einen Teil der Überraschungsmomente einfach vorwegnehmen. Wellemin beherrscht die große Kunst, ihre Leser:innen von Beginn an mit ins Boot zu holen und ihnen dabei aber auch die Botschaft zu vermitteln, dass Schweigen mehr Schaden anrichtet, als das beherzte aufeinander Zugehen, um Dinge anzusprechen und zu klären.
Ein absoluter Pagerturner, der auch den einen oder anderen Taschentuchmoment bereit hält und noch lange nachwirkt.