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Veröffentlicht am 23.09.2020

Wenn einer eine Reise tut...

Zwei Kofferträger in Shanghai
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Eigentlich sollten Mona und ihr Mann Aldo, Inhaber eines kleinen Malerbetriebs, nur die Ferienwohnung des Herrn Wang streichen! Dass sie dadurch in den recht zweifelhaften Genuss kommen würden, an einer ...

Eigentlich sollten Mona und ihr Mann Aldo, Inhaber eines kleinen Malerbetriebs, nur die Ferienwohnung des Herrn Wang streichen! Dass sie dadurch in den recht zweifelhaften Genuss kommen würden, an einer Studienfahrt in die chinesische Metropole Shanghai teilzunehmen, hätten sie sich nie träumen lassen! Aber abenteuerlustig und Neuem gegenüber aufgeschlossen, wie die beiden Mitfünfziger nun einmal sind, wagen sie die Reise – ihre erste wirkliche Reise überhaupt – ins Unbekannte und entdecken dabei ein Land, das sich als so fremd und unverständlich herausstellt, wie sie es sich auch mit viel Phantasie nicht vorgestellt hatten. Genauso wenig wie diejenigen unter den Lesern, die das Reich der Mitte und seine Gepflogenheiten lediglich vom Hörensagen oder aus Dokumentarfilmen kennen, die ohnehin zumeist nur die schönen Seiten des riesigen asiatischen Landes, dessen eindrucksvolle Natur zeigen und vielleicht sogar auch ein wenig über Politik und Traditionen verraten, die so ganz anders sind als hierzulande.
Nun, nach der zwölftägigen Reise sind Mona und Aldo klüger – und mit ihnen die Leser! Klüger und um einiges desillusionierter, denn was ihnen widerfährt, was sie sehen und hören und spüren in dem geheimnisvollen Land, das sich auch schon im Jahre 2004, denn so lange lag der anstrengende Besuch schon zurück, bevor Mona sich entschied, die Leser an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen ( es ist zu mutmaßen, dass sie diese erst einmal verdauen musste, so haarsträubend und widersprüchlich, wie sie waren ), zu einer der führenden Wirtschaftsmächte unseres Planeten aufgeschwungen hatte, mag wohl nur die unerschütterlichsten, die eingefleischtesten unter den China-Liebhabern nicht abschrecken!
Gewiss, dem dominanten, neugierigen und systemtreuen Reiseführer Herrn Chang mit den zwei Gesichtern war vor allem daran gelegen, die zugegebenermaßen beträchtlichen Errungenschaften des Landes, vereint in der Vorzeigestadt Shanghai, und seine Sonnenseiten herauszustellen, ausschließlich Prestigeobjekte und Prestigeviertel zu zeigen – vom wirklichen Leben wurden Mona, Aldo und ihre Truppe möglichst ferngehalten. „Freigang“ war ebenso reglementiert und fand vorzugsweise nur unter Bewachung lächelnder, aber eisenharter chinesischer Begleiterinnen statt. Aber trotzdem konnte der kleine Diktator, der sehr bald schon mit einer Art Taktstock auftauchte, um die Reisegruppe nach seiner Pfeife tanzen zu lassen ( alte Gewohnheiten in dem roten Sternestaat sind halt schwer abzuschütteln, sofern man das überhaupt anstrebt! ), nicht verhindern, dass gelegentlich das wahre China hervorblitzte, die unvorstellbare Armut und Rückständigkeit der unzähligen Chinesen, die jenseits der Riesenstädte eine nicht menschenwürdige Existenz fristen, die buchstäblich im Dreck leben, von dem sie sich auch ernähren, die nicht teilhaben an dem in rasender Geschwindigkeit voranschreitenden technischen und ökonomischen Fortschritt, für den viele Milliarden ausgegeben werden und der ein erschreckend seelenloser ist. Kritische Fragen wurden von vornherein abgeschmettert mit dem so lapidaren wie nichtssagenden Satz: „Wir sind hier in China“. In einem Land also, so mein Eindruck während und nach der Lektüre, dessen prunkvolle Fassaden eben nur das sind: Fassaden, hinter denen selbst die privilegierten Chinesen ein von unzähligen Regeln eingeschränktes Leben führen. Zucht und Ordnung – so fasst es die wackere Mona mit den vernünftigen Wanderschuhen sehr treffend zusammen, angesichts derer sie – genauso wie ich als Leserin – froh ist, in dem so freien Deutschland leben zu dürfen, in dem jede vermeintliche oder tatsächliche, sei es auch noch so winzige Einschränkung dieses hohen Gutes Freiheit mit lautem Protestgeschrei kommentiert wird und vor allem auch kommentiert werden darf!!
Es ist ein kurzes Buch, das die Autorin als Roman deklariert, das aber nichtsdestoweniger vermuten lässt, dass es auf eigenen einschlägigen Erlebnissen basiert, aber es vermittelt einen aufschlussreichen Blick auf die bereits erwähnten Fassaden, auf das, was sie vorgaukeln wollen, wie auch auf das, was dahinter steckt. Die Ich-Erzählerin Mona weiß unterhaltsam über ihre merkwürdige Reise und deren vielen kleinen, so sprechenden, nur vordergründig amüsanten Begebenheiten und ebenso vielen Unannehmlichkeiten zu berichten, die man wohl nur mit einer guten Portion Humor und Gleichmut ertragen kann, ohne – was ja ganz und gar gegen chinesische Sitten wäre! - seine Empörung laut herauszuschreien.
Ist mir China näher gekommen, fragte ich mich am Schluss? Konnte ich aus den vielen Puzzleteilchen ein Gesamtbild zusammensetzen? Wohl kaum, denn dazu war die Reise des trotz aller Widrigkeiten dauerhaft fröhlichen Paares zu kurz und zu einseitig organisiert, eine Vorzeigereise viel eher als eine Studienreise, als die sie apostrophiert wurde. Soviel aber habe ich erkannt: in diesem Leben wird das wohl nichts mehr mit einer Annäherung zwischen China und mir! Ich werde es gewiss auch weiter vorziehen, mir in meinem freien Land die schönen Heile-Welt-Reportagen anzuschauen, als einen Fuß in das ostasiatische Riesenreich zu setzen, das mir ein Rätsel bleiben wird – trotz der Schlaglichter, mit denen das nette, flott geschriebene kleine Buch versucht haben mag, etwas zu erhellen, was ein freier Westeuropäer niemals verstehen wird noch gar tolerieren kann!

Veröffentlicht am 11.03.2020

Wer aussteigt, ist tot

Die Komplizin
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Der jungen Krankenschwester Anna stößt das zu, was niemand brauchen kann in seinem Leben: sie ist zur falschen Zeit am falschen Ort! Und damit gerät eine Lawine ins Rollen, die sie aus ihrem bisherigen, ...

Der jungen Krankenschwester Anna stößt das zu, was niemand brauchen kann in seinem Leben: sie ist zur falschen Zeit am falschen Ort! Und damit gerät eine Lawine ins Rollen, die sie aus ihrem bisherigen, reichlich unspektakulären, gar ein wenig langweiligen Alltag herauskatapultiert und hineinwirft in ein gefährliches Abenteuer wider Willen, in dem sie sich in ständiger Lebensgefahr befindet und dessen Ausgang höchst ungewiss ist!

Alles beginnt damit, dass sie auf dem Heimweg vom Nachtdienst vor einer roten Ampel unverhofft Besuch bekommt: zwei junge Männer dringen in ihr Auto ein und entführen die junge Frau kurzerhand – wobei es ihnen allein um das Fahrzeug geht, denn sie befinden sich auf der Flucht! Die beiden gefährlichen Gesellen sind ein mexikanisches Brüderpaar, das bis dato einer dubiosen Organisation angehörte, die sich Streetsurfer nennt und hinter der sich, wie der Leser allmählich erfährt, eine Bruderschaft verbirgt, eine Art Sekte, auf jeden Fall aber eine höchst gefährliche und skrupellose Verbrecherbande, die ihre schmutzigen Hände in jedem nur denkbaren kriminellen Geschäft hat und bei der eine Mitgliedschaft „lebenslänglich“ bedeutet. Bis der jüngere der Brüder, der psychisch instabile, von unbändigem Hass auf alles und jeden, vor allen Dingen aber auf sich selbst, besessene Diego nach einem vereitelten Selbstmordversuch einfach aussteigt! Und wer aussteigt, ist tot! Das weiß Diego – und vielleicht noch besser weiß es sein Bruder Rafael, der unfreiwillig Abtrünnige, der alles daransetzt, Diego zur Rückkehr zu bewegen. Da die mörderischen Handlanger der Bruderschaft aber bereits die Verfolgung aufgenommen haben, ist es für eine Umkehr zu spät! Also bleibt nichts anderes als die Flucht, die – in Annas Auto und mit ihr als Geisel, die, wenn es nach Rafael gegangen wäre, längst nicht mehr am Leben wäre – über Freiburg nach Spanien und von dort heim nach Mexiko führen soll.

Im Verlauf der Handlung, die von schnellen und unerwarteten Wendungen lebt, bei der die Überraschungen immer im Hintergrund lauern, die den Leser durchweg und, so wiedersprüchlich das auch klingen mag, trotz ihrer generellen Langatmigkeit dauerhaft in Atem hält und die keineswegs linear verläuft sondern von ebenso abrupten Perspektivwechseln lebt, denn Anna und die beiden „Aussteiger“ sind keineswegs die einzigen Protagonisten, ergibt sich allmählich eine Art Psychogramm der Geisel Anna als auch ihrer Entführer – ohne freilich, was meines Erachtens wichtig gewesen wäre, allzu viel zu preiszugeben über die Umstände, die letztere dazu brachten, ihr Leben in Mexiko hinter sich zu lassen und zu gewissenlosen Killern zu werden, gefangen in einer Organisation, die sie zu eben jenen gemacht hat.

Auch von den Streetsurfern selbst, deren Treiben den zweiten Handlungsstrang bedient, bekommt man nicht viel mehr als ein vages Bild, ihre Struktur ist am Ende des Thrillers kaum verständlicher als zu Anfang. Dieses Nicht- oder Halbwissen allerdings ist nichts, was ich unbedingt als unzureichend betrachte, denn verfolgt man das Interagieren der Mitglieder der Organisation, darf man darauf schließen, dass sich Abgründe auftun, in die man eher nicht schauen möchte! Selbst diejenigen, die ihnen Informationen zubringen, sind zum Tode verurteilt, wie man an dem Freiburger Ehepaar sehen kann, bei dem die Brüder samt Anna auf ihrer Flucht Halt gemacht hatten – und deren Ermordung die Polizei sogar auf Annas Spuren bringt, die, was das Ganze noch komplizierter macht, sehr bald steckbrieflich gesucht wird....

Und das wiederum führt uns zum dritten Handlungsstrang, dem nämlich, in dem Annas Verlobter aus Hamburg, der ehrgeizige, karrierebesessene Nico, dem sich Anna vor ihrer Entführung immer mehr entfremdet hatte, herumtaumelt und -stolpert und zu einem wahren Ärgernis wird. Ja, er sucht nach Anna, nachdem er ihr freilich zuerst bösen Willen und absichtliches Verschwinden unterstellt hatte und konstant schwankt zwischen kontinuierlich abnehmender Sorge um und Wut auf sie. Bis zum Ende des vorliegenden Bandes ist Nicos Rolle nicht ersichtlich, denn er trägt nichts zu der sich entwickelnden und schließlich kulminierenden Handlung bei. Nichts jedenfalls, das hier, in diesem ersten Teil der auf mehrere Bände konzipierten „Alles“-Reihe, zu erkennen wäre. Er ist ein Schwachpunkt der Geschichte, ein flacher Charakter ohne Tiefgang – was freilich weder von Diego noch von Anna behauptet werden kann! Sie sind beide komplexe Figuren – das Mädchen, zu Anfang verständlichermaßen völlig verängstigt, ist unerwartet zäh und erweist sich als resistent und äußerst mutig, während die Zerrissenheit und der sich verschlechternde psychische Zustand des jungen Mexikaners Diego sehr authentisch geschildert wird. Dass er sich in Anna verliebt, scheint folgerichtig; er sieht in ihr zunehmend stärker seine Retterin, diejenige, die ihn aus seinem inneren Gefängnis voller Selbstekel und Hass herausholen, mit der er gar ein neues Leben beginnen kann.

Folgerichtig ist auch, dass Anna seine Gefühle allmählich erwidert, dabei aber immer, ihrem standfesten Charakter treu bleibend, auf dem Boden bleibt und trotz aller unerwarteter Sehnsüchte, die Diego in ihr erweckt, weiß, dass es kaum eine gemeinsame Zukunft geben kann.

Damit ist aber schon beinahe zu viel gesagt über den recht umfangreichen, fesselnden, sehr abwechslungsreichen, weitgehend unvorhersehbaren und, trotz einiger Längen nie langweiligen Thriller, der ganz gewiss, obwohl oder vielleicht auch gerade weil so viele Fragen offen geblieben sind, ein gelungener Auftakt der „Alles“-Serie ist, auf deren zweiten Band man gespannt sein darf!

Veröffentlicht am 03.03.2024

Alte Liebe rostet nicht?

Die verschollene Bernsteinkette
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Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen ...

Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen begonnen hat – und genauso kommt mir die Geschichte auch vor! Tagebuchaufzeichnungen allerdings, die nicht nur von dem ein wenig verloren wirkenden, suchenden, ziemlich einsamen und ratlosen Protagonisten Alex verfasst wurden, sondern vielmehr abwechselnd von all jenen, die an dem Vorfall vor 40 Jahren, den eben jener Alex im Jahre 2016 wieder aufrollt, um endlich ein altes, über die Jahre vergessenes Rätsel zu lösen, das plötzlich wieder gegenwärtig wird, als Alex Tochter sich in den Sohn der Hamburger High Society Dame Anne verliebt, die zu der Gruppe von fünf jungen Leuten gehörte, die im Sommer 1976 gemeinsam ihre Ferien auf Sylt verbrachten, die mit dem Verschwinden einer weiteren jungen Frau, Tina, abrupt endeten, in die Alex seinerzeit verliebt war. Nur halbherzig, wie es mir scheint, hatte dieser versucht, Tina zu finden – um sie wenig später zu vergessen. Wie das nun einmal so ist, wenn man jung ist und das ganze Leben noch vor sich hat. Normalerweise. Ausnahmen mag es geben, aber sie sind so selten wie jene blaue Blume der frühen Romantiker.
Das genau aber ist die Crux an der Sache! Kann man einen Menschen über einen so langen Zeitraum vergessen, um sich dann plötzlich wieder an die, sicherlich nicht lange, Zeit der Verliebtheit erinnern, die längst vorbei ist, überdeckt von einem, wie man den Eindruck bekommt, durchaus erfüllten Leben an der Seite einer Frau, die man liebt, bis sie dann verstarb? Ist es die Einsamkeit, die Sehnsucht nach einer neuen Partnerschaft, die längst vergessene Gefühle zu einem längst vergessenen Menschen wieder hochkommen und sich regelrecht daran festbeißen lässt? Denn Alex lässt nichts unversucht, spannt die nicht gerade begeisterten flüchtigen Bekannten von damals, denn mehr waren sie nie und sind sie auch heute nicht, ein, um Tina aufzuspüren und herauszufinden, was denn eigentlich mit ihr geschehen ist und ob sie überhaupt noch lebt.
Der Leser weiß bereits mehr, ist Alex voraus, der inzwischen seine Tochter und deren Freund, zwei obercoole, aber gutmütige, wenn auch lethargische 'Chiller', gebeten hat, Internetanzeigen auf der ganzen Welt aufzugeben, um über eine unverwechselbare Bernsteinkette, Alex Geschenk an die damals Angebetete (warum sollte sie die noch tragen, frage ich mich, überschätzt Alex die eigene Wichtigkeit nicht gar zu sehr?), Tinas Aufenthaltsort ausfindig zu machen.
Und so, wie die Tagebuchaufzeichnungen, wie ich sie weiterhin nennen möchte, wechseln, so wechseln auch die Schauplätze: von München nach Hamburg, nach Sylt, nach Berlin – und nach Neuseeland, denn dort.... Man kann es sich denken, und auch vermuten, wie die Geschichte ausgehen wird!
Durch die Kürze des Romans und die ständig wechselnden Schauplätze und Perspektiven sind es eigentlich nur Streiflichter einer Geschichte, die uns der Autor sehen lässt. In die Tiefe blicken wir nicht, wobei ich mutmaße, dass es da auch wenig auszuloten gibt, bei keinem der Fünf, so wie der Autor sie angelegt hat, und schon gar nicht bei Alex Studententochter Elsa und Annes Tagträumersohn Paul. Schade, denn ich mag es gerne tiefgründig und facettenreich – und wenn schon große Gefühle, dann aber richtig und konsequent und nicht so lauwarm dahinplätschernd, freilich mit einem paukenschlagartigen Happy End, das vierzig Jahre einfach wegwischt und das mich dann doch umhaut, mir zuviel ist, das schlicht und einfach zu dick aufgetragen wurde, der die ganze Zeit über durch Nüchternheit ersetzten Romantik wegen, die bei einem solchen Ende eigentlich im Vorfeld angebracht gewesen wäre.
Zudem – Tinas Geschichte, wie wir sie allmählich erfahren, kam mir sehr wenig realistisch, sehr konstruiert vor, gar nicht nachvollziehbar, zumal ich mir für ihre Probleme die eine oder andere schlüssigere Lösung gut, besser, hätte ausmalen können.
Aber nun - „Die verschollene Bernsteinkette“ ist ein Erstlingswerk, ein trotz meiner Kritik passables, und daher mit Wohlwollen zu betrachten! Im Übrigen könnte ich mir vorstellen, dass aus den 'Tagebuchskizzen' ein richtig guter, detaillierter, in die Tiefe gehender, vielschichtiger Roman hätte werden können – oder noch werden kann? - , denn die Zutaten, die einen solchen Roman ausmachen, sind alle bereits vorhanden, aber, sozusagen, noch nicht so miteinander verarbeitet, dass sie sich voll entfalten können! Und es wäre nicht das erste Mal, dass aus einer 'Vorübung', einem Ausloten, schließlich etwas ganz Großes und Großartiges entsteht....

Veröffentlicht am 02.01.2023

Eine naseweise Detektivin mit Bauchblubbern

Wanda und die verschwundene Katze
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Das Einzelkind Lizzy ist gewiss ein aufgewecktes Mädchen, das über viel Phantasie verfügt, was lobenswerterweise von ihren Eltern gefördert wird, ohne das Kind, dessen Alter nicht angegeben ist, das ich ...

Das Einzelkind Lizzy ist gewiss ein aufgewecktes Mädchen, das über viel Phantasie verfügt, was lobenswerterweise von ihren Eltern gefördert wird, ohne das Kind, dessen Alter nicht angegeben ist, das ich aber auf sieben bis acht Jahre schätze, zu überfordern. Wie die meisten Kinder mag auch Lizzy Rollenspiele, die bei ihr aber über bloßes Spielen hinausgehen. Irgendwann, vielleicht wird das ja im mir unbekannten Vorgängerband erwähnt, muss jemand Lizzy ein Detektivset geschenkt haben, das dazu führte, dass das Mädchen eine zweite Identität angenommen hat, nämlich die der Superdetektivin Wanda!
Wann immer Lizzy etwas nicht ganz geheuer vorkommt, beginnt ihr Bauch zu 'blubbern' – und das tut er reichlich oft in der Geschichte – und sie mutiert zu eben jener Wanda, was sie jedoch, außer vor den Eltern, streng geheim hält. Warum das so ist, weiß man nicht, aber womöglich, weil sie meint, dass Detektive unbekannt bleiben müssen? Jedenfalls, wenn das Bauchblubbern beginnt, das mir während der Lektüre schon ein klein wenig auf die Nerven ging, verwandelt sie sich, nimmt die Haare zu einem Dutt zusammen (warum denn wohl das, frage ich mich bis zum Ende...) und schlüpft in ihren schwarzen Kapuzenpulli, ihre Uniform, in der sie sich stark und unbesiegbar fühlt. Kleider machen Leute? Für Lizzy trifft dieser weise Spruch zu, denn als Wanda ist sie kühn, stellt Nachforschungen an – man könnte auch sagen, dass sie ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckt, in Dinge, die sie nichts angehen. Sie schnüffelt herum, um das mal auf den Punkt zu bringen, was ihre Eltern freilich noch unterstützen, mit den üblichen pädagogischen Warnungen und Ratschlägen. Sie sind obendrein sogar bereit, mit dem Töchterlein, wenn es mal wieder seinen 'Bitte-bitte-Blick' aufsetzt, auf Verfolgungsjagd respektive auf die Jagd nach Phantomen zu gehen! Schließlich hat ja Lizzys Bauch geblubbert...
Und wie der Titel des Buches schon sagt hat Lizzy-Wanda einen neuen Fall zu lösen: die Katze ihrer Freundin Mia ist nicht mehr auffindbar, Mia ist dauerhaft untröstlich und in Tränen aufgelöst und bittet die Freundin um Hilfe, in der Hoffnung, dass Tausendsassa Lizzy die Dinge schon richten wird. Und in der Tat, Wanda-Lizzy, oder wer immer sie gerade ist, hat alsbald einen Verdacht! Zeitgleich mit dem Verschwinden der Katze Lucy werden bunte Waschkörbe in der Siedlung, in der Mia und Lizzy leben, vor die Haustüren gestellt. Kleidersammlung, wie die Anwohner per Flyer informiert werden. Irgendetwas kann da nicht stimmen, meint die kühne Detektivin und tüftelt einen, wie sie meint, genialen Plan aus, in den sie auch ihren Vater einspannt, der ihr nur allzu willig folgt. Das Ergebnis? Nun, das wird man erfahren, wenn man sich an die Fersen der jungen Schnüfflerin heftet, die gar zu gerne andere Leute ausspioniert....
Hm... Jeder, wenigstens in der Geschichte, ist begeistert von den herausragenden Fähigkeiten des kleinen Mädchens, das meines Erachtens aber munter über das Ziel hinausschießt. Ja, es ist unbedingt wichtig, aufmerksam zu sein, Augen und Ohren offenzuhalten, für den Fall, dass Hilfe gebraucht wird, in welcher Form auch immer! Lizzy ist mir allerdings viel zu naseweis – und muss lernen, dass es Dinge gibt, die einen nun wirklich nichts angehen, gerade dann nicht, wenn es um die Privatsphäre geht, auf die jedermann ein Recht hat, selbst wenn man sich für die großartigste Detektivin der Welt hält. Für einen unterhaltsamen Kinderkrimi – und den haben wir hier durchaus! - mag das angehen, doch im wahren Leben sollte man ein wenig aufpassen, mit Anschuldigungen vorsichtig sein. Keinem gefällt das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen oder gar einem Kind Rede und Antwort stehen zu sollen.
Aber nun, diese Gedanken zu dem hier zu besprechenden Kinderbuch kommen von einem Erwachsenen! Kinder mögen das ganz anders sehen und an der Geschichte einfach nur ihre Freude haben – und genau darauf kommt es schließlich an – solange sie sich nicht berufen fühlen, es dem Kind Lizzy-Wanda nachzutun....

Veröffentlicht am 28.11.2022

'Eine erbärmlich pittoreske Stadt'

Spurlos in Neapel
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Neapel ist der Hauptschauplatz dieses eigenartigen Romans, der nicht linear erzählt wird, sondern vielmehr in Fragmenten. Rückblicke wechseln sich ab mit einer Spurensuche, die zunächst vorsichtig, tastend ...

Neapel ist der Hauptschauplatz dieses eigenartigen Romans, der nicht linear erzählt wird, sondern vielmehr in Fragmenten. Rückblicke wechseln sich ab mit einer Spurensuche, die zunächst vorsichtig, tastend beginnt, um schließlich zu einer Besessenheit zu werden. Ob sie zum Erfolg führt, muss jeder Leser für sich entscheiden.
Franco Supino lässt seinen Erzähler, der, wenn man eines der beiden dem Roman vorangestellten Zitate richtig interpretiert, dass es nämlich 'kein anderes als das autobiographische Erzählen' gibt, er im Grunde selber ist – worüber allerdings der Autor allein Aufschluss geben kann -, mit Erinnerungen an die Besuche seiner Kindheit im Dorf seiner Eltern nahe Neapel beginnen und wechselt dann in die Gegenwart.
Wieder ist der namenlose Erzähler in Italien, vorgeblich zunächst, um sich dort einen Maßanzug bei einem der Schneider anfertigen zu lassen, für die die Großstadt am Golf von Neapel, über die, ebenfalls als Zitat der Geschichte vorangestellt, der Schriftsteller James Baldwin einst schrieb, dass er 'nichts von eurer Stadt verstanden' hätte, berühmt ist. Und je weiter ich mich mit der Lektüre vorantastete, umso klarer wurde mir, was der Amerikaner meinte! Sie ist nicht zu verstehen, diese 'erbärmlich pittoreske Stadt', erscheint wie ein schmutziger Moloch, in dem das Verbrechen fröhliche Urständ feiert – eine Seite, die von Touristen freilich geflissentlich übersehen wird, für die es bei 'pittoresk' ohne das dazugehörige Attribut bleibt. Das vielbeschworene Flair kann man wohl nur mit reichlich Limoncello abgefüllt fühlen, das Pittoreske nur durch die rosarote Brille sehen!
Der Erzähler lässt den Leser vorwiegend die dunkle, die verwahrloste Seite Neapels sehen – was Wunder, denn schließlich hat er sich vorgenommen, einen gewissen Antonio Esposito, alias O'Nirone aufzuspüren, seines Zeichens farbiger Spross des Camorra-Clan Esposito, von dem man bis zum Ende nicht erfährt, ob er – zwar fiktiv, aber realen Vorbildern nachempfunden - weiterhin sein Unwesen treibt und mit seinen Krakenarmen noch immer in allen nur denkbaren und gewinnbringenden verbrecherischen Geschäften steckt. Viel, aber wiederum über die gesamte Erzählung verstreut, lernt man über einzelne Vertreter der Familie, über ihre Machenschaften und die offensichtliche Unfähigkeit des Staates, sie zu unterbinden. Und immer wieder taucht O'Nirone auf, als Kind, als Heranwachsender, der, obwohl es dem Erzähler gefällt, ihn mit der Physiognomie des 'edlen Wilden' Freitag aus 'Robinson Crusoe' auszustatten, für mich ein Mensch ohne Gesicht und dazu noch mit einem verschwommenen Profil geblieben ist.
Der zunehmende Drang des Erzählers, den letzten Abkömmling der Espositos aufzuspüren, dessen Herkunft unklar bleibt, obschon es gewisse Hinweise darauf gibt, die aber unbestätigt bleiben, verwundert, findet aber keine Erklärung – es sei denn man stolpert bei genauem Lesen über einen Satz, den der Journalist Donato, einer unter mehreren, von denen der Erzähler Auskunft über die Espositos, vor allem natürlich über O'Nirone, erhofft, warnend an den rast- und ruhelosen Erzähler richtet, dass es 'kein harmloses Spiel' ist, 'seine Biographie in einem fremden Leben zu suchen'. Der Erzähler auf der Suche nach sich selbst? Auch darauf gibt es Hinweise, wenn er den Leser teilhaben lässt an seinen Erinnerungen an eine Zeit, als er mit allen – unfairen und egoistischen – Mitteln den Umzug der Familie aus der Schweiz, in der er aufgewachsen ist, in das in seinen Augen elende, erbärmliche und ihm fremde Heimatdorf der Eltern verhindern wollte, was ihm auch gelang! Ihm und einem folgenschweren Erdbeben, das das Haus, das sich die Arbeitsmigranteneltern in der Heimat gebaut hatten, unbewohnbar machte... Zurück blieben – Schuldgefühle? Die die Identitätsfindung erschwerten oder gar unmöglich machten? Man weiß es nicht!
Und welche Parallelen der Erzähler ausgerechnet zu einem nicht auffindbaren Camorra-Spross sah, entzieht sich meinem Verstehen, allzumal letzterer selbst keine erkennbaren Identitätsprobleme hatte; er war nach den Regeln und Riten der Camorra erzogen worden, die er fraglos annahm. Und von denen er auch nie Ambitionen hatte, sich loszusagen. Meine Lesart ist, dass Antonio Esposito sich über seine Identität vollkommen im Klaren ist, egal, wo seine Wiege stand!
Auf den Punkt bringt meine ambivalenten Gefühle in Bezug auf diesen Roman ein oft zitierter Satz von Bertolt Brecht, den man auch gerne mit dem streitbaren und polemischen Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki in Verbindung bringt, beendete dieser doch jede Sendung seines 'Literarischen Quartetts' damit – und ich meine Ausführungen: 'Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen'