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Veröffentlicht am 25.03.2024

Dicht, schmerzhaft und unglaublich gut!

Sieben Sekunden Luft
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In Sieben Sekunden Luft begleiten wir Selah auf vier verschiedenen Zeitebenen, durch eine schwere Kindheit mit traumatischen Erlebnissen, einer Phase großer Verlorenheit Anfang 20, einer akuten Lebenskrise ...

In Sieben Sekunden Luft begleiten wir Selah auf vier verschiedenen Zeitebenen, durch eine schwere Kindheit mit traumatischen Erlebnissen, einer Phase großer Verlorenheit Anfang 20, einer akuten Lebenskrise Mitte 30 und zuletzt dem Weg zu sich selbst und mit einer Versöhnung auch mit ihrer Vergangenheit.

Bereits in den Kindheitserinnerungen wird deutlich, dass Selahs Aufwachsen bei einer alleinerziehenden und schwierigen Mutter von vielen Entbehrungen und Verletzungen, und gleichzeitig viel zu viel Verantwortung für einen kleinen Menschen geprägt ist. Dies hinterlässt Wunden, die sich ihren Weg bis ins Erwachsenenalter bahnen. Die Identifikation und Entfremdung Selahs wird gekonnt und eindrucksvoll auch über die jeweilige Erzähl-Perspektive beschrieben. Während als Kind ein Ich erzählt, wechselt die Perspektive später in Du und die dritte Person, bevor wieder aus einer Ich-Identität heraus die Handlung begleitet wird.

In Selahs Schicksal werden die strukturellen Verankerung und gesellschaftlichen Praktiken von Klassismus, Misogynie, Heteronormativität, Queerfeindlichkeit und sozialer Benachteiligung schonungslos offengelegt und in ihren intersektionell wirkenden, individuellen und schmerzhaften Auswirkungen und Prägungen auf das Individuum herausgearbeitet.

Die Sprache ist so unglaublich dicht erzählt, jeder Satz, jedes Wort bedeutungsschwer, stellenweise verfolgt man Selahs Schicksal durch die Erzählweise fast wie im Rausch, leidet mit ihr, fühlt mit ihr und ist nach dem Lesen angesichts dessen auch mit ihr erschöpft. Sieben Sekunden Luft ist kein Buch für zwischendurch, ich musste immer wieder pausieren, aufgrund der dichten Erzählweise, jedoch auch um mich selbst zu distanzieren, so bedrückend ist das Erleben Selahs.

Sieben Sekunden Luft war für mich ein unbequemes und schmerzhaftes Buch, dass mich nicht nur inhaltlich sondern auch sprachlich vollkommen überzeugt hat!

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Was Familie mit uns macht - ein berührender Roman über Mütter und Töchter, weibliche Selbstbehauptung und intergenerationale Traumata

Wir sitzen im Dickicht und weinen
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Traurig, schmerzhaft und lebensnah erzählt Felicitas Prokopetz eine Familiengeschichte über vier Generationen. Im Fokus stehen dabei die Frauen der Familie, das Streben nach weiblicher Selbstbehauptung, ...

Traurig, schmerzhaft und lebensnah erzählt Felicitas Prokopetz eine Familiengeschichte über vier Generationen. Im Fokus stehen dabei die Frauen der Familie, das Streben nach weiblicher Selbstbehauptung, dessen Auswirkungen auf Mutterschaft und nicht zuletzt die Komplexität von Mütter-Töchter Beziehungen.

Valerie ist Ende 30, alleinerziehend, ihr Sohn Tobi gerade 16, da erkrankt ihre Mutter Christina schwer an Krebs. Die seit jeher angespannte Beziehung zwischen Mutter und Tochter, wird damit einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt. Diese Grenzsituation lässt auf beiden Seiten alte Wunden aufbrechen, Christinas frühe Verzweiflung an der Mutterrolle und einem noch immer konservativen gesellschaftlichen Frauenbild, die sich nicht mit ihrem Bedürfnis für Autonomie vereinbaren hat lassen, und Valeries Kindheitsgefühle aus daraus erlebter Vernachlässigung, Verletzung und Kränkung, die sie durch ihre Mutter aushalten musste, offenbaren so die Dysfunktionalität aber auch Komplexität der Beziehung.

In Rückblicken wird ergänzend zu Valerie zum einen die Geschichte von Christinas eigenem Aufwachsen und ihrer eigenen entbehrungsreichen Rolle als Valeries alleinerziehende Mutter erzählt. Zum anderen lernen wir auch Christinas Mutter Martha in ihrer Mutterrolle und Valeries Großmutter väterlicherseits Charlotte und deren Aufwachsen kennen.

Dabei beweist die Autorin ein Gespür für das Sowohl-Als-Auch komplexer sozialer Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern in denen Verletzungen und Glück zuweilen nebeneinander stehen.

Prokopetz arbeitet Schicht für Schicht, Generation für Generation heraus, wie die verschiedenen Frauen mit ihrer Rolle als Frau und Mutter in einem zutiefst patriarchalen-konservativen Milieu hadern. Ihr Leiden und die Unzufriedenheit, die sich daraus ergeben, bekommen viel zu oft die Töchter zu spüren. So wird deutlich wie unbewusst die eigenen Traumata in der Erziehung weitergegeben werden. Auffällig ist: jede der porträtierten Frauen ist, unabhängig ob in Partnerschaft oder nicht, weitgehend allein mit diesem Kampf um weibliche Selbstbehauptung und der Verantwortung als Mutter.

Für all dies braucht Felicitas Prokopetz nur relativ wenige Zeilen und Worte, der Roman ist mit rund 200 Seiten recht schmal. Oft finden wir nur Andeutungen in der Erzählung, nicht alle Beziehungen, Konflikte und Herausforderungen werden im Detail hergeleitet und erläutert. Für mich ist dies eine weitere Stärke des Buchs, denn die Autorin schafft es mit wenigen Worten, komplexe Beziehungsmuster herauszuarbeiten und so zum Nachdenken anzuregen. Die Leerstellen schaffen Raum für Interpretation und letztlich auch Variationen von Mütter-Töchter-Beziehungen ohne, dass dabei die Essenz der Erzählung verloren geht.
Wer eine detailreich erzählte Familiengeschichte erwartet, wird jedoch eventuell enttäuscht werden.

Wir sitzen im Dickicht und weinen lässt gekonnt und sensibel erzählt ein Familienporträt durchzogen von intergenerationalen Traumata und komplexen Mutter-Töchter-Beziehungen entstehen, das unbedingt lesenswert ist und weitere Veröffentlichungen der Autorin mit Spannung erwarten lässt.

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Postpartale Depression und die Verortung von Mutterschaft in der modernen Gesellschaft - persönlich, analytisch, mutig

Liebesmühe
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Mutterschaft und Mutterliebe nimmt eine fast sakrale Rolle in unserer Gesellschaft ein, oft mit dem Verweis auf ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Doch was ist dran an dieser vermeintlichen Natürlichkeit? ...

Mutterschaft und Mutterliebe nimmt eine fast sakrale Rolle in unserer Gesellschaft ein, oft mit dem Verweis auf ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Doch was ist dran an dieser vermeintlichen Natürlichkeit? Und was ist, wenn sich nach der Geburt ganz andere Gefühle in den Vordergrund drängen, Verzweiflung und Angst, wenn Mutterschaft und das Kind nicht als Glück, sondern Bedrohung wahrgenommen werden, Bedrohung des eigenen Selbst, der Autonomie?

Liebesmühe von Christina Wessely setzt genau an dieser Stelle an. In sehr persönlichen Worten erzählt die Autorin von den Schwierigkeiten sich in der Rolle als Mutter zurechtzufinden, ihrer postpartalen Depression und wie sie diese bewältigt hat.

Die Distanz zu dieser neuen Rolle und die Zerrissenheit ihres Ichs durch diese, wird bereits auf den ersten Seiten deutlich, wenn die Erzählerin begründet, warum sie nicht als Ich erzählen kann, sondern stattdessen von sich selbst und ihren Gefühlen in der dritten Person berichten wird. Stellenweise wirkt die Erzählung so fast dokumentarisch, dadurch jedoch nicht weniger eindringlich.

Besonders gefiel mir die ausgewogene und komplexe Betrachtungsweise der Autorin. Auf der einen Seite gibt sie bzw. die Ich-Erzählerin in schonungsloser Offenheit Einblicke in ihre Seele und Gefühle, thematisiert Verzweiflung, Suizidgedanken, Entfremdung von sich selbst und findet dafür auch literarisch eindringliche Bilder und Worte, die ihren Schmerz nachvollziehbar machen. Diese persönliche Ebene wird jedoch immer wieder ergänzt und bereichert durch den analytischen Blick der Erzählerin, vor dem Hintergrund ihres Berufs und nicht zuletzt auch ihrer als solches empfundenen Berufung als Wissenschaftlerin.

In der Auseinandersetzung mit ihrer Situation und als ein Element der Heilung bedient sich die Autorin gekonnt der ihr bekannten Instrumente und beginnt zu recherchieren und zu schreiben. So entwirft sie nicht nur ein eindringliches, authentisches Porträt ihres verzweifelten Selbst in dieser schwierigen postpartalen Depression, sondern nähert sich dem Thema Mutterliebe und Mutterschaft auch kulturhistorisch und gesellschaftskritisch.

Liebesmühe ist nicht nur eine gute Lektüre, weil es den Blick auf ein gesellschaftlich völlig vernachlässigtes Thema lenkt und die widersprüchlichen Anforderungen an Mütter in der Moderne offenlegt. Mich haben Stil und Umsetzung auch literarisch überzeugt. Ein wichtiges Buch mit einer unbedingten Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 05.03.2024

Die Kinderrevolution der Räuberknotenbande

Bella und die Böllersum-Bande
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Bella und die Böllersumbande ist ein moderner Kinderroman im Stil der Kinder von Bullerbü. Die 10 Jährige Bella wohnt im kleinen Dorf Böllersum und ist Anführerin der wenigen dort wohnenden ...

Bella und die Böllersumbande ist ein moderner Kinderroman im Stil der Kinder von Bullerbü. Die 10 Jährige Bella wohnt im kleinen Dorf Böllersum und ist Anführerin der wenigen dort wohnenden Kinder. Als die kleine Dorfschule auf Anordnung der Landrätin geschlossen werden soll, schmieden Bella und die Bande einen Plan und starten ihre eigene Kinderrevolution zum Erhalt ihrer Schule. Von einer lautstarken Demonstration, einer kreativen Protestaktion auf dem Marktplatz bis zur Schulbesetzung lassen die Kinder dabei kaum eine Protestform aus. Werden sie für ihr Engagement belohnt werden? Und was macht so eine fordernde Situation mit der Freundschaft der Bande?

Die Geschichte der Bande um Bella ist kindgerecht erzählt. Jedes Mitglied hat unterschiedliche Eigenschaften und auch im Familienhintergrund sind diese divers, ob Timo, der musikalisch Begabte, dessen Mutter früh verstorben ist oder Frieda, deren Vater aus Marokko stammt. Bella selbst ist ein selbstbewusstes, kluges Mädchen mit lauter Flausen im Kopf und ungemein sympathisch. Sehr schön ist die Übersicht zu Beginn des Buches, in der alle Kinder vorgestellt werden.

Ganz nebenbei werden immer wieder auch ernste Themen mit thematisiert und fließen in die Handlung ein, wie die Landflucht und das „Aussterben“ einiger Regionen oder der Umgang mit Tod und Trauer am Beispiel von Bellas Opa.

Ich hätte mir noch eine Erklärung dazu gewünscht, dass die Kinder unterschiedlichen Alters und Klassenstufen offensichtlich gemeinsam unterrichtet werden. Während dies früher üblich war, ist dies ein Konzept, das Kinder heute in der Regel nicht mehr kennen. Auch, dass Bellas Eltern angeblich schon ins Bett gegangen sind, bevor ihre 10 Jährige Tochter nach Hause kommt, ist sicher etwas unglaubwürdig, selbst in einem Kinderbuch.

Der Roman ist eher textlastig, wird jedoch ab und zu mit gelungenen Illustrationen ergänzt. Als Selbstlesealter würde ich daher unabhängig vom eigentlichen Alter des Kindes, das Buch frühestens ab dem zweiten Lesejahr empfehlen.

Bella und die Böllersumbande ist ein empowernder Kinderroman über Freundschaft mit einer starken kleinen Heldin.

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Veröffentlicht am 27.02.2024

Das kleine graue Land oder über ein Leben in zwei Welten, die sich nicht zusammenfügen lassen

Das Jahr ohne Sommer
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Was bedeutet es die alte Heimat zu verlassen und komplett neu anzufangen? Was bedeutet es, wenn dem Verlassen eine gescheiterte Flucht und ein Gefängnisaufenthalt vorangegangen ist? Was bedeutet ...

Was bedeutet es die alte Heimat zu verlassen und komplett neu anzufangen? Was bedeutet es, wenn dem Verlassen eine gescheiterte Flucht und ein Gefängnisaufenthalt vorangegangen ist? Was bedeutet es, wenn die Flucht endgültig ist und es kein zurück gibt? Was bedeutet es seine Heimat zu verlieren, aber auch in der neuen Heimat seltsam fremd zu bleiben? Über dieses Leben in einem steten Dazwischen erzählt Constanze Neumann in das Jahr ohne Sommer.

Erzählt wird die Geschichte von der namenlosen Ich-Erzählerin, beginnend ab etwa ihrem sechsten Lebensjahr. In kurzen, dichten Sätzen beschreibt die Autorin den Alltag in der DDR und die zunächst gescheiterte Flucht einer Familie. Deutlich wird, dass die Flucht nicht nur Auswirkungen auf das Kind, sondern auch den Rest der Familie hat. Die Bedrückung spiegelt sich gekonnt im Sprachstil wider und fängt so die eigentümliche Stimmung ein. Die Eltern werden in Haft genommen und von der BRD nach fast 2 Jahren freigekauft. Die Tochter lebt nach einem kurzen Aufenthalt im Kinderheim bei der Großmutter, bis das Kind nach langem Ringen zu den Eltern in die BRD ausreisen darf.

Von hier an alterniert die Erzählung zwischen den Erfahrungen und Herausforderungen in der neuen Welt, dem schwierigen Aufbau einer Existenz im Westen und den Erinnerungen sowie Erzählungen von Freunden und Familie aus der DDR. Constanze Neumann erzählt so von zwei Welten, die nicht zusammenpassen wollen und sich in der jungen Ich-Erzählerin in einem unauflösbaren Konflikt manifestieren.

Trotz großem Willen, Anstrengungen und nicht weniger Hoffnungen, ist es in der Fremde, die eben nicht die Heimat ist, schwerer als gedacht ein neues Leben aufzubauen. Der sächsische Dialekt entlarvt die Fremden sofort, die wiederum tun sich mit dem Rheinischen schwer. Unterschiede gibt es auch in der Pädagogik, Weltsicht, Unternehmensführung usw., all das macht auch den Alltag und die Verständigung sprachlich und kulturell oft zur Herausforderung. Dabei ist es nicht nur das Neue, was sie vor tägliche Aufgaben stellt, sondern auch die Tatsache, dass es keine Versöhnung mit der Heimat gibt, die sie nicht mehr besuchen dürfen. Was bleibt, ist wehmütige Erinnerung an Straßenzüge, Freunde, Familie, ein ganzes altes Leben, das nicht mehr sein durfte.

Gleichzeitig leben die Emigrant:innen in keiner der Welten wahrhaftig. Es ist eine Zwischenwelt, der sie von nun angehören. Weder sind und werden sie echte Rheinländer:innen sein, zu unterschiedlichen sind die Erfahrungen und Sozialisation. Doch gleichzeitig sind sie auch in der verlassenen, alten Heimat nicht mehr zu Hause, zu viel trennt sie auch hier von den Verbliebenen und ihrer Erfahrung in der DDR - ein Umstand, der sich auch mit dem Mauerfall nicht auflösen, sondern verfestigen wird.

Jedes Familienmitglied reagiert auf seine Art auf dieses Leben im Dazwischen, die Mutter, ohnehin schwer chronisch krank, verfällt in eine Depression, der Vater in einen erzwungenen und erdrückenden Optimismus, die Tochter wechselt zunächst gekonnt zwischen den Welten und zieht sich doch in sich selbst zurück.

Es ist für mich das erste Buch, das sich mit dem Leben nach einer Flucht und dem schwierigen Aufbau einer Existenz in der BRD auseinandersetzt und die Widersprüche dieses Daseins aufdeckt. Constanze Neumann ist dies in einer wunderbar authentischen Sprache gelungen, mit einem feinen Gespür für all die Zwischentöne und Nuancen, das Sowohl-als-Auch, die das Leben so oft zeichnet und in der beschrieben Situation konstitutiv für das Sein werden.

Ein wundervolles und wichtiges Buch, mit einer unbedingten Empfehlung!

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