Der norwegische Polizist Harry Hole tut das Falsche aus den richtigen Gründen und wird weggelobt, um die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Da sein neuer Job aus einer Beförderung mit mehr Gehalt und mehr Langeweile besteht, verbeisst er sich in eine Meldung, dass in einer ländlichen Gegend Schüsse gehört und Patronenhülsen gefunden wurden. Bei der Waffe handelt es sich um eine Märklin – das beliebteste Werkzeug für Attentate. Bald stochert Harry herum in einem Fall, der weit in die Vergangenheit Norwegens zurückreicht, in die Zeit der deutschen Besatzung, in der es zwar Widerstandsgruppen wie den Milorg gab, aber auch viele vom Nationalsozialismus begeisterte Norweger. Daher oder einfach zur Verteidigung der Heimat ("lieber Hitler als Stalin") meldeten sich viele Norweger freiwillig für Hitlers Armee. Die Jagd, auf die sich Hole begibt, ist hochspannend und gefährlich.
https://de.wikipedia.org/wiki/Milorg
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausl%C3%A4ndischeFreiwilligeder_Waffen-SS#Norwegen
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/terje-emberland-ueber-die-norwegische-legion-14300344.html
"[Er] schrieb, dass der Neonazismus, der in ganz Europa während des wirtschaftlichen Aufschwungs der neunziger Jahre zurückgedrängt worden war, jetzt erneut mit frischer Kraft aufblühe. Ein Kennzeichen dieser neuen Welle sei, dass sie stärker ideologisch fundiert sei. Während es bei dem Neonazismus in den achtziger Jahren vor allem um Mut und Gruppenzugehörigkeit gegangen sei, mit uniformähnlicher Kleidung, rasierten Köpfen und archaischen Schlagworten wie "Sieg Heil", sei die neue Welle stärker organisiert. Sie habe einen finanzkräftigen Background und basiere nicht so sehr auf einzelnen vermögenden Anführern oder Sponsoren. Außerdem sei die neue Bewegung nicht bloß eine Reaktion auf bestimmte Phänomene der Gesellschaft, wie die Arbeitslosigkeit oder die Einwanderung ... . Es gehe ihr vielmehr auch darum, eine Alternative zur Sozialdemokratie aufzuzeigen. Das Stichwort sei Aufrüstung: moralisch, militärisch und rassenmäßig. Der Niedergang des Christentums wure als Beispiel für den moralischen Verfall angeführt, neben der Ausbreitung des HI-Virus und dem steigenden Drogenmissbrauch. Und auch das Feindbild sei teilweise neu: Die EU-Vorkämpfer, die die nationalen Grenzen und die Grenzen der Rassen durchbrächen, die NATO, die den russischen und slawischen Untermenschen die Hand biete, und der neue asiatische Kapitaladel, der die Rolle der Juden als Bankiers der Welt übernommen habe." Teil III Urias
So klar ließ das Autor Jo Nesbø eine seiner Figuren schreiben. Das Buch ist von 2000 (deutsche Übersetzuung 2003), und wenn man sich Deutschland 2019 ansieht, damals schon erschreckend deutlich in der Aussage, vor der mir viele heute den Kopf in den Sand zu stecken scheinen.
Harry Hole ist eine schwierige Person, Alkoholiker, meistens trocken, genial, aber nicht sehr talentiert im Umgang mit Menschen. Harry ist gut. So sieht er im Wald die Bäume, als er wegen der Patronenhülsen ermittelt:
"Nein, ich meine, ob ihr die vier Stümpfe dort hinten überprüft habt."
"Und warum sollten wir gerade die angucken?" ...
"Weil Märklin das größte Jagdgewehr der Welt produziert hat. Ein Gewehr von fünfzehn Kilo Gewicht lädt nicht gerade zum Schießen im Stehen ein. Man sollte also davon ausgehen, dass er sich hier auf dem Stein abgestützt hat. Das Märklin-Gewehr wirft die Hülsen auf der rechten Seite aus. Wenn die Hülsen also auf dieser Seite des Steins lagen, hat er in die Richtung geschossen, aus der wir gekommen sind. Es wäre also nicht erstaunlich, wenn er irgendein Zielobjekt auf den Stümpfen dort platziert hätte, nicht wahr?"
Nesbø lässt das Heute mit Harry Hole in den Jahren 1999 und 2000 wechseln mit der Perspektive eines alten Mannes, der eine Waffe kauft und sich zurückerinnert an die Kriegsjahre an der Ostfront und in Wien, ebenso aber mit verschiedenen anderen Protagonisten. Die Wechsel erfolgen dabei besonders im fortgeschrittenen Teil des Buch oft rasant:
"Noch einmal sah er auf seine Uhr. Wo, zum Teufel, blieb er?
Bernt Brandhaug drehte das Glas in seiner Hand und sah erneut auf seine Uhr.
Wo, zum Teufel, blieb sie?"
... der Wechsel kommt hier vor Bernt Branthaug. Das erfordert Konzentration, peitscht aber auch die Spannung hoch.
Dazu kommen die persönlichen Verwicklungen, zum einen ist Harry tief betroffen wegen Ellen, zum anderen trifft ihn Amors Pfeil höchst unerwartet. "Er hatte Lust, sie zu fragen, wohin sie musste, wo sie arbeitete, ob ihr der Job gefiel, was sie sonst noch mochte, ob sie einen Lebensgefährten hatte, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm auf ein Konzert zu gehen, auch wenn es nicht Raga wäre." Nach einer Stunde neben einer Frau, von der er nicht einmal den Namen weiß…
Insgesamt fand ich das ganze ein rundes Paket, ich habe dazu etwas Norwegen und den Zweiten Weltkrieg gelernt, da ich vorher nur über die Besatzung wusste, nicht jedoch über die Freiwilligen. Ich höre zufällig parallel ein Buch mit dem gleichen Setting, Norwegen, heute, damals, Widerstand und Nationalisten, und bin gespannt auf den Vergleich (Gard Sveen). Die Romanze von Hole war mir nicht zu dominant, die einzelnen Stränge wurden für mich zufriedenstellend aufgelöst, etwas mit dem Gefühl von „das gab es ja EIGENTLICH ausreichend Andeutungen“… Ich halte das gut für eine Leserunde geeignet, weil viele Punkte aufgeworfen werden, die sich für eine Diskussion eignen, zu Schuld, Verantwortung, Verpflichtungen aus Liebe. Darüber hinaus gibt es Stränge, über die der Leser besser Bescheid weiß, als die überlebenden Protagonisten, und die zum Teil unaufgeklärt bleiben – auch das wirft Fragen auf (der „Prinz“, Rakel, Brandhaug). Einzig die etwas übereinandergeschachtelte psychologische Komponente bezüglich des Täters und seiner Motivation, das war mir etwas zu dick, wenn auch in sich logisch durchgezogen. 4 ½ Sterne.