Vielversprechend, aber letztlich nicht ganz überzeugend
Lügen, die wir uns erzählenAnne Freytag brachte ich bisher vor allem mit Jugendbüchern in Verbindung , mit „Lügen, die wir uns erzählen“ veröffentlicht sie nun ihren ersten Erwachsenenroman. Für mich war es gleichzeitig das erste ...
Anne Freytag brachte ich bisher vor allem mit Jugendbüchern in Verbindung , mit „Lügen, die wir uns erzählen“ veröffentlicht sie nun ihren ersten Erwachsenenroman. Für mich war es gleichzeitig das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe.
Helene ist 47 Jahre alt, gefeierte Autorin und Programmleiterin eines Verlages, Mutter zweier Teenager, verheiratet mit einem erfolgreichen Anwalt und wohnt in einem großen Haus in einem noblen Stadtteil Münchens – nach außen hin eine Bilderbuchfamilie aus der akademischen Oberschicht. Doch die Fassade bröckelt, als ihr Mann sie für eine andere Frau verlässt und Helene beginnt, ihre Lebensentscheidungen zu hinterfragen. Was, wenn Sie sich damals für Ihre große Liebe Alex in Paris entschieden hätte? Inwieweit hat sie sich von den Erwartungen ihrer Eltern, ihres Umfelds und der Gesellschaft leiten lassen und wer ist sie eigentlich selbst?
Oft sind es die kleinen unscheinbaren Ereignisse, die rückblickend über das weitere Leben entscheiden, und tief im Inneren bleiben wir oft einsam, auch unseren vermeintlich Nächsten fremd, in uns selbst gefangen mit unseren Ängsten, Zweifeln, Prägungen und Verletzungen. Helenes inneren Zwiespalt, die Diskrepanz zwischen ihrem Fühlen und dem äußeren Bild beschreibt Anne Freytag intensiv, eindrücklich und lebendig, Helene war mir sofort nahe und ich konnte mich insbesondere zur Beginn gut in sie hineinversetzen.
Die einzelnen Kapitel springen wild durch die Zeit, von der Gegenwart in verschiedene Stufen der Vergangenheit, und teilweise scheint es, als hätte sich die Autorin hier selbst etwas verzettelt, so dass manches logisch nicht ganz zusammenpasst (so versuchte Helene mit 31 monatelang erfolglos, schwanger zu werden, hatte dann innerhalb eines Jahres zwei Fehlgeburten und wird längere Zeit später tatsächlich schwanger – hat nun aber mit 47 eine 16jährige Tochter. Auch andere Ereignisse sind zunächst 1,5 Jahre, später plötzlich mehrere Jahre auseinander. Im Kapitel „Alexander Finch“ konstatiert Helene: „Alex hatte es also wirklich getan. Er hatte wirklich einen Roman geschrieben.“, und das nachdem Alex bereits Jahre zuvor Romane veröffentlicht hatte und sie auch schon früher auf einer seiner Romanlesungen war. Die Verwunderung ist also unverständlich.)
Die erste Hälfte des Buches habe ich gebannt verschlungen, in der zweiten änderte sich das jedoch zusehends. Helenes Gedanken wiederholten sich immer wieder, hier hätte etwas Straffung gutgetan. Helene wirkt zunehmend selbstsüchtig und selbstmitleidig auf mich, sieht sich vor allem in der Opferrolle, die Bedürfnisse ihrer Kinder und ihres Mannes hinterfragt sie nicht, und ihre jahrelange emotionale Bindung an Alex ist für mich unverständlich – zu sehr empfinde ich ihn als unstet und bindungsunfähig, als dass ich glauben könnte, dass hieraus jemals eine ernsthafte Beziehung hätte entstehen können. Auch Teile der Handlung wirkten auf mich zunehmend unglaubwürdig. Da renovieren zwei handwerkliche Laien angeblich problemlos und in kürzester Zeit eine absolute Bauruine (jeder, der schon selbst gebaut hat, kann hier nur den Kopf schütteln), und die Tochter Anna durchlebt einen plötzlichen und für mich nicht ausreichend motivierten Sinneswandel. Besonders Georgs finale Erklärung für sein Verhalten gegenüber Jonas empfand ich als sehr konstruiert und wenig glaubhaft. Da der Roman so vielversprechend begonnen hatte, fand ich es sehr schade, dass er für mich gegen Ende immer stärker abfiel.
Fazit: Insgesamt ein unterhaltsam geschriebener Roman, der mich leider inhaltlich nicht ganz überzeugen konnte. Hinsichtlich Stil und Thematik könnte ich mir vorstellen, dass Fans von Ildiko von Kürthys Roman „Eine halbe Ewigkeit“ auch Gefallen an „Lügen die wir uns erzählen“ finden könnten.