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Veröffentlicht am 10.04.2024

Über die ungewollten Kinder des Vietnamkrieges

Wo die Asche blüht
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Die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai hat aus der Forschung zu ihrer Promotion nach siebenjähriger Arbeit einen mitreißenden Roman über die vergessenen Kinder amerikanischer Soldaten des Vietnamkrieges geschaffen. ...

Die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai hat aus der Forschung zu ihrer Promotion nach siebenjähriger Arbeit einen mitreißenden Roman über die vergessenen Kinder amerikanischer Soldaten des Vietnamkrieges geschaffen. Mit dem Kriegseintritt der USA 1963 in den Vietnamkrieg (welcher wohlgemerkt aus dem von Frankreich losgetretenen Indochinakrieg entstand) bis zu dem überstürzten Abzug der US-amerikanischen Truppen zehn Jahre später 1973 entstanden gewollt oder (meistens) ungewollt tausende Kinder aus Beziehungen oder Prostitutionsleistungen zwischen vietnamesischen Frauen und amerikanischen Männern. Nguyễn Phan Quế Mai erzählt nun aufgespalten in verschiedene Erzählstränge sowohl die Geschichte von jungen vietnamesischen Frauen zur Zeit des Krieges, amerikanischen Soldaten während und nach dem Krieg als auch sogenannten „Amerasiern“ (den Kindern aus den o.g. Verbindungen) nach dem Krieg und damit der Übernahme des Südens Vietnams durch die kommunistischen Truppen des Nordens.

Die Autorin verwebt sehr geschickt die Geschichten verschiedener betroffener Personen in ihrem Roman. So begleiten wir die 18jährige Trang mit ihrer 16jährigen Schwester Quỳnh 1969 aus einer Provinz nach Saigon, die dort aufgrund von finanziellen Sorgen der als Reisbauern tätigen Eltern als sogenannte „Barmädchen“ anheuern und nicht nur mit amerikanischen Soldaten flirten sondern sie auch sexuell befriedigen sollen. In einem weiteren Zeitstrang im Jahre 2016 lernen wir Phong kennen, der nun knapp über 40 Jahre alt, versucht seine Eltern aufzuspüren. Denn er ist optisch eindeutig der Sohn eines Schwarzen Soldaten, wurde jedoch direkt nach seiner Geburt in einem Waisenhaus abgegeben und musste ein fürchterliches Leben fristen als „Kind des Feindes“. Zuletzt lernen wir noch Dan kennen, der als 20jähriger Soldat in Vietnam gekämpft hat und in 2016 mit seiner Ehefrau Linda als therapeutische Intervention aufgrund seiner Posttraumatischen Belastungsstörung zurück in das Land seiner Alpträume reist. Was seine Frau nicht weiß: Auch er hat damals ein Kind mit einer Vietnamesin gezeugt.

Durch einen gekonnten Wechsel zwischen diesen Erzählsträngen entwirft die Autorin nun eine Geschichte um die Schicksale, die ein so fürchterlicher Krieg hervorbringt. Wobei sie die Auswirkungen des Krieges jenseits der daraus resultierenden Toten und Verletzten darstellt. Sie verzichtet größtenteils auf Gewaltdarstellungen, sondern deutet nur an. Es geht ihr um die Überlebenden, die ein Leben lang - und über mehrere Generationen hinweg - mit den Folgen umgehen müssen. Gleichzeitig schafft sie mithilfe ihrer Figuren und deren Erfahrungen und Unterhaltungen untereinander ein tiefgreifendes Verständnis dieses Krieges ganz ab von den in der westlichen Welt verbreiteten Filmen. Denn auch wenn in der westlichen Popkultur meist Antikriegswerke entstanden sind, sind diese doch fast ausschließlich aus Sicht von US-Amerikanern gezeichnet. Ein Manko, welches auch schon und noch deutlicher Nguyễn Thanh Việt (in Deutschland unter Viet Thanh Nguyen bekannt) in seinem großartigen Roman „Die Sympathisanten“ anprangerte.

Nguyễn Phan Quế Mai gibt ihren Figuren die nötige Tiefe, sodass der Roman nie rein programmatisch wirkt, sondern immer auch emotional berührt. Er liest sich unglaublich süffig und fesselt bis zur letzten Seite. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Und während man diese mitreißende Geschichte liest, lernt man unglaublich viel über diesen komplizierten Konflikt und die Folgen für das Land und die Menschen bis in die heutige Zeit hinein.

Allein gegen Ende kommt es zu einer Plotentwicklung, die mir etwas zu überzufällig erschien, weshalb ich nicht ganz die volle Punktzahl vergeben kann. Mit Blick auf das gesamte Werk fällt dies jedoch nicht schwer ins Gewicht. Denn insgesamt handelt es sich um einen unglaublich lesenswerten Roman, der geschickt konstruiert ist und durch seiner Figurenzeichnung besticht. Deshalb gibt es von mir eine eindeutige Leseempfehlung für „Wo die Asche blüht“. Und wer sich noch weiter ins Thema einlesen möchte, dem seien die Werke von Nguyễn Thanh Việt ans Herz gelegt.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 25.03.2024

Sehr informative und abwechslungsreiche Zusammenstellung

Unlearn Patriarchy 2
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Im zweiten Band mit der Prämisse „Das Patriarchat verlernen“ stellen Emilia Roig, Alexandra Zykunov und Silvie Horch als Herausgeber:innen einen bunten Mix aus Themen zusammen, die aufzeigen, wie stark ...

Im zweiten Band mit der Prämisse „Das Patriarchat verlernen“ stellen Emilia Roig, Alexandra Zykunov und Silvie Horch als Herausgeber:innen einen bunten Mix aus Themen zusammen, die aufzeigen, wie stark unsere heutige Gesellschaft weiterhin historisch fest verankerte, patriarchale Systeme als Grundlage haben und somit eine Ungleichheit weiterhin besteht. Die Essays zielen dabei allerdings nicht darauf ab, allein mit dem erhobenem Zeigefinger zu arbeiten, sondern weisen stets auch einen sowie persönlichen als auch systemischen Weg aus dem Ungerechtigkeitssystem.

So versammelt der Band, nachdem er eingangs einige grundsätzliche Begrifflichkeiten wie z.B. „BIPoC“, „cis“, „intersektional“ etc. erläutert, 13 Essays von insgesamt 14 Autor:innen, darunter auch eine der Herausgeber:innen Alexandra Zykunov zu den Themengebieten Körper, Architektur, Erziehung, Sport, Ableismus, Recht, psychische Gesundheit, Klasse, Gender Pay Gap, Kreig und Genozid, Kirche, Medizin sowie Literatur. Aus dieser Liste geht bereits hervor, dass sich die Autor:innen bzw. Wissenschaftler:innen nicht „nur“ mit weißen feministischen Themen beschäftigen, sondern jedes Feld intersektional betrachten, d.h. „unter Beachtung der Verschränkung und Wechselwirkung (englisch: intersection) verschiedener Unterdrückungssysteme und Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus, Homo- und Transdiskriminierung“. Soll heißen, es ist nicht nur nachgewiesen so, dass weiße, cis Frauen eine schlechtere medizinische Versorgung erhalten, sondern vor allem dass – kommen mehrere Faktoren zusammen – eine noch viel schlechtere Versorgungssituation für z.B. eine Schwarze, arme Frauen, die zusätzlich eine geistige Behinderung aufweist, nachweisbar ist.

Gerade diese immer wieder in den Texten anhand von Beispielen und wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesenen Diskriminierungen in der heutigen Zeit rütteln auf und berühren beim Lesen immer wieder. Wichtig ist für mich, dass die Texte größtenteils auf wissenschaftlichen Daten basieren und dies auch sehr ausführlich durch die Anmerkungen im Anhang untermauert wird. So kann niemand mehr die Augen vor den Ungerechtigkeiten mit der Begründung verschließen, dass seien doch alles nur subjektive Einschätzungen und Befindlichkeiten. Da es sich um Essays handelt, gibt es meist zu Beginn oder zum Ende eines Textes hin durchaus auch persönliche Schilderungen von Lebensumständen oder Geschehnissen, die die jeweilige Autor:in betrifft, so funktionieren nun einmal Essays, aber dies wird immer im Text verdeutlicht und nie vermischt. Die Essays sind allesamt unheimlich kluge, wissenschaftlich fundierte Kommentare zur Entstehung und aktuellen Situation von gesellschaftlichen Problembereichen.

Allein im allerersten Text zu Thema „Körper“ von Yassamin-Sophia Boussoud erschien mir die Wortwahl manchmal gefühlt etwas unwissenschaftlich. Dieser Text ist inhaltlich definitiv auch erhellend und lesenswert, leider enttäuschte er mich sprachlich, werden doch recht heftige Formulierungen genutzt wie „Fickbarkeit“ oder recht sperrige Formulierungen angewandt. Darin kommen Sätze vor wie: „Meines Erachtens lässt sich diese Theorie auch auf dicke, fette, dick_fette, mehr- und hochgewichtige, nicht normschöne Schwarze und Braune Frauen, weiblich gelesene und weiblich misgenderte Personen anwenden.“ Zum einen wird leider nirgends, auch in den Anmerkungen nicht, erläutert, wo der Unterschied zwischen den verschiedenen Bezeichnungen für Übergewichtigkeit liegt, zum anderen verliert man hier ab und an den Faden, wenn alle Varianten einzeln aufgezählt werden. Somit vermute ich, dass Leser:innen, die sich dieses Buch ganz unbedarft greifen, um einmal einen ersten Blick in diese Themenbereiche zu werfen, gerade vom ersten Text über „Körper“ abgeschreckt werden könnten. Hätten die Herausgeber:innen diesen in die Mitte des Buches gesetzt, wären die Leser:innen schon quasi „im flow“ und der Text dadurch leichter verständlich.

Insgesamt kann man für dieser detaillierten, gehaltvollen Zusammenstellung nur den Hut ziehen und sich darüber bestens ein breites Wissen aneignen, um sich die vielfältigen, real existierenden Diskriminierungen in unserer Welt vor Augen zu führen. Wer darüber hinaus tiefer in gewisse Themen einsteigen möchte, bekommt durch die ausführlichen Literaturhinweise im Anhang die Chance dazu.

Da mir persönlich noch der Vorgängerband fehlt (übrigens ist es nicht zwingend notwendig diesen vorab gelesen zu haben), werde ich diesen nun auch noch lesen, denn man wird durch die Lektüre definitiv klüger und auch schlagfertiger für gewisse Diskussionen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 09.03.2024

Interessant gemachtes moralphilosophisches Gedankenexperiment

Das andere Tal
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Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen ...

Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen Fragen. Das geschieht im Gewand eines zunächst sogar eher wie ein Jugendbuch anmutenden Romans, der sich in der zweiten Hälfte zu einer hoch spannenden Lektüre entwickelt und eine unerwartete Auflösung bietet.

Odile ist gerade sechzehn geworden und lebt auf den ersten Blick das Leben einer durchschnittlichen Jugendlichen, die aber nicht so recht in die Gruppendynamiken der Schule passt. Man merkt schnell, dass die Stadt, in der sie lebt, irgendwie anders ist, als das, was wir von unserer Gegenwart kennen. Die Stadt, die verwendete Technik, die Personen scheinen wie aus der Zeit gefallen. Unbestimmbar. Und mit „der Zeit“ hat es hier auch etwas ganz Besonderes auf sich, denn die Stadt befindet sich in einem Tal und würde man nach Westen reisen, ins nächste Tal, befände sich dort der gleiche Ort aber 20 Jahre in der Vergangenheit. Der nächste Ort im Westen, wieder weitere 20 Jahre (also insgesamt 40 Jahre) in der Vergangenheit. In Richtung Osten würden wir uns in die Zukunft, auch in 20er Schritten, bewegen. Nun steht Odile zwar eigentlich „nur“ vor der Entscheidung, die jede Person zum Abschluss der Schulzeit treffen muss, nämlich welche Ausbildung sie beginnen möchte. Doch ihre Geschichte ist komplizierter, da sie sich für das Conseil bewirbt, welches eine Art ethisches Gericht ist, welches entscheidet, wer im Trauerfall die Wanderung in die Vergangenheit antreten darf, um seine Liebsten noch einmal aus Entfernung sehen zu können. Gleichzeitig wird sie verstrickt in genau einen solchen Vorgang und folgenschwere Geschehnisse werden losgetreten.

Scott Alexander Howard hat hier ein wirklich spannendes Gedankenexperiment um Zeitreisen, Trauer und ethisch-moralische Entscheidungen entworfen. Durch seine Prämisse der zeitverschobenen Täler umgeht er technische Fragen zum Thema Zeitreisen komplett, wenn auch nicht die daraus entstehenden Paradoxa. Es macht Spaß diesem Gedankenexperiment zu folgen, auch wenn in der ersten Hälfte des Romans es manchmal so wirkt, als ob der Autor Vignetten mit moralischen Fragestellungen aus seinen Philosophieseminaren eingebunden hat. Das wirkt zunächst ein wenig didaktisch und könnte daher auch durchaus für den Schulunterricht genutzt werden. Trotzdem bleibt der Roman für erwachsene Leser:innen auch immer interessant und wird im Verlauf immer spannender. Zuletzt habe ich richtig mit der Protagonistin mitgefiebert und wollte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Der Autor löst ein gewisses Problem des hiesigen Zeitreisekonzeptes geschickt auf und lässt die Geschichte von Odile wunderbar offen.

Sprachlich liest sich der Roman, wenn man sich erst einmal an die mitunter wenig gängigen französischen Namen gewöhnt hat, sehr flüssig runter, ohne zu simpel geschrieben zu sein. Den Charakteren, auch neben Odile als Ich-Erzählerin, folgt man sehr gern. Howard kann die Atmosphäre dieses Tals ganz wunderbar heraufbeschwören, sodass man problemlos in die Geschichte eintauchen kann und vor dem inneren Auge einen spannenden Film sieht. Apropos Film: Das Buch soll als Miniserie verfilmt werden, was man sich bei diesem Stoff sehr gut vorstellen kann.

Insgesamt hat mich der Roman nicht nur sehr gut unterhalten sondern gleichzeitig ein interessantes, für mich ein neues Konzept für Zeitreise entworfen und Fragen zum Thema Trauerarbeit aufgeworfen. Erfrischend.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 29.01.2024

"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945"...

Bestseller
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"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945" ist ein Prädikat, welches diesem Sachbuch von Jörg Magenau zwar nicht verliehen werden wird, was aber wohl bei Wikipedia gefühlt jedem etwas häufiger verkauftem Buch ...

"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945" ist ein Prädikat, welches diesem Sachbuch von Jörg Magenau zwar nicht verliehen werden wird, was aber wohl bei Wikipedia gefühlt jedem etwas häufiger verkauftem Buch aufgestempelt wird. Dass dergleichen schon einmal gar nicht möglich ist, dass es eigentlich nur ein einziges "bestverkaufte" (Sach-)Buch nach 1945 geben kann, scheint den Verfassern bei Wikipedia nichts zu stören. Auf solche Kuriositäten wird man in Jörg Magenaus Buch über die Bestseller in der BRD nach 1945 aufmerksam gemacht.

Man erfährt aber noch jede Menge mehr. Nämlich, zu welchen Themengebieten es richtiggehend Wellen des Leseinteresses in den verschiedenen Phasen im Westdeutschland der Nachkriegszeit gegeben hat. Zunächst das Verdrängen durch Lektüre von Büchern, die sich mit der ferneren Vergangenheit archäologisch beschäftigen, später die fast manische Auseinandersetzung mit Hitler und "seinen Helfern" oder 15 Jahre nach der Wende die buchpreisgekürten DDR-Familienromane. Magenau beschäftigt sich sowohl mit den Belletristik- als auch Sachbuch-Bestsellern, erläutert wie diese Bestsellerlisten überhaupt entstehen und warum man (logischerweise) keine solche Betrachtung für die Buchverkäufe in der DDR möglich sind. So rattert er aber auch eben nicht einfach nur stur die jeweiligen Bestseller der einzelnen Jahre nach 1945 runter, sondern gruppiert sie zu Themengebieten, erörtert, warum gerade diese Bücher so beliebt waren (und teilweise noch sind). Auf einzelne Bücher geht der Autor dann noch detailliert ein, fasst Inhalt zusammen und kann seinen Wurzeln als Feuilletonist nicht entkommen, wenn er diese durchaus nicht nur objektiv analysiert. So scheint beim Lesen vielfach durch, was der Autor von den jeweiligen Büchern hält und dass er einzelne Bestseller als anspruchsvolle (Unterhaltungs-)Literatur und wissenswerte Sachbücher bewertet, andere hingegen eher belustigt betrachtet und tatsächlich, wie es bei einem Bestseller nun einmal fast unumgänglich ist, für die breite Masse herausgegeben empfindet, worunter das Niveau leidet.

Insgesamt ist dieses Buch für mich ein nicht nur rein literaturhistorisches, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit den Strömungen innerhalb einer Gesellschaft und dem Zeitgeist in verschiedenen Jahrzehnten. Man lernt nicht nur etwas über die besprochenen Bücher, sondern auch über das Nachkriegs(west-)deutschland, ein winziges Bisschen auch über die DDR. Das Buch ist keineswegs trocken, sondern liest sich flott herunter. Eine perfekte Kombination aus Informationen und Lesespaß.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Unfassbarer Schmerz

Erschütterung
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Wenn das eigene Kind eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert bekommt, ist die menschliche Seele kaum oder gar nicht in der Lage diese Situation einigermaßen zu bewältigen. Es ist eine massive Erschütterung ...

Wenn das eigene Kind eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert bekommt, ist die menschliche Seele kaum oder gar nicht in der Lage diese Situation einigermaßen zu bewältigen. Es ist eine massive Erschütterung der Vorstellung von Leben, wie es sein sollte. Am liebsten würde man einfach nicht mehr daran denken müssen, sich ablenken, wegrennen, wenn es schon nicht geht aus eigener Kraft das eigene Kind zu beschützen, zu retten. Denn nur diese eine Funktion hat ein Elternteil ab der Geburt des Kindes. So Zach Wells, der erzählende Protagonist des Romans "Erschütterung" von Percival Everett.

Wie eine Familie mit dem steten, krankheitsbedingten Verfall des Kindes umgeht, erzählt Everett psychologisch feinsinnig aber nie sentimental-kitschig in diesem berührenden Roman. Die Konstruktion des Romans ist dabei eigenwillig, hängt aber nie seine Leserinnen ab. Selten habe ich von einer solch innigen Beziehung zwischen Vater und frühreifen, intelligenten Tochter gelesen, wie hier. Dieses Gespann erzeugt so viel Herzenswärme, dass es einem eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn man später von der immer größer werdenden Distanzierung liest. Meisterhaft beschreibt Everett die seltene Erkrankung und den Verfall der Tochter Sarah, tiefgründig der Kampf der Eltern um sie als auch im ihre Beziehung zueinander. Und Everett nimmt immer wieder in den Fokus, auf welche Weise der Mensch Ablenkung, Erleichterung, vielleicht auch Erlösung in dieser unerträglich erschütternden Lebenssituation sucht. So driftet der Plot immer mehr zu Zachs Versuchen ab, wenn schon nicht seine Tochter, dann doch andere Personen zu retten. Der Roman bekommt zum Ende hin einen durchaus spannenden Thriller-Plottwist, der thematisch in eine ganz andere Richtung geht. Auch diesen Teil des Buches habe ich mit angehaltenem Atem gelesen, finde jedoch, dass der Autor damit zu viele Themen eröffnet und damit vom zentralen Thema der Vater-Tochter-Beziehung zu weit abdriftet. Was er damit bezwecken wollte, ist mir durchaus bewusst, es gibt diesem großartigen Roman dadurch aber eine Unwucht, die er nicht gebraucht hätte.

"Telephone" ist der Originaltitel dieses Romans des Pulitzer Prize Finalisten. Das ist dahingehend wichtig, da er sich auf das (im Deutschen) Spiel "Stille Post" bezieht. Eine Nachricht verändert sich, umso häufiger sie weitergesagt wird. Eine Geschichte verändert sich, umso häufiger sie erzählt wird. Und: In der amerikanischen Originalausgabe erscheinen drei Versionen des Romans. Drei verschiedene Cover mit drei leicht verschiedenen Enden. Die Entscheidung, sich bei "Nichtgefallen" des Ausgangs des Romans, einfach eine andere Version zu besorgen, jedoch nie zu wissen, ob man ein besseres oder schlechteres Ende dadurch für sich selbst schafft, hat noch einmal eine ganz andere Durchschlagskraft in Bezug auf die Geschichte von Zach und seiner Tochter. Uns Leser
innen in Deutschland wird (meines Wissens) diese Möglichkeit der Entscheidungsfindung nicht ermöglicht. Wir müssen damit klarkommen, was der Verlag für uns ausgesucht hat und uns unserem und Zachs Schicksal fügen.

Insgesamt handelt es sich meines Erachtens bei diesem Buch um einen absolut berührenden, schmerzhaften, großartigen Roman, der eine einmalige Vater-Tochter-Geschichte erzählt. Diese Geschichte wird mich noch lange begleiten. Deshalb runde ich - trotz vorhandener Kritikpunkte - guten Gewissens auf 5 Sterne auf.

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