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Veröffentlicht am 09.02.2023

Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

Liebes Arschloch
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„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer ...

„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 28.06.2024

Historisch wichtige Perspektive

Nach uns der Sturm
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Die malaysische Schriftstellerin Vanessa Chan wirft in ihrem Debütroman einen Blick in die aufwühlende Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dieses war zunächst von der britischen Kolonialmacht und später ...

Die malaysische Schriftstellerin Vanessa Chan wirft in ihrem Debütroman einen Blick in die aufwühlende Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dieses war zunächst von der britischen Kolonialmacht und später ab 1941 bis 1945 von Japan besetzt. Chan erzählt die schockierende Geschichte einer Frau, malayischem (da Malaysia früher Malaya hieß) und britischem Ursprungs, die noch in den 30ern die britischen Kolonialisten aus dem Land haben wollte und deshalb für die Japaner spionierte, nur um dann ab 1941 die volle Härte der japanischen Besatzungsmacht zu spüren. Cecilys Familie erleidet schwere Schicksalsschläge unter den Japanern, sodass die Mutter von drei Kindern unter ihrer Schuld zu zerbrechen droht.

Die Besatzung vieler Gebiete in Südostasien durch die Japaner während des Zweiten Weltkriegs ist ein Thema, welches bisher kaum Eingang in das Allgemeinwissen von im Westen sozialisierten gefunden hat. Mit großer Brutalität unterwarf das japanische Militär die Gebiete unter dem vorgeblichen Ziel „Asien den Asiaten“, dass dabei mitunter mehr Menschen der besetzten Länder in kürzester Zeit umkamen als unter der Kolonialmacht unterstreicht Chan in ihrem Roman.

Mir hat „Nach uns der Sturm“ (im englischen Original „The Storm We Made“, was mir inhaltlich passender erscheint) über weite Strecken wirklich sehr gut gefallen. Chan konstruiert den Roman so, dass wir zwischen einem Vergangenheitsstrang, der 1935 einsetzt und in dem Cecily beginnt für den Japaner Fuijwara zu spionieren sowie in eine gefährliche Abhängigkeit zu ihm rutscht, und mehreren Gegenwartssträngen in 1945 mit Wechseln zwischen den Perspektiven von Cecily sowie ihren drei Kindern Jujube, Abel und Jasmin. Alle Erzählstränge zusammen ergeben ein aufschlussreiches Bild von den damaligen Verhältnissen zunächst unter den Briten und später unter den Japanern, sodass sich einige Wissenslücken im Laufe der Lektüre füllen. Denn die große Schwester Jujube zeigt einen blinden Fleck im Interesse der Weltgemeinschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf, wenn sie auf Seite 66 über die Frontmeldungen aus Europa nachdenkt und dann auf ihr Heimatland blickt:

„Vielleicht haben sie uns vergessen, dachte Jujube, diese westlichen Fronten, Städte mit Namen, die einem schwer von der Zunge gingen, Orte, die sie im Atlas fand, sich aber nicht vorstellen konnte. Vielleicht waren Menschen wie sie, Jasmin und Abel nicht wichtig – hier in einem kleinen tropischen Winkel im Osten, wo sie von Menschen brutal behandelt wurden, die fast genauso aussahen wie sie selbst.“

Die Einwohner (damals noch) Malayas werden in Arbeitslager verschleppt und zu „Trostfrauen“ für die japanischen Soldaten gemacht. Und das alles unter dem Befehl von Fujiwara, der als General mittlerweile der Befehlshaber über Malaya ist. Als Cecilys Sohn verschwindet und die jüngste Tochter Jasmin versteckt werden muss leidet ihre psychische Gesundheit mehr und mehr unter ihrer Schuld. Das ist gut gemacht und hat mich durchgängig mit dem Schicksal der Familie mitfiebern lassen. Chan schreibt dabei eher einfach und legt mehr Wert auf die Darstellung des Leids der malayischen Bevölkerung. Gerade Abels Zeit im Arbeitslager ging mir dabei besonders an die Nieren.

Leider lässt meines Erachtens gerade gegen Ende die Qualität des Romans nach, wenn die Autorin zu stark etwas herankonstruiert und damit die Wahrscheinlichkeitstheorie auch entsprechend strapaziert. Alles wird hoch dramatisch inszeniert, obwohl es dem Roman zuvor nicht an realer Dramatik gefehlt hätte. Die Figuren, welche zunächst für sich genommen interessante Entwicklungen durchliefen, neigen nun zu übertriebenem bis wenig nachvollziehbarem Verhalten. Die Autorin ändert im letzten Teil des Buches auch die Erzählgeschwindigkeit, was mir abschließend nicht sonderlich gut gefiel. Da sich alles um die letzten Tage im August verdichtet, nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki ab dem 09. August, der Radioansprache Kaiser Hirohitos am 15. August mit der Bekanntgabe der bedingungslosen Kapitulation Japans und noch vor der Unterzeichnung der offiziellen Kapitulation Japans am 02. September 1945 wird es schwer den historischen Abläufen zu folgen, da in Malaya scheinbar weiterhin japanische Soldaten das Sagen hatten. Zur Verwirrung trägt auch eine Stelle im Buch, die am 30. August 1945 spielt, bei, wo es heißt: „...im Radio kamen Nachrichten über Kapitulationen, über enorme Verluste in den von den Nazis besetzten Regionen, über lokale Aufstände in japanischen Gebieten.“ Welche von Nazis besetzte Gebiete gab es noch Ende August 1945?!

So fällt mir die abschließende Bewertung dieses Romans sehr schwer. Über weite Strecken war er sehr informativ mit hoher historischer Signifikanz. Es ist wichtig, dass dieser Roman veröffentlicht wird und somit den Fokus auch auf andere Regionen der Welt und deren Schicksal während des Zweiten Weltkrieges richtet. Die Entwicklung der Figuren und ihr Innenleben ließ abschließend aber leider zu wünschen übrig und die „überzufällige“ Konstruktion zum Schluss haben mich gestört. Aufgrund der mithilfe des Romans eingenommenen historischen Perspektive durch die Augen einer malayischen Familie und der damit einhergehenden Denkanstöße entscheide ich mich im Zweifel für ein Aufrunden.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Gute Fortsetzung zu „22 Bahnen“

Windstärke 17
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Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch ...

Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Meines Erachtens vollkommen zu Recht! Dort drehte sich alles um Tilda, Anfang Zwanzig, die mit Nebenjobs versucht nicht nur ihr eigenes Mathematik-Studium zu finanzieren, sondern auch noch das Leben der alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Halbschwester Ida. Sie trifft außerdem einen alten Schulkameraden Viktor wieder, verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten, denn auch er hat familiär viel zu tragen, und schafft es letztlich sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für eine andere Stadt und damit ihren Traum von der Promotion zu entscheiden.

Warum erzähle ich hier, was in „22 Bahnen“ passiert? Weil vom groben Konstrukt her ähnliches in „Windstärke 17“ passiert. Hier begleiten wir die nun auch Anfang Zwanzigjährige Ida, die ihr Literaturstudium weiterhin in der Heimatstadt verfolgte und bei der alkoholkranken Mutter wohnte. Nun erfahren wir allerdings, dass die Mutter vor wenigen Wochen verstorben ist und Ida muss mit ihrer Trauer aber auch mit der Entscheidung, wie ihr Leben weitergehen soll, zurechtkommen. Sie flüchtet auf die Insel Rügen, wird von einem liebevollen, alten Ehepaar aufgenommen und lernt Leif, der ebenso familiär und persönlich schon viel zu tragen hat, kennen und verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten in ihn. Mithilfe von Leif und dem Ehepaar lernt sie mit ihrer Trauer umzugehen, sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für ihren Wunsch vom Schreiben zu entscheiden. Während für Tilda das Freibad und die Regelmäßigkeit des Bahnenschwimmens ein wichtiger Copingmechanismus ist, stellt dies für Ida die Ostsee und das lebensgefährlich weite Rausschwimmen dar. Fällt euch etwas auf?

Für sich genommen ist „Windstärke 17“ wieder ein schön geschriebener Roman, der Menschen in belastenden Lebenssituationen zeigt und die Möglichkeiten diese mit Hilfe von anderen und durch eigene gefundene Stärke zu bewältigen. Das kann Caroline Wahl wirklich sehr gut. Allerdings drängt sich für mich die Frage auf, warum dieser Folgeroman unbedingt so stark dem erfolgreichen Debüt ähneln muss. Natürlich gibt es auch Unterschiede, keine Frage. Aber diese reichen mir nicht aus, um eine erneut hervorragende Leseerfahrung zu haben. Außerdem störten mich in diesem Buch die Dialoge ab und an. Diese wechseln zwischen in Anführungszeichen gesetzte Sätze, die im Fließtext auftauchen (so mag ich es) und Dialogen, die formell wie in einem Theaterstück über Seiten hinweg untereinander angeordnet sind. Mir kommt es generell so vor, als ob dieser Roman dialoglastiger ist als der vorherige. Und das, was ich hier gerade mache, ist auch ein Problem, welches mit der Entscheidung einen so ähnlichen Roman zu schreiben, einhergeht: Man vergleicht unwillkürlich oder auch willkürlich während des Lesens ständig „Windstärke 17“ mit seinem Vorgänger „22 Bahnen“. Diese Nähe tut meines Erachtens dem vorliegenden Roman nicht gut.

Ich habe „Windstärke 17“ durchaus gern gelesen und auch an der ein oder anderen Stelle mit Ida mitgefiebert, fand viele Figuren sehr interessant und die Dynamiken gut dargestellt. Trotzdem habe ich im Hinterkopf wie sehr mir damals „22 Bahnen“ gefiel und ich finde, dieser hier kommt da nicht heran. Und es tut mir so leid, dass ich den Vergleich nicht einfach weglassen kann. Das provoziert die Autorin leider durch ihre Themen- und Plotwahl. Ich hätte gern mal ein ganz anderes Buch dieser vielversprechenden Autorin gelesen.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 13.03.2024

Ausführliche ethische Betrachtung eines medizinischen Durchbruchs

Wir werden jung sein
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Maxim Leo macht es sich in seinem aktuellen Roman zur Aufgabe die Frage, wie einzelne Menschen, die Gesellschaft und die Politik auf eine zufällig entdeckten Verjüngungsmedikation reagieren könnten. Das ...

Maxim Leo macht es sich in seinem aktuellen Roman zur Aufgabe die Frage, wie einzelne Menschen, die Gesellschaft und die Politik auf eine zufällig entdeckten Verjüngungsmedikation reagieren könnten. Das ist ein spannendes Gedankenexperiment, welches hier aber auch literarische Schwächen aufweist.

Ein Forscher der Berliner Charité wollte eigentlich Herzinsuffizienzen heilen, indem er ein Medikament entwickelte, welches die DNA der Herzzellen verjüngen und damit eine symptomatische Verbesserung bis hin zu einem vollkommen gesunden Herzen anstoßen sollte. Ein Jahr nach dem Start der Studie an vier Patient:innen sowie zwei weiteren Testobjekten, die außerhalb der Studie stehen, stellt sich allerdings heraus, dass nicht nur das Herzleiden kuriert ist, sondern eine allgemeine Verjüngung des gesamten Organismus stattfindet. An diesem Punkt der Geschichte setzt die Erzählung ein und verfolgt die nicht nur persönlichen sondern auch gesellschaftlichen Entwicklungen, die ein solches Forschungsergebnis nach sich ziehen kann.

Die Geschichte wird durch einzelne Kapitel strukturiert, welche mithilfe der personalen Erzählperspektive immer wieder die Geschehnisse aus der Sicht einer der betroffenen Testpersonen, als auch des Forschers sowie der Leiterin des Deutschen Ethikrates und in Personalunion Beraterin der Bundesregierung in (medizin-)ethischen Fragestellungen vermittelt. Hier gelingt es Leo sehr gut die einzelnen Erzählstimmen authentisch zu erschaffen, die von einem sechzehnjährigen Jugendlichen, über eine Mitte dreißigjährige Ex-Profischwimmerin, eine Frau Ende Dreißig, die verzweifelt eine Fertilisierungsbehandlung nach der nächsten durchläuft, um endlich schwanger zu werden, bis hin zu einem achtzigjährigen Firmenchef, sowie dem Forscher als auch der Ethikerin rangieren. Das ist wirklich sehr gut gemacht.

Während der Plot seinen Lauf nimmt, der mitunter richtig Spannung erzeugt wie bei einem Wissenschaftsthriller, webt Leo alle erdenklichen Vor- und Nachteile eines solchen Verjüngungsmedikaments für die einzelne Person als auch die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik ein. Das passiert meines Erachtens aber manchmal etwas zu gewollt, sodass das Buch über weite Strecken recht edukativ wirkt. Da wirklich jeder Aspekt beleuchtet wird, wird aber auch der Leserschaft das selbstständige Denken fast vollständig abgenommen. Zumindest kann man sich nach Abschluss der Lektüre als hervorragend informiert zum Themenbereich fühlen. Maxim Leo hat hier herausragende Recherchearbeit geleistet. Von der ethisch-wissenschaftlichen Seite finde ich das auch durchaus toll, ist es doch als hätte man gerade einen Bericht des Deutschen Ethikrats in Romanform gelesen. Somit wird die Causa niemals trocken oder langweilig vermittelt. So bleibt einem eigentlich zum Schluss nur noch sich selbst einzuordnen mit seiner informierten Meinung zu den Verjüngungsmedikamenten, denn eine abschließende Einschätzung drückt einem der Roman zum Glück nicht auf.

Für mich zeigen sich kleinere Schwachstellen eher in der literarischen Verarbeitung des Stoffs. Zum einen möchte ich als Leserin gern noch ein wenig selbst nachdenken beim Lesen. Zum anderen finde ich den Abschluss des Romans nicht sonderlich gelungen. Er erscheint etwas schnell runtererzählt. Dabei taucht die Figur der Ethikerin einfach gar nicht mehr auf und verschwindet einfach in der Bedeutungslosigkeit, was meines Erachtens ein Kardinalfehler ist, wenn diese Figur doch zu Beginn zu den Hauptcharakteren gehört hat und sogar immer wieder Einzelkapitel zugestanden bekommen hat. Es wirkt, als hätte der Autor sie einfach in seinem etwas hektischem Schluss tatsächlich vergessen. Zum anderen schließt das Buch mit einer Art Epilog, in dem noch einmal blitzlichtartig ein Blick auf die Leben der einzelnen Protagonist:innen geworfen wird. Das erschien mir zu gewollt angepfropft und machte den Roman eher unrund.

Insgesamt halte ich den sehr soliden Roman als definitiv lesenswert, besonders aufgrund der wirklich ausführlichen Betrachtungen zur Debatte. Wenn man den Roman dann eher als leichtgängigen, unterhaltsamen Beitrag sieht und weniger als ausgefeiltes, literarisches Werk, kommt man definitiv auf seine Kosten. Im besten Falle werden viele Menschen durch den Roman von Maxim Leo für die Thematik sensibilisiert und werden dadurch im – nicht ganz unwahrscheinlichen – Falle der realen Entdeckung eines solchen Medikaments zu mündigeren Bürger:innen. Deshalb habe ich mich abschließend doch für ein Aufrunden entscheiden.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.02.2024

Unterhaltsam trotz nur schwer erträglichem Thema

Lil
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In seinem nur 240 Seiten kurzen Roman verarbeitet Markus Gasser auf eine rasante und überraschend unterhaltsame Weise die Geschichte zweier - aber natürlich vieler - Frauen, die eigentlich kaum auszuhalten ...

In seinem nur 240 Seiten kurzen Roman verarbeitet Markus Gasser auf eine rasante und überraschend unterhaltsame Weise die Geschichte zweier - aber natürlich vieler - Frauen, die eigentlich kaum auszuhalten ist ob ihrer Scheußlichkeit und doch aushaltbar literarisch umgesetzt ist.

Sarah, eine Frau aus der heutigen Zeit, Journalistin beim Wall Street Journal, selbstständig, modern, mit Hund und Apartment in Greenich Village, erzählt uns - oder vielmehr ihrer Hündin Miss Brontë - die Geschichte ihrer Ururururgroßmutter Lillian Cutting, kurz Lil, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als Eisenbahnmagnatin zu den „Oberen 400“ der New Yorker High Society und des Geldadels gehörte, deren Selbstständigkeit allerdings nicht gern gesehen wurde und sie daher einer infamen Intrige zum Opfer fiel. Lil ist eine taffe Frau, die sich nur zwei Sachen hat zuschulden kommen lassen: Sie trauert über drei Jahre um ihren geliebten verstorbenen Ehemann und sie hat einem Sohn das leben geschenkt, der ein besonders abscheuliches männliches Exemplar ist. Natürlich hat sie sich auch ganz grundsätzlich vielerlei andere Dinge aus Sicht ihrer Zeitgenossen zuschulden kommen lassen, die allesamt mit der unerwünschten Selbstständigkeit einer Frau zu tun haben. Die Intrige führt zu einer unfreiwilligen Hospitalisierung in einer der ersten psychiatrischen Heime seiner Zeit und wir folgen nun Sarah in ihrer Erzählung der märchenhaften Geschichte ihrer Ur-Ahnin um Emanzipation, Gerechtigkeit und Rache und erfahrend dabei auch einiges über Sarah selbst.

Musste ich mich zunächst in den Erzählstil dieses Romans hineinfinden, packte mich doch die Geschichte der Frauen mit Haut und Haaren. Auf den ersten Blick erzählt hier Sarah mit einem recht flapsigen, sarkastisch-humoristischen Ton (besonders im ersten Drittel des Buches) die Geschichte von Lil. Dabei spricht sie nicht nur direkt ihre Hündin Miss Brontë direkt an, sondern diese antwortet ihr sogar! Was sich zunächst etwas merkwürdig anfühlt, wird im Verlauf aber immer natürlicher und hat literarisch auch durchaus eine Funktion. Damit muss man erst einmal klarkommen, aber hier fühlt es sich letztlich gut so an. Dieser sarkastisch-humoristische Ton wirkt zu Beginn erst einmal nicht passend zu den knallharten Schilderungen aus Lils Leben und vor allem ihrer Zeit in dem psychiatrischen Heim. Denn der behandelnde Arzt ist nett formuliert durchaus kein Sympathieträger, nein, er tut seinen Patientinnen so ziemlich jede vorstellbare Scheußlichkeit an. Der Ton von Sarah erklärt sich gegen Ende des Romans, wenn sie den Blick ausführlicher auf ihre eigene Geschichte richtet.

Der Roman strotzt nur so vor literaturgeschichtlichen Zitaten und Verweisen, ebenso wie vor Querverweisen in unsere heutige Zeit hinein. Behandelt nicht nur das Thema der schreienden Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, sondern streift auch das Thema der Diskriminierung aufgrund von Herkunft. Man muss jedoch nicht jede Anspielung verstehen und die literaturgeschichtlichen Hintergründe kennen, um den Roman mit Freude und Gewinn lesen zu können.

Zu einem großen Teil habe ich den Roman „Lil“ wirklich sehr gern gelesen. Überraschenderweise muss man sagen, dass er unterhaltsam daherkommt. Richtiggehend mitgefiebert habe ich mit Lil, eine fast diebische Freude hatte ich an Szenen der sich erfüllenden Gerechtigkeit, hingegen nicht an allen Schilderungen der Rache. Missfallen ist mir indes der Ton bzw. eine ganz bestimmte Szene gegen Ende der Geschichte, die wie ein Rundumschlag gegen nicht nur die vergangene, unheilvolle Historie der Psychiatrie sondern auch den heutigen Zustand der Psychiatrie und Psychologie daherkommt. Da werden mir die Vorkommnisse in Sarahs Leben, die vollkommen nachvollziehbar erschütternd und wichtig dafür sind zu verstehen, warum sie Lils Geschichte so erzählt, wie sie sie erzählt, und vor allem aber die Aussage eines Mediziners aus einem somatischen Bereich nicht in einen ausreichend differenzierten Kontext gesetzt, den ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte. Das finde ich leider nicht gut gelungen, wir so doch pauschal nicht nur die vergangene sondern auch die moderne Psychiatrie und Psychologie scheinbar undifferenziert verteufelt und verstärkt damit ungewollt Vorurteile gegen ebenendiese.

Das Ende empfinde ich somit als den schwächsten und eventuell gefährlichsten Teil des Romans, trotzdem konnte mich das Gesamtpaket ansonsten überzeugen, weshalb meine Gesamtbewertung bei 3,5 Sternen liegt und es mir so schwer wie lange nicht fällt, mich für das Auf- oder Abrunden zu einer ganzen Bewertungszahl zu entscheiden. Doch, insgesamt ist es ein "gutes" Buch und für "gut" stehen bei mir die 3 Sterne. Für 4 Sterne stört mich dann doch besagte Darstellung der modernen "Psych..."-Felder zu sehr. Bei einer kritischen Lektüre kann ich den Roman aber durchaus als lesenswert empfehlen.

3,5/5 Sterne

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