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Veröffentlicht am 26.09.2024

Nominiert für den deutschen Buchpreis

Antichristie
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„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“

Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ...

„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“

Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter Hörbuchmuffel! Die Schwächen bestimmter Konzepte wurden entlarvt und oft dachte ich beim Lesen „dito!“, etwa beim unsäglichen Begriff „Dönermorde“, der in der story zu Recht kritisiert wurde. Die Autorin war mir sympathisch, da sie für einen Dialog plädierte. Gute Literatur fordert heraus.
Daher habe ich „Antichristie“ noch vor dem Erscheinungstermin auf meine Wunschliste gesetzt.

Worum geht’s?

Der Roman behandelt diverse Themen. Im Zentrum steht die 50jährige Ich-Erzählerin Durga Chatterjee (eine Drehbuchautorin). Zu Beginn der Geschichte geht es um Trauerbewältigung, da die deutsche Mutter Durgas (ihr indischer/bengalischer Vater taucht mit seiner neuen Frau auf) verstorben ist. Zu den Eltern hat die Romanheldin ein eher schwieriges Verhältnis, da der Vater trotz Anwesenheit nicht greifbar war, arbeitete sie sich an der (nicht grundlos) zu Verschwörungstheorien neigenden Mutter ab. Die Figur einer Hippiemutter, die den Nachwuchs verlässt, um sich selbst zu verwirklichen, ist ein wandelndes Klischee, welches man auch bei Houllebecq findet. Die Erzählerin bemüht sich, alle Positionen eines Diskurses abzubilden, wobei sie natürlich zu manchen Theorien eher tendiert. (Es wird im Roman aber nicht durchweg eine dogmatische, „woke“ Haltung eingenommen, das Konzept der cultural appropriation etwa wird im Spiegel des zeitlichen Wandels reflektiert, Colourism wird kritisiert, überhaupt gibt es Raum für Ambivalenzen, für ambiguity, wie es so schön heißt. Andererseits muss man sagen, dass eben nicht alles relativ ist).
Durga ist mit einem Schotten verheiratet und Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Da sie bereits Folgen für die britische Kultserie „Dr WHO“ verfasst hat, wird sie engagiert, um gemeinsam mit anderen (ethnisch diversen) Autoren eine zeitgemäße, zeitgeistige Version der ITV – Serie „Poirot“ zu erschaffen, ganz im Stil von „Bridgerton“ (ich halte die Adaption eines Unterhaltungsromans für schlimmen Kitsch). Agatha Christies Hercule Poirot als PoC? Belgien hatte schließlich Kolonien.
Das Fernsehspiel mit David Suchet liebe ich, daher habe ich mich über das Auftauchen im Roman sehr gefreut. Als das Drehbuchautorenkollektiv in einem Artikel polemisch „Let’s kill the Queen [Agatha Christie]“ fordert (im übertragenen Sinne, als Dekonstruktion) und Königin Elizabeth II. im Jahr 2002 tatsächlich stirbt, ist die Aufregung groß – die Demonstranten, die sich „ihre“ Geschichte(n) nicht nehmen lassen wollen, werden als treudoof-trottelige Gestalten porträtiert, die als „Christs for Christie“ oder als „Mums for Miss Marple“ („Twilight Moms“, anyone?) Namen wie „Melone“ oder „Sarah Ferguson“(!) tragen, und sogar teils als Dozenten arbeiten, aber eben nur an der „Open University“ und nicht etwa in Oxford. Von der Erzählstimme werden ihnen ein paar valide Argumente jedoch zugestanden.
Man könnte sagen, dass die Kolonialismuskritik das Hauptthema des Romans ist, es geht aber auch um (gesellschaftliche) Diskurse & Narrative, um Erinnerungskultur, Geschichtsbilder, Politik, Poststrukturalismus, um den sog. antimuslimischen Rassismus, um nation building und Nationalismus, (um „Die Erfindung der Nation“, wenn man so will) um Identitätspolitik & Genderkonzepte, um die Frauenbewegung, um Frauenfreundschaft und um Sozialismus (ein Eric-Hobsbawm-Zitat ist insofern ein Muss).
In der Geschichte wird buchstäblich auf mehreren Zeitebenen operiert, da Durga vordergründig durch die Zeit fällt und als junger Mann (es geschieht mehr als nur gender swapping) namens Sanjeev im London des Jahres 1906 auftaucht, wo er im Studentenwohnheim „India House“ mit diversen indischen Revolutionären (nicht nur mit Gandhi) lebt und konspiriert. Die Figuren wirken optisch wie dem Film „Sardar Udham“ (in Deutschland kann man den Film auf dem Streamingportal eines großen Internetversandhändlers sehen) entsprungen, wobei Sanyal an keiner Stelle Heldenverehrung betreibt. Sanjeev ist vom Vater des Hindunationalismus „Veer“ Savarkar fasziniert, gleichzeitig gibt es aber auch Durga und Figuren der Gegenwart, womit die Autorin das langweilige konventionelle Erzählschema von zwei getrennten Zeitebenen durchbricht. Im Verlauf der Erzählung wird die Heldin gemeinsam mit Sherlock Holmes im Stil des klassischen, kammerspielartigen britischen Kriminalromans (es wird darauf hingewiesen, dass es diese Erzähltradition auch in Japan gibt) einen Fall aufklären. Metaebene ahoi! Auch Identitätspolitik spielt eine Rolle: „Was sagte es über mich aus, dass ich durch die Zeit reisen und mein Geschlecht und mein Alter hinter mir lassen konnte, aber nicht meine race?“ Wenn im Roman von „braunen“ Menschen die Rede ist, bin ich raus, obwohl mir natürlich klar ist, dass „brown“ im englischen Sprachraum eine gängige (Selbst)bezeichnung ist.

Formal ist die Geschichte wie ein Patchworkroman konzipiert, wie zum Beispiel die 1992 ins Englische übersetzte Publikation der feministischen Autorin Dubravka Ugrešić „In the Jaws of Life“. Auch der Schriftsteller Saša Stanišić präsentierte mit „Herkunft“ einen Patchworkroman (2019 wurde die Veröffentlichung mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet). „Antichristie“ ist in gewisser Weise anspruchsvoller und nicht so gefällig geschrieben wie „Herkunft“, da man als Leser (m/f) auch einer (kultur)geschichtlichen bzw. Geschichts - Vorlesung beiwohnt und einem popkulturellen Happening. Die einzelnen Kapitel werden durch szenische Anweisungen und Zitate eingeleitet, womit das filmische, gar filmreife Element der (historischen) Realität abgebildet wird. Sanyal kritisiert auch realpolitische Phänomene der Gegenwart, etwa die antimuslimische Haltung der indischen Partei BJP, wobei sich die Frage stellt, inwiefern diese Haltung in Teilen auch durch die Terroranschläge von Mumbai im Jahre 2008 befeuert wurde? In „Antichristie“ werden die Gewaltexzesse und Pogrome nach der indischen Unabhängigkeit und nach den Kriegen, aus denen u.a. Bangladesch hervorging, als Folge des britischen Imperialismus‘ dargestellt. „Perfidious Albion“ heißt es nicht selten. Und tatsächlich haben auch die Briten während ihrer Herrschaft Massaker verübt und sich nicht für diese Gräuel entschuldigt.
Ich habe mich sehr auf die Lektüre des Romans gefreut und etwas Neues und eine Weiterentwicklung erwartet. Ich wollte allerdings kein „Identitti“ – Recycling präsentiert bekommen. Wenn Durga die gleichen Probleme/Gedanken wie Nivedita aus „Identitti“ hat, wirkt das auf mich wie eine Wiederholung: beide Protagonistinnen leiden darunter, nicht als „richtige Inderinnen“ klassifiziert zu werden, beide betrauern die Tatsache, nicht bilingual erzogen worden zu sein. Man möchte entgegnen, dass auch das Erlernen der Muttersprache nicht vor einem Fremdheitsgefühl in Deutschland schützt, dass man auch mit Kenntnis der Muttersprache seinen Namen noch buchstabieren muss, und dass man sich mit einer hybriden Identität (notgedrungen) arrangieren muss. Das Gefühl einer „sowohl – als – auch“ – Existenz wird man manchmal ein Leben lang nicht los, und man könnte sogar argumentieren, dass die Hauptfigur mit einem deutschen Elternteil (ergo einem deutschen Pass) privilegiert ist. Durga fühlt sich regelrecht betrogen, wenn sie sagt: „Da war so viel Weltgeschichte, die mir nie in der Schule oder an der Uni beigebracht worden war.“ Ein Studium der Geschichtswissenschaft hätte da vielleicht geholfen; es stimmt aber, dass der deutsche Schulunterricht das Hauptaugenmerk auf den Nationalsozialismus richtet.
Wenn Durga von der Freundschaft zu ihrer bff Nena berichtet, wird der Handlungsstrang aus „Identitti“, in welchem Nivedita traurig über die häufige Abwesenheit ihrer liebsten WG-Mitbewohnerin ist, 1:1 übernommen. Die Erzählperspektive bringt es mit sich, dass man leider manchmal das Gefühl bekommt, dass das Ganze eine einzige Nabelschau der Protagonistin ist. Wenn Durga „Menschenrechtsverletzungen auf Social Media“ anprangert, drängt sich der Gedanke auf, dass „Antichristie“ in Teilen ein autofiktionales Werk ist. Manche Sätze machen betroffen, sie sind nachvollziehbar: „Die Frage, die mich ein Leben lang umgetrieben hatte – wer wäre ich, wenn ich in Indien aufgewachsen wäre?“ Eine ähnliche Frage hat sich wohl jedes Migrantenkind in Deutschland schon einmal gestellt. Insofern fällt es stellenweise schwer, den Roman zu kritisieren.
Ist „Antichristie“ auch ein Coming of Age – Roman (obwohl Durga schon 50 Jahre alt ist.)? Der Roman ist fast 600 Seiten dick, für mein Empfinden verzettelt sich die Autorin stellenweise, auf manche Details kann wirklich verzichtet werden (auf die Frage, wie attraktiv Männer mit einem „Trainspotting „meets xy – Chic sind, Dass „Nena“ die Kurzform von „Susanne“ ist, treibt die Seitenzahl unnötig in die Höhe, ebenso wie der Verweis auf vorchristliche Phänomene oder das Zitieren von Tweets. In Großbuchstaben verfasste Passagen nerven einfach nur). Kann man das der Verfasserin ankreiden, die Lektorin oder der Lektor hätte den Text kürzen und straffen müssen; das Korrektorat Flüchtigkeitsfehler wie „Weisbrot“ korrigieren. Es ist schade, wenn Leser die Lektüre ob der Länge abbrechen, zumal die Autorin gegen Ende doch noch die Kurve mit einem Krimiplot kriegt - um kurz darauf wieder in’s Dozieren zu verfallen. Man kann viel lernen, als Geisteswissenschaftler wird man mit vielen Debatten und Diskursen aber schon vertraut sein. Es ist wunderbar, dass manche Themen aus dem akademischen Elfenbeinturm geholt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, wobei nicht jeder Mensch in Deutschland so ignorant ist wie von „Antichristie“ angenommen. Historiker wissen, dass der eurozentrische Blick auf die Ereignisse problematisch ist. Für die Lektüre von „Antichristie“ bedarf es keiner Vorkenntnisse, man wird als Leser/in an die Hand genommen und bekommt alles erklärt, muss nichts zum besseren Verständnis nachschlagen: „Muhammad Ali Jinnah? […] Der die Muslim League anführen und später der erste Präsident Pakistans sein wird.“ Man kann nicht behaupten, dass der Roman nicht jeden Leser „mitnimmt“, um es salopp zu formulieren. Nicht jede Figur kann Karlheinz oder Erna heißen, es gibt definitiv nicht zu viele Personen im Roman (Hilfestellung bietet auch das Personenverzeichnis am Ende, passenderweise „Cast & Crew“ ).
Vielleicht funktioniert die story im anglophonen Sprachraum aber besser. „Dr WHO“ ist in Deutschland keine legendäre TV – Serie, beim Thema Kolonialismus denkt man in Deutschland oft nur an die Herero und Nama, wobei im kolonialismuskritischen Roman „Das Museum der Welt“ aufgezeigt wird, dass auch deutsche Forscher wie die Gebrüder Schlagintweit (im Auftrag der East India Company) in Indien unterwegs waren.
Die Autorin brennt für ihr Sujet, sie verfügt über ein großes Wissen und man spürt die schiere Erzählfreude, daher ist es schade, dass der Roman (wie zuvor „Identitti“) von direkter Rede /Dialogen dominiert wird. Die wichtigen Botschaften des Romans werden von seitenlangem Gelaber überdeckt, wieso reden die Figuren mehr, als zu handeln? Die Erzählung ist mehr als bloßes Geschwätz, aber es fällt schwer, am Ball zu bleiben, wenn so viel monologisiert und debattiert wird. Apropos Figuren – sie haben in meinen Augen keine wirkliche Tiefe. Manchmal wirken die Figuren infantil, wenn vom „sexysten Hijab“, oder von „coolen“ Frauen die Rede ist, von Männern, die in ihrer „Jugend“ aufgrund ihrer Physiognomie „sexy“ waren, und manchmal wird’s schwülstig: „Schließlich war ich nicht nur von Savarkar angezogen, sondern auch von mir selbst. Von diesen vollen Lippen, die ich nicht aufhören konnte mit meinen Fingern zu berühren, von diesem so magischen wie magnetischen Penis, den ich […] niemals vergessen konnte.“
Im Roman wird die Frage aufgeworfen, welche Ideologie mehr Menschen getötet hat, wobei eingeräumt wird, dass sich in Deutschland Nationalsozialismus/ Shoa/ Kolonialismusvergleiche verbieten, und dass andernorts dieses Tabu nicht in dieser Form existiert. Mao, Stalin, der Holodomor etc. spielen bei diesen Vergleichen keine Rolle.
Stilistisch ist „Antichristie“ nicht der ganz große Wurf, die Machart von „Identitti“ wird sozusagen beibehalten, da es sehr viele Dialoge gibt. Teilweise wirkt der Roman wie eine verkappte wissenschaftliche Arbeit, die etappenweise verfasst und vor dem Abgabetermin nicht noch einmal überarbeitet wurde. Ein fast selbstverliebter Unterton wird durch humorvolle Passagen abgefedert, die natürlich ein wenig kokett sind. Ich musste lachen, als Durga „von sich selbst beeindruckt“ war oder als sie anmerkte, sie wolle sich „durch Unkenntnis“ nicht „davon abhalten lassen, andere zu belehren.“ Im letzten Drittel des Romans dreht die Erzählerin noch einmal voll auf, ich liebe die literaturwissenschaftlichen Aspekte und Bezüge, sprechende Büsche finde ich richtig charmant. Man kann sehr viel über indische Geschichte lernen, und ich habe Lust bekommen, eine wissenschaftliche Publikation Sanyals zum Thema Indien zu lesen, da ich die Prosa der Autorin anstrengend finde. Wenn es aber in Rezensionen heißt, dass die Autorin in Antichristie „alles zu einem wilden Bollywood-Tanz“ vermengt, wird klar, dass die deutsche Öffentlichkeit einen solchen Roman nötig hat. Ich liebe Bollywood. Man wundert sich allerdings über die Ethnisierung, außerdem dreht nicht jeder indische Regisseur Bollywoodfilme (Nair, Kapur etc.). „Antichristie“ hat weder formal noch inhaltlich etwas mit der Hindifilmindustrie gemein.

Fazit:

Der Antichrist geht um? Sanyals zweiter Roman ist ein postkolonialistisches Manifest. Welche Form von Widerstand ist richtig und legitim? Es geht auch um deutsche Befindlichkeiten. Stellenweise war ich aufgrund der Form schwer genervt von der Geschichte; das Sujet ist aber so interessant, dass ich froh bin, den Roman komplett gelesen zu haben. Manche Ideologien, Theorien und Konzepte muss man hinterfragen; natürlich ist die Publikation am Puls der Zeit. Trotz meiner Kritik denke ich, dass der Roman mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet werden sollte.

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Veröffentlicht am 02.08.2024

Voyage, Voyage

Die unendliche Reise der Aubry Tourvel
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„Dann liegt sie rücklings auf dem Deck, klatschnass, in einer Pfütze aus Flusswasser und dünnem Blut. Presst ihren Gehstock fest an sich, so wie Nonnen ihre kleinen goldenen Kreuze.“

Vorab:
Die Umschlaggestaltung ...

„Dann liegt sie rücklings auf dem Deck, klatschnass, in einer Pfütze aus Flusswasser und dünnem Blut. Presst ihren Gehstock fest an sich, so wie Nonnen ihre kleinen goldenen Kreuze.“

Vorab:
Die Umschlaggestaltung des Buches ist einfach wunderschön. Eigentlich bin ich keine „Coverkäuferin“, hier hat aber schon das verspielte Design mein Interesse (und meine Leselust) geweckt!

Worum geht’s?
Hier wird ein Genremix aus Reisebericht, Magischem Realismus (man denke etwa an Allendes „Geisterhaus“) und Historoman präsentiert.
Paris, 1885: Das Leben ist eine Reise – im neunzehnten Jahrhundert zwingt eine mysteriöse Krankheit das Mädchen Aubry Tourvel, ständig in Bewegung zu bleiben, denn sie kann höchstens eine Woche lang an einem Ort verweilen, ohne schlimme Schmerzen zu haben. Die Protagonistin muss daher stets geliebte Menschen verlassen. Einzig eine versteckte Bibliothek könnte ihre Linderung verschaffen, daher gibt Aubry die Hoffnung nicht auf...

Ich hatte mich vor der Lektüre auf ein phantastisches Abenteuer mit philosophischen Ansätzen eingestellt. Die Exposition las sich noch flüssig, der weitere Handlungsverlauf konnte mich jedoch nicht ganz überzeugen. Zwar fand ich es gut, dass der Eindruck eines reinen Reiseromans durch das Stilmittel der nicht-linearen Erzählweise abgemildert wurde, doch insgesamt fand ich die Figurenzeichnung nicht stimmig und den plot trotz Ortswechseln irgendwie spannungsarm. Französinnen, die „O mon dieu!“ ausrufen, sind ein wandelndes Klischee in meinen Augen. Auch das pacing war seltsam. Beim Lesen musste ich an „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder denken, Gaarders Publikation macht für mich jedoch mehr Sinn als das Debut des Bibliothekars Douglas Westerbeke. Leider finde ich, dass in „Die unendliche Reise der Aubry Tourvel“ (unfreiwillig) Elemente von schlechter Sick Lit eingebaut wurden; ich bin kein Fan dieses Genres und gepeinigte Frauen als Protagonistinnen mochte ich schon in Lars von Triers Filmen nicht.

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Veröffentlicht am 20.06.2024

Fight, flight, freeze, or fawn

Ich stelle mich schlafend
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Es sind die 1990er Jahre in Westdeutschland. Über die Bildschirme flimmert „Charmed“, viele Zuschauerinnen möchten wie die fancy TV Serienhexen via Magie das Schicksal (und vor allem ihr Liebesleben) beeinflussen. ...

Es sind die 1990er Jahre in Westdeutschland. Über die Bildschirme flimmert „Charmed“, viele Zuschauerinnen möchten wie die fancy TV Serienhexen via Magie das Schicksal (und vor allem ihr Liebesleben) beeinflussen. Yasemin, genannt Yase, kommt aus einfachen Verhältnissen. Als Deutsch-Türkin sitzt sie immer zwischen den Stühlen. Die Eltern malochen und sind mit sich selbst beschäftigt, die Wohngegend Betonwüste. Nach einem Reitunfall muss Yase in die Reha, ihre Skoliose ist dringend behandlungsbedürftig, der weibliche Körper hat schließlich perfekt zu sein, was unter anderem zu Selbsthass führt. Als Teenie verliebt sich Yase in den Narzissten Vito (hier wird das angry young man- Stereotyp entlarvt), schießt den älteren Freund jedoch bald ab, nur um Jahre später in einem toxischen Beziehungsgeflecht gefangen zu sein. Wird es Yase gelingen, sich zu emanzipieren?
Ohdes „Streulicht“ ist ein großartiger Roman. „Ich stelle mich schlafend“ musste ich daher unbedingt lesen. Um es gleich zu sagen – die Geschichte geht unter die Haut, man ärgert sich über das Gelesene, aber es gibt auch den Aha – Effekt.
Viele Dinge, die im Roman angeprangert werden, sind wahr, und es sind bittere Wahrheiten, die in diesem sozialkritischen (feministischen) Roman ausgesprochen werden. Der alltägliche Sexismus, die Duldsamkeit vieler Frauen, das reflexhafte Schuldgefühl, die anerzogene Unterwerfung. „Unauffällig freundlich“, so wird die Protagonistin von ihrem Umfeld beschrieben, und wie viele Frauen übt sie sich in vorauseilendem Gehorsam. Der Roman macht betroffen.
Immer wieder gibt es Übergriffe, im Sanatorium wird die Hauptfigur (noch ein Teenager!) von Männern (medizinischem Fachpersonal, nota bene!) beim Erstellen eines Korsetts etwa sexuell belästigt. Diese Szene ist besonders wichtig, bilden doch Mädchen und Frauen mit Behinderung die vulnerabelste Gruppe, nur wird dies sehr selten thematisiert, gesellschaftlich steht eher das Thema Gender im Fokus, ein großer Fehler. Behindertenrechtsaktivistinnen sprechen sehr treffend von der „forced intimacy“ der sich gerade Frauen im medizinisch-pharmazeutischen Komplex wie selbstverständlich zu beugen haben, und Deniz Ohde erweist sich hier als wahre Feministin, die nicht nur reflexartig zeitgeistige Parolen wiederholt. Der Verlust der Unschuld ist ein zentrales Motiv, Missbrauch fängt im Kleinen an und sexuelle Gewalt findet oft in einer Grauzone statt.
Dennoch hätte ich mir stellenweise eine feinere Figurenzeichnung und etwas weniger Pathos im Text gewünscht. Religionskritik mit dem Holzhammer ist meine Sache nicht. Über die Bibel etwa heißt es: „Dieses dicke und mittlerweile vergilbte Buch voller Ermahnungen zum Verzeihen. Und damit eigentlich eine Erpressung.“
Figurennamen wie „Immacolata“ bzw. „Imma“ verweisen meines Erachtens wie eine Leuchtreklame auf die Botschaft der Autorin, mir persönlich ist das zu dick aufgetragen. Schade eigentlich! „Ich stelle mich schlafend“ gehört dennoch gelesen, der Roman ist wichtig und richtig, trotz kleiner Mängel.

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Veröffentlicht am 17.03.2024

Die DNA der Liebe

The Soulmate Equation – Sie glaubt an die Macht der Zahlen, bis er ihr Ergebnis ist
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Die alleinerziehende Mutter Jess Davis lebt mit ihrer Tochter Juno (Jess wurde als Teenager schwanger) im Apartmentkomplex ihrer Großeltern in Kalifornien. Sie ist froh, Tür an Tür mit ihren Ersatzeltern ...

Die alleinerziehende Mutter Jess Davis lebt mit ihrer Tochter Juno (Jess wurde als Teenager schwanger) im Apartmentkomplex ihrer Großeltern in Kalifornien. Sie ist froh, Tür an Tür mit ihren Ersatzeltern zu wohnen, da ihre suchtkranke Mutter keine Unterstützung ist. Mit ihrer besten Freundin (der Liebesromanautorin Felicity „Fizzy“ Chen) trifft sich die Datenanalystin mit einem Faible für Statistiken mehrmals die Woche in einem Café, wo sie den smarten Wissenschaftler River Peña anschmachten. Er ist der Gründer der Dating-Plattform „Genetic Alley“, die Paare mithilfe von passenden Erbanlagen zusammenbringen will. Aus Jux machen Jess und Fizzy den Test. Überraschung – Jess und River passen zu fast 100 Prozent zusammen. Zunächst werden die Kalifornierin und „River Nicolas“ aus PR – Gründen ein Paar, da Rivers Firma der Börsengang bevorsteht, zudem soll die junge Mutter großzügig entlohnt werden. Bald schon sprühen die Funken, und Jess verliebt sich in den gutaussehenden River. Doch das perfekte Liebesglück ist in Gefahr, als eine unerwartete Wendung das Pärchen aus der Bahn wirft. Kann es ein happy ending für die Liebe geben?
„The Soulmate Equation – Sie glaubt an die Macht der Zahlen, bis er ihr Ergebnis ist“ ist eine Romcom in Buchform, die ideal „für Zwischendurch“ ist. Ich habe die Geschichte flott gelesen, da die Gliederung der story trotz kleiner Schwächen insgesamt „rund“ ist. Von der Figurenzeichnung habe ich mir allerdings ein wenig mehr versprochen, die Darstellung der Protagonisten ist nicht frei von Klischees, wie oft hat man schon etwas über eine schlaue kleine Tochter oder die crazy beste Freundin gelesen? Es gefiel mir jedoch gut, dass das Autorinnenteam auch die Tücken der Datingapps thematisiert. Hier komme ich zum nächsten Punkt – ‚Christina Lauren‘ ist ein Pseudonym, hinter dem sich die Autorinnen Christina Hobbs & Lauren Billings verbergen. Bei der Lektüre wunderte ich mich über Stilbrüche – es gibt einerseits Formulierungen voller Pathos(„Hinter diesem Schädel befand sich das Gehirn eines Genies, […]“), andererseits aber auch recht derbe Aussagen („Sag mir, wo er wohnt, damit ich zu ihm gehen und ihm den Kopf so tief in den Arsch stecken kann, dass er seine eigene Scheiße lecken kann.“) und leichte Schwächen in der Übersetzung („wir sind ein sehr zusammengeschweißtes Team.“); wenn man weiß, dass „The Soulmate Equation“ von zwei Autorinnen verfasst wurde, wundert man sich jedoch nicht mehr.
Die Wendung im plot war meines Erachtens von Anfang an vorhersehbar, was ich schade fand, ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Annahme von genetischer Kompatibilität für mich ein „Geschmäckle“ hat, die These ist aber nicht abwegig oder gar hanebüchen. Wie gesagt – die Tücken und Fallstricke des (Online)datings arbeitet „Christina Lauren“ schön heraus.


Fazit:
„The Soulmate Equation“ bietet gute Unterhaltung für Zwischendurch, für alleinerziehende Mütter ist es wohl die perfekte Geschichte, der Liebesroman kommt ohne Längen aus. Ich vergebe 3,5 von insgesamt fünf möglichen Sternen!

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Veröffentlicht am 16.09.2023

"Spukerscheinungen sind derzeit in Mode."

Der Totengräber und der Mord in der Krypta (Die Totengräber-Serie 3)
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Als jüdischer „Piefke“ hat es der Ermittler Leopold „Leo“ von Herzfeldt in Wien nicht leicht, auch sein Hochdeutsch (seine Mutter stammt aus Hannover) macht ihn zum Außenseiter. Seine Beziehung zur Tatortfotografin ...

Als jüdischer „Piefke“ hat es der Ermittler Leopold „Leo“ von Herzfeldt in Wien nicht leicht, auch sein Hochdeutsch (seine Mutter stammt aus Hannover) macht ihn zum Außenseiter. Seine Beziehung zur Tatortfotografin Julia muss er geheim halten – die beiden sind Kollegen bei der Polizei.
Spiritismus und Séancen sind im 19. Jahrhundert in Wien der letzte Schrei (sogar Kaiserin Elisabeth nimmt an Geisterbeschwörungen teil), und auch die (bereits wissenschaftlich widerlegte) Phrenologie spukt noch in den Köpfen herum. Der technische Fortschritt kurbelt die Wirtschaft an (die Armen fristen dennoch ein Leben am Rande der Gesellschaft), in der High Society nimmt indes der Aberglaube zu. Als ein Naturwissenschaftler, der dem okkulten Humbug ein Ende setzen wollte, tot aufgefunden wird und mehrere Kinder aus einem Wiener Waisenhaus verschwinden, sind neben dem Inspektor auch der Totengräber Augustin Rothmayer und sein Mündel Anna (das Mädchen kannte einen ermordeten Jungen, der vor seinem Tod vor dem „Nachtkrapp“ warnte!) gefordert. Gespenstergeschichten sorgen für hohe Auflagen und Leo ist nicht glücklich, als ein Journalist geheime Informationen veröffentlicht, und es fuchst den Inspektor, dass Julia den vermeintlichen Rivalen gut kennt. Als auch noch Mama Herzfeldt nach Wien kommt und einem Schriftsteller namens Arthur Conan Doyle nicht mehr von der Seite weicht ist das Chaos perfekt, und es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, als die Polizei den Hauptverdächtigen tot aus der Donau fischt…
„Der Totengräber und der Mord in der Krypta“ ist ein interessanter historischer Kriminalroman, der ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann (obwohl es sich bei dem Buch um den dritten Teil einer Reihe handelt). Der Totengräber ist meine Lieblingsfigur, und ich mag es, dass der Autor die Sozial- und Medizingeschichte Wiens tangiert. Trotz kleiner Schwächen hat mich der Roman prima unterhalten - die Sprache klang in meinen Ohren stellenweise zu modern, ich hätte mir mehr Austriazismen gewünscht & man hätte den plot straffen können; manchmal hätte ich mir ein wenig mehr ‚Feinschliff‘ gewünscht. Müsste nicht eine Figur namens „Nikolai Trevic“ eher „Nikola Trević“ heißen? Ich fand die Story insgesamt spannend – auch wenn es erst im letzten Drittel der Erzählung Schlag auf Schlag geht.

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