Die Macht der Geschichtenerzähler:innen oder "Wer schreibt Geschichte(n)?: Ein Blick auf 'Yellowface' von Rebecca F. Kuang
Yellowface"Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, also sprechen wir es doch aus, divers genug und überschüttet ...
"Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, also sprechen wir es doch aus, divers genug und überschüttet diese Person mit Geld und Unterstützung. Es ist so verdammt willkürlich. Oder vielleicht nicht willkürlich, aber es hängt von Faktoren ab, die nichts mit der Qualität des eigenen Schreibens zu tun haben. Athena - eine wunderschöne, internationale, potenziell queere Woman of Color mit Yale-Abschluss wurde von der höheren Macht auserwählt. Ich hingegen bin nur June Hayward aus Philly, braune Augen, braune Haare und ganz egal wie hart ich arbeite oder wie gut ich schreibe, ich werde niemals Athena Liu sein." (Buchzitat - S.12/13)
Rebecca F. Kuangs "Yellowface" hat bereits vor seiner Veröffentlichung viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als Bestsellerautorin ("Babel" - 2023) bringt Kuang ihr umfangreiches Wissen und ihre Perspektive als Philologin (Chinastudien) und Schriftstellerin in dieses Werk ein.
"Yellowface" erzählt die Geschichte zweier Autorinnen, June Hayward und Athena Liu, deren Wege auf unerwartete Weise miteinander verflochten sind. Als Athena tragisch stirbt, entscheidet sich June, ihr Manuskript zu übernehmen und es unter ihrem eigenen neuen Künstlerinnennamen "Juniper Song" zu veröffentlichen. Doch damit beginnen die Komplikationen, denn June muss ihr Geheimnis hüten und sich mit den ethischen Fragen des Urheberrechts und der kulturellen Aneignung auseinandersetzen.
Auf das Buch bin ich über die nicht zu übersehenden 1000 von Postings/Stories auf Instagram gestoßen - egal welchem Buchblog man da folgt, am Hype um "Yellowface" kommt da aktuell keine:r vorbei. Aufgrund des vielversprechenden Klappentextes hab ich mich daher auch dazu entschieden, das Buch zu lesen. Allerdings gestaltete sich der Einstieg etwas mühsam, da die erste Hälfte des Buches für meinen Geschmack zu langatmig war und ich Schwierigkeiten hatte in die Geschichte reinzukommen. Mit der Zeit gings aber und ich war gefesselt von der Atmosphäre, die sich teilweise wie ein Psychothriller anfühlte, indem die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verwischt wurden und nicht klar war ob sich die Protagonistin alles nur einbildet, oder es der Wahrheit entspricht. Auch wird durchgehend Wert auf genderneutrale Sprache gelegt, was ich sehr wichtig finde.
Das Buch behandelt eine Vielzahl wichtiger Themen allen voran natürlich Rassismus und im speziellen Yellowfacing. Aber auch kulturelle Aneignung, Cancel Culture, Fake News/Hate Speech, Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Themen. Besonders beeindruckend fand ich die eingehende Betrachtung des Drucks, dem Autor:innen ausgesetzt sind, und die Einblicke in das harte Verlagswesen, die das Buch bietet und von dem man als Leser:in meiner Meinung nach sehr wenig mitbekommt. Teilweise habe ich mir gedacht, was für ein Zufall es ist, dass das Buch auf aktuelle Themen Bezug nimmt, die nicht geplant gewesen sein können weil das Buch ja noch nicht so lange am Markt ist. Bspw. ist mir der Link zum Genozid in Gaza und die Rassismusdebatte inkl. (Nicht-)Reaktion des Piper Verlags rund um Monika Gruber/Roma Maria Mukherjee ins Auge gestochen:
"Wir sollten die Behauptungen nicht mit einer Antwort würdigen. Unser Team hat in der Vergangenheit festgestellt, dass man Trolle bloß ermutigt, wenn man sich auf sie einlässt. Es tut mir leid, dass June das erleben muss, doch wir glauben, Schweigen ist hier der beste Weg." (Buchzitat - S.177)
"Es war so verdammt klar, dass Hayward auf Geschichten über weiße Retterinnen steht. Wollen wir wetten, dass sie auch die Israel Defence Forces liebt?" (Buchzitat - S.184)
Besonders gut gefallen hat mir an dem Roman auch, dass gut herausgearbeitet wurde, aus welcher Perspektive wir Geschichten erzählen , publizieren etc. und welche Perspektiven nicht berücksichtigt werden, da es einen Unterschied macht, ob ich als weiße Cis-Frau ohne Behinderung über bspw. Sexismus schreibe oder bspw. eine queere PoC. Wir werden sehr wahrscheinlich nicht dieselben Erfahrungen gemacht haben und haben trotzdem ein recht darüber zu schreiben, aber eben nur wenn klar ist aus welchem Blickwinkel und man nicht über andere schreibt/diese nicht zu Wort kommen lässt.
"Wer will schon ins Kino gehen und sich Leute ansehen, die zwei Stunden lang chinesisch sprechen? Würde man sich dann nicht gleich einen chinesischen Film aussuchen? Wir sprechen hier von einem Blockbuster, der für ein amerikanisches Publikum gedreht wird. Zugänglichkeit ist wichtig. (Buchzitat - S.157)"
Zum Nachdenken gebracht hat mich auch diese Passage:
"Die Art und Weise, wie wir in Klassenräumen über Geschichte sprechen, ist so antiseptisch. Dadurch kommen einem die Probleme so weit entfernt vor, als könnten uns diese Dinge niemals passieren, als würden wir niemals dieselben Entscheidungen treffen, wie die Menschen in den Geschichtsbüchern. Ich will diese grausamen Geschichten in den Vordergrund rücken. Ich will, dass die Leser:innen verstehen, wie eng diese Erlebnisse noch mit unserer Gegenwart verbunden sind." (Buchzitat - S.134)
Denn das sehe ich als großes Problem in der Welt. Erstens werden vergangene Gräueltaten schnell vergessen und nicht daraus gelernt. Zweitens die Anmaßung, dass man selbst ja niemals sowas grauenhaftes wie bspw. den Holocaust unterstützt hätte. Ja es gibt bestimmt Menschen, die das nicht gemacht haben, aber die waren nicht unbedingt in der Überzahl. Menschen überschätzen ihre Rolle und Formbarkeit im System.
Was mich etwas gestört hat ist der Begriff "Selbstmord". Ich persönlich lehne den Begriff Selbstmord ab, da er Betroffene kriminalisiert. Personen, die Suizid begehen, werden dadurch auf eine Stufe mit Mörder:innen gestellt und das macht den Anschein, als würden sie einen juristischen Straftatbestand erfüllen. Die Gründe für Mord werden aber durch einen Suizid nicht erfüllt und so werden Menschen die einen Suizid überleben ja nicht vors Gericht gestellt. Daher empfiehlt es sich von Suizid oder Selbsttötung zu sprechen anstelle von Selbstmord. Die mythologischen Geister-Geschichten (S.314f.) haben mich ziemlich verstört muss ich zugeben und mir erschließt sich da nicht ganz der Sinn, warum diese so dargestellt wurden.
Trotz einiger Kritikpunkte, wie der für mich langatmige erste Teil, die verstörende mythologischen Geister-Geschichten und die Nutzung des Begriffs Selbstmord, empfand ich "Yellowface" als eine lohnenswerte und wichtige Lektüre. Die fundierte Auseinandersetzung mit der Perspektive beim Geschichtenerzählen, das Thema Rassismus an sich und im Speziellen im Verlagswesen tragen dazu bei, dass ich dem Buch insgesamt vier von fünf Sternen vergebe.
"Die Wahrheit ist fließend. Man kann die Geschichte immer in eine andere Richtung drehen, immer Sand in das narrative Getriebe streuen. Das habe ich aus der ganzen Sache gelernt, wenn auch sonst nicht viel." (Buchzitat - S. 378)