Der Weg in die Freiheit
Sing, wilder Vogel, singMitte des 19. Jahrhunderts in Irland: Die Menschen leiden an einer großen Hungersnot, da mehrere Kartoffelernten ausgefallen sind. Ihre englischen Grundherren helfen wenig bis gar nicht, sondern demütigen ...
Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland: Die Menschen leiden an einer großen Hungersnot, da mehrere Kartoffelernten ausgefallen sind. Ihre englischen Grundherren helfen wenig bis gar nicht, sondern demütigen die Iren und nehmen ihnen das verpachtete Land weg. Als die junge schwangere Honora, ihr Mann William und die Menschen aus dem Dorf Doolough hören, dass sie in der nächstgrößeren Stadt Louisburgh englische Beamte treffen sollen, die ihnen Notrationen zugestehen könnten, brechen sie auf. Für viele wird es ein Fußmarsch in den Tod, aber für Honora wird es der Beginn von etwas Neuem.
Großartig! Ein ergreifender Roman, der auf wahren Ereignissen beruht und der die Geschichte lebendig werden lässt. Die Autorin gibt all den Namenlosen in ihrem unendlichen Leid eine Identität und erlaubt es ihnen, sich in der Gestalt von Honora zu manifestieren. Mit ihr erstehen all die Gedemütigten, Gestrandeten und Heimatlosen wieder auf, sie gibt uns Hoffnung, dass allem Leid immer auch etwas Gutes innewohnt und es einen Weg zur wahren Bestimmung gibt.
Formal ist der Roman in 2 Teile, Irland und Amerika, aufgeteilt, die wiederum in einzelne Kapitel unterteilt sind, und die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre. Interessant ist, dass der Prolog mitten in der Geschichte einsetzt und nicht den Anfang oder das Ende markiert. Für Honora ist das im Prolog beschriebene Ereignis natürlich durchaus ein einschneidendes Erlebnis, aber nicht das einzige. Das Nachwort der Autorin und das Interview mit ihr erläutern ihre Herangehensweise und geben Einblick darüber, wie sehr sie die Geschichte des Dorfes Dooloughs bewegt hat. Diese tiefe Berührtheit lässt sie unglaublich gut in die Geschichte einfließen, als Leser ist man sofort gefesselt von den Figuren und was sie erdulden müssen und ich habe sehr intensiv mitgelebt.
Der Fokus liegt auf Hauptfigur Honora, die in ihrer Andersartigkeit durchaus polarisiert. Sie ist klug, still und eigenwillig und irgendwie aus der Zeit gefallen. Honora ist eine Nomadin, sie kann sich nicht in bestehende Strukturen einfügen, Menschen verstehen sie nicht und behandeln sie deshalb oft als Fremde. Sie wirkt anziehend auf Männer, doch diese können besonders mit ihrem starken Willen und ihrem Freiheitsdrang wenig anfangen und versuchen sie einzusperren und ihren Willen zu brechen. Sie erfüllt keine der ihr zugedachten Rollen, wird aber gegen ihren Willen in solche gedrängt. Dennoch ist sie liebevoll, loyal und pflichtbewusst und durch ihre zähe Hartnäckigkeit übersteht sie mehrfach hoffnungslose oder lebensbedrohliche Situationen. Ihren Geist, ihre Zweifel und Ängste vergräbt sie tief in ihrem Innern. Ihre Persönlichkeit ist so vielfältig, dass man ihrer nicht vollkommen gerecht werden kann. Auch die anderen Charaktere sind gut herausgearbeitet und lassen in ihren Eigenschaften vielfältige Persönlichkeiten erkennen, wie etwa die Verräterin Mary, der ihr Verrat zum Verhängnis wird, der eigentlich wohlmeinende Prosper, der Honoras Wesen auch nicht versteht, oder Ignatius, der so gar nichts Sympathisches an sich hat.
Honoras Streben nach Freiheit liegt in ihrem Wesen und die Zeichen hierfür finden sich schon bei ihrer Geburt, bei der ein Rotkehlchen ins Haus und wieder hinausflog. Durch dieses, in den Augen ihrer Landsleute schlechte Omen wird sie als Unglücksrabe gebrandmarkt. Vögel spielen generell eine wichtige symbolische Rolle im Buch und für Honora, sie tauchen an entscheidenden Stellen in Honoras Leben auf, stehen für Freiheit und Lebensfreude, sie beobachtet und beneidet sie. Honoras Wanderung zwischen den Welten spiegelt sich in den verschiedenen Ländern Irland und Amerika wider, sie stehen für gegensätzliche Lebensweisen. Auch wenn sie in Amerika zunächst ebenfalls schlimme Demütigungen und Einschränkungen erfährt, steht es für Freiheit, und so ist es nur folgerichtig, dass sie ihre Selbstbestimmung bei einem nicht-weißen, nicht-sesshaften Mann findet, für den das Rotkehlchen im Gegenteil ein gutes Omen ist, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat und der nun ebenfalls außerhalb der Gesellschaft steht. Er ist ihr Seelenverwandter, mit dem sie durch die Prärie ziehen und unter freiem Himmel schlafen kann.
Fazit: Das ergreifende Portrait einer Frau, die ihren Weg sucht und die allen Widrigkeiten zum Trotz ihre wahre Bestimmung in einem fernen Land findet. Honoras Reise nach Amerika steht sinnbildlich für eine ganze Nation, die sich ebenso wie Honora in ihrem Streben nach Unabhängigkeit erst von ihrem Unterdrücker abnabeln und der ihr zugedachten Rolle entfliehen musste, um ihre Würde wieder zu erlangen und endlich selbstbestimmt zu leben. Ein Buch, das sich nicht einfach so herunterlesen lässt und das auch nichts für schwache Nerven ist. Ein Roman, der nicht zum Lachen, aber zum Nachdenken anregt, zu Herzen geht und lange nachhallt.