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Veröffentlicht am 02.06.2022

Traurig-schöner Sommer

Ein unendlich kurzer Sommer
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Und dann war der Sommer plötzlich vorbei. Dieser gewaltige Sommer, der durch Chris‘ Leben gefegt ist, auf einem einsamen Campingplatz in einem verschnarchten Nest irgendwo im Nirgendwo, weit weg von seinem ...

Und dann war der Sommer plötzlich vorbei. Dieser gewaltige Sommer, der durch Chris‘ Leben gefegt ist, auf einem einsamen Campingplatz in einem verschnarchten Nest irgendwo im Nirgendwo, weit weg von seinem früheren Leben. Ein viel zu kurzer Sommer, ein unendlich kurzer Sommer.

Als er den Haushalt seiner verstorbenen Mutter auf seiner Heimatinsel Réunion auflöst, fällt ihm ein Brief in die Hände. Geschrieben wenige Tage nach seiner Geburt. Nie abgeschickt, versteckt in einem Buch. Adressiert an seinen Vater. Seinen echten Vater, der nicht der war, der ihn aufgezogen hatte und früh gestorben war, sondern ein Unbekannter aus Deutschland. Gustav.

Gustav, der knarzige, stoffelige Besitzer des Campingplatzes, der plötzlich Lale vom Aldi-Parkplatz mitnimmt, die junge Frau, die vor ihrem Leben Reißaus genommen hat, warum, das wird alles erzählt in diesem wundervollen Roman, auch die Geschichte von Chris, von Gustav, von dessen altem Freund James und vom Nachbarjungen Flo.

Ein unendlich kurzer Sommer ist ein tolles melancholisches Sommerbuch. Ein Roman mit vielen verhuschten, skurrilen Charakteren, alle anders, alle gleichzeitig furchtbar anstrengend und furchtbar liebenswert. Eine Geschichte für Leser:innen, die Geschichten von Mariana Leky lieben, deren Figuren, deren Stimmungen, die auch in Kristina Pfisters großartigem Debütroman leben.

Manchmal passiert einfach nichts, der Sommer ist heiß, es gibt Eis oder Bier oder beides und Nachmittage am See und dann plötzlich, wie ein Sommergewitter, da kracht es, da ziehen die Schatten der Vergangenheit wie dunkle Wolken am Himmel auf, genau wie die Schatten der unvermeidbaren Zukunft. Das ist zwar ein bisschen vorhersehbar, aber auf völlig angenehme Weise, größtenteils unverkitscht, immer charmant, immer liebenswert. Was für ein traurig-schöner Sommer!

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Veröffentlicht am 04.02.2022

La vita agrodolce

Der letzte Sommer in der Stadt
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Ich: Wie zeitlos kann ein Buch sein?
Der letzte Sommer in der Stadt: Ja.

1973 ist Gianfranco Calligarichs Roman erschienen. Vor 49 Jahren. Zwei, fast drei Generationen junger Leute später wirkt „Der ...

Ich: Wie zeitlos kann ein Buch sein?
Der letzte Sommer in der Stadt: Ja.

1973 ist Gianfranco Calligarichs Roman erschienen. Vor 49 Jahren. Zwei, fast drei Generationen junger Leute später wirkt „Der letzte Sommer in der Stadt“ frisch wie am ersten Tag.

Ein junger Mann in einer großen Stadt, der ewigen Stadt, Rom, natürlich. Das sorglose Leben, wenn die Schulzeit hinter und noch so vor einem Menschen liegt. Die flüchtigen Bekannt- und besseren Freundschaften. Jobs, die noch keine Arbeit sind. Durchfeierte Nächte. Und die Liebe, ja, die Liebe, oder besser: Amore.

Die findet Leo Gazzarra, der (Anti-)Held dieser Geschichte, in Arianna. Schön ist sie, wankelmütig, undurchschaubar. Und trotz aller Nähe wahrt sie eine gewisse Distanz, die Leo schier um den Verstand bringt, aus Rom weg in die Mailänder Heimat treibt, die längst keine mehr ist.

Calligarich hat hier vor fast fünf Jahrzehnten einen Roman geschaffen, der mehr ist als nur eine Verbeugung vor amerikanischen Literaten wie Kerouac oder Hemingway. Es ist ein Werk, dass Beat-Literatur mit La Dolce Vita von Fellini verknüpft – nur dass es oft agrodolce ist. Bittersüß. Von Seite zu Seite bis zu seinem Ende nimmt die Süße ab, verschwindet die Wärme, das Wohltun des Sommers, hin zum großen Finale.

Ein wunderbares Buch, eine großartige Wiederentdeckung, eine tolle Übersetzung. Und kein Jahr gealtert. Amore!

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Veröffentlicht am 13.11.2024

Flugabenteuer mit leichten Turbulenzen

Earhart
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Vielleicht ist es wichtig: „Earhart“ ist unser erstes Mausabenteuer. Der Stil daher erst einmal ein bisschen ungewohnt. Kurze Kapitel mit einer halben Seite wechseln sich mit Abschnitten über zwei, drei ...

Vielleicht ist es wichtig: „Earhart“ ist unser erstes Mausabenteuer. Der Stil daher erst einmal ein bisschen ungewohnt. Kurze Kapitel mit einer halben Seite wechseln sich mit Abschnitten über zwei, drei Seiten ab. Manches passiert Comic-artig mit großen, schönen Bildern ohne Text zwischendurch. Eine Art des Erzählens, an die man sich erst einmal gewöhnen muss. Als Vorlesender und Zuhörende. Ist man dann mal drin, macht es größtenteils Spaß.

„Earhart“ erzählt aus den Augen einer kleinen Wühlmaus die Geschichte der Pilotin Amelia Earhart nach. Die kleine Maus entdeckt eine Briefmarke und so, dass die Welt größer ist als der rechteckige Heimatgarten. Und sie macht sich auf Entdeckungsreise, baut sich ein Flugzeug, umrundet die Welt und …

Wer die Geschichte von Amelia Earhart kennt, der weiß, dass sie mit allerlei Widerständen zu kämpfen hatte. Pilotinnen gab es zu ihrer Zeit nicht viele, das Fliegen war wie vieles eine Männerdomäne und Pionierinnen wie Earhart wurden kritisch beäugt, verspottet und angefeindet. So wie die kleine Wühlmaus es erlebt als ihre Wühlmauskamerad:innen von ihren Flugplänen erfahren. Und dennoch hat sich Earhart durchgesetzt und mit einem Flugzeug die Welt fast umrundet bis sie auf mysteriöse Weise kurz vor dem Ziel verschwand. Ist sie abgestürzt? Hat sie sich versteckt? Bis heute ungeklärt, das Flugzeug wurde nie gefunden. Und auch das Buch von Torben Kuhlmann endet mit einem gewissen Interpretationsspielraum.

Es ist schön, dass eine Biografie wie die von Amelia Earhart auf eine solch erzählerische Weise für Kinder aufbereitet wird. Das Buch hat zwar ein paar Längen, gerade in der ersten Hälfte, und der Stil ist ein bisschen anders als der anderer Kinderbücher, aber sobald man sich daran gewöhnt hat, entwickelt sich ein schönes Abenteuer über das Ausbrechen aus Konventionen und die Entdeckung der Welt. Die Reise selbst nimmt zwar wenig (Text-)Platz ein, aber mit schönen Bildern bietet sie den Vorlesenden Spielraum, die Geschichte selbst auszuschmücken.

Aber was ist das Wichtigste? Genau, die Meinung des Kindes. Und das fragte: Gibt’s noch mehr Bücher davon? Holen wir uns die auch? Es hat also gefallen. Auf ins nächste Mausabenteuer!

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Klassiker, halbgut gealtert

Per Anhalter durch die Galaxis
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Auch wenn ich Bücher in meinem Regal sammele, lese ich doch die wenigsten ein zweites Mal. Vermutlich ein Fehler, aber es gibt einfach so, so viele Bücher. Nach gut zwanzig Jahren habe ich trotzdem mal ...

Auch wenn ich Bücher in meinem Regal sammele, lese ich doch die wenigsten ein zweites Mal. Vermutlich ein Fehler, aber es gibt einfach so, so viele Bücher. Nach gut zwanzig Jahren habe ich trotzdem mal wieder einen Klassiker aus dem Regal gezogen - Per Anhalter durch die Galaxis.

Zum ersten Mal gelesen habe ich die Reihe um Arthur Dent 2001. Douglas Adams war gerade gestorben, mein Abi lag wenige Wochen hinter mir und ich im Garten nach einem weiteren Zivi-Tag im Krankenhaus. Und kicherte direkt vor mich hin.

Ähnlich war es kürzlich. Auch wenn der Plot noch in meinem Kopf war, zumindest so halbwegs, fand ich vieles amüsant, über das ich schon vor Jahren gelacht habe. Manches war vielleicht sogar klarer als damals, als ich noch nicht viele Behördengänge hinter mir hatte. Und ich sag's mal so - manches war in den letzten Jahren wirklich vogonesk.

Trotzdem gab's auch ein paar Stellen, die etwas aus der Zeit gefallen scheinen. Es ist doch ein sehr männlich geschriebenes Buch. Es gibt nur eine richtige Frauenfigur und die ist mehr love interest und sidekick als ein richtig starker Charakter, wie sie heute existieren würde.

Und: Ich hatte nicht auf dem Schirm, wie kurz das Buch doch ist. Auf der anderen Seite: perfekte Lektüre für ein Wochenende. Oder eben einen Nachmittag in der Sonne. Davon soll's ja bald wieder mehr geben. Und vier weitere Bücher gibt es ja sowieso noch zum erneut lesen.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Schattensommer

In diesen Sommern
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Eis und Schwimmbadpommes, abends wachbleiben, bis die Sonne untergeht, Ausflüge und Urlaube. Erinnerungen, die man an die Sommer seiner Kindheit haben sollte.

Über Erinnerungen, wie sie kein Kind, kein ...

Eis und Schwimmbadpommes, abends wachbleiben, bis die Sonne untergeht, Ausflüge und Urlaube. Erinnerungen, die man an die Sommer seiner Kindheit haben sollte.

Über Erinnerungen, wie sie kein Kind, kein Mensch haben sollte, schreibt Janina Hecht in ihrem Debüt „In diesen Sommern“. Ein, zwei, drei Gläser Alkohol zu viel. Ein Streit, ein Schlag, ein Tritt. Eine Familie, die erst innerlich, dann äußerlich daran zerbricht.

Nüchtern, klar, fast emotionslos und gleichzeitig nur schwer zu ertragen, erzählt die Hauptfigur Teresa in meist kurzen Kapiteln Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend. Einige wenige schöne Momente. Viele, auf denen erst kleine, dann immer größere Schatten liegen.

Das Eingeständnis, die Erkenntnis, dass ihr Vater Alkoholiker ist. Der erst die Mutter, dann sie und ihren Bruder schlägt. Bis erst eine Sorge, dann eine Angst mit in das Haus zieht. Bis erst Teresa und dann auch der Rest ihrer Familie den Absprung schafft.

Zurück bleibt ein Vater, der keinen Ausweg findet. Der nicht von seiner Familie gerettet werden kann, vielleicht auch nicht gerettet werden möchte, der seine Sucht zu verbergen versucht und immer häufiger daran scheitert.

Alkoholismus ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. Dieses zu brechen ist eine Aufgabe für uns alle. Nicht jede Familie, nicht jedes Leben kann dadurch gerettet werden. Aber jede und jedes ist es wert, dass wir es versuchen.

Eine intensive, eine tieftraurige Familiengeschichte von diesen Schattensommern, die es zu verhindern gilt. Damit alle Menschen mit freudigem Wehmut an die Sommer ihrer Kindheit zurückdenken.

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