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Veröffentlicht am 28.11.2022

Ach ihr

Labyrinth der Freiheit
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Sie sind mir schon ans Herz gewachsen, Isi, Carl und Artur. Wie sie sich durch die Gräuel des Ersten Weltkriegs gekämpft haben, getrennt wurden und sich im Nachkriegsberlin fern der Heimat wiederfanden ...

Sie sind mir schon ans Herz gewachsen, Isi, Carl und Artur. Wie sie sich durch die Gräuel des Ersten Weltkriegs gekämpft haben, getrennt wurden und sich im Nachkriegsberlin fern der Heimat wiederfanden und gleich wieder im Schlamassel saßen. Ich hätte ihnen gerne etwas Ruhe gewünscht, eine Tasse Kaffee unter den Linden, ein paar flauschige Gespräche über die Zukunft des (Ton-)Films, aber natürlich wäre das absurd gewesen. Stattdessen: ein nächtlicher Überfall, ein Sprung aus dem Fenster, ein Schicksalsschlag. Mal wieder.

„Labyrinth der Freiheit“, der dritte und vorerst letzte Teil der „Wege der Zeit“-Reihe, balanciert noch stärker als seine Vorgänger hart auf dem genretypisch schmalen Grat zwischen spannendem Historienroman und actiongeladenem Nostalgiekitsch. Im Vergleich den ersten beiden Bänden droht immer wieder der Absturz, aber Andreas Izquierdo schafft es gerade noch so, den Roman auf Linie zu halten.

Carl trauert der verpassten Chance nach, Lubitsch in die USA zu folgen, dreht stattdessen die ersten Tonfilme mit Fritz Lang. Isi, die frühe Feministin, kümmert sich um Frauen, denen vom Berliner Leben in den frühen 1920er-Jahren und vor allem deren Männern übel mitgespielt werden. Und Artur nutzt seine Position, weiter Jagd zu machen auf die, die den drei Freunden an den Kragen wollen – die von Torstayns und die Boysens.

Wer „Schatten der Welt“ und „Revolution der Träume“ nicht kennt, wird es schwer haben, sich zurechtzufinden, vielleicht auch, das Buch zu schätzen. Es passiert viel auf den 500 Seiten, es gibt keine Pause und keine Erklärungen, keine Rückblenden. Alte Bekannte tauchen auf, auch einige neue Figuren, für die meisten endet es tragisch, andere sind gar nicht so wichtig.

Manche Nebengeschichten verlieren sich ein wenig, manche überraschen positiv. Der Blick auf den Zeitgeist macht mal Freude, besonders der augenzwinkernde Spaß mit Isis E-Roller, die es ja tatsächlich schon vor hundert Jahren gab, häufiger aber Angst und Ohnmacht, wie beim aufkeimenden und unabwendbaren Nationalsozialismus, der Verfolgung Homosexueller und bei den quasi nicht vorhandenen Frauenrechten sowieso. Und so manches Mal ertappt man sich doch bei der Frage, in welchem Jahrhundert der Roman spielt und wo es Parallelen zur heutigen Zeit gibt.

Golden sind diese Berliner 20er-Jahre in „Labyrinth der Freiheit“ niemals, sie sind dreckig-grau und blutrot. Und dramatisch, bis zum Schluss. Ob das Ende wirklich das Ende ist? Die Zeit wird es zeigen – noch sind die 20er-Jahre nicht vorbei und die UFA-Geschichte geht gerade erst los. Vielleicht erwartet die Freunde ja doch noch ein kleines Stück vom Glück. Zu erwarten ist es allerdings eher nicht. Ach ihr.

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Veröffentlicht am 24.02.2022

Inklusive Entdeckungsreise

Glücksfisch: Hallo, das bin ich!
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Das Schöne an Kindern? Sie haben keine Vorurteile. Erst einmal. Und am besten bleibt das so. Das ist natürlich in erster Linie die Aufgabe der Eltern, aber auch Bücher können hier eine Rolle bei der vorurteilsfreien ...

Das Schöne an Kindern? Sie haben keine Vorurteile. Erst einmal. Und am besten bleibt das so. Das ist natürlich in erster Linie die Aufgabe der Eltern, aber auch Bücher können hier eine Rolle bei der vorurteilsfreien Erziehung spielen. Schön, wenn ein Buch die Vielseitigkeit der Menschen in Bilder und Wörter hüllt, dass es schon Zweijährige verstehen und dabei kleine und große Unterschiede einfach völlig normal sein lassen. Wie „Hallo, das bin ich!“ aus dem Glückskind-Verlag.

Verschiedene Haarfarben, Male, Brille, Hörgeräte – alles wird hier ganz natürlich dargestellt. Und die Hautfarbe nicht einmal bewusst thematisiert, weil es überhaupt keine Rolle spielen sollte, ob Menschen schwarz oder weiß sind. So lässt sich die Vielseitigkeit des Körpers wundervoll entdecken. Und die Kinder nehmen alles ganz unvoreingenommen war, entdecken Merkmale, die sich selbst haben, die sie von Freunden kennen oder die ihnen noch unbekannt sind.

Diese Inklusivität ist die große Stärke des Buchs, das in einem simplen, aber ganz hübschen Stil von Maria Nedarova illustriert wurde. Kleine Klappen zeigen, wie die fünf Sinne des Menschen funktionieren, an Rädchen tanzt ein Kind oder es wird gezeigt, was es nach dem Schlaf am liebsten macht.

Nicht jede Interaktion, nicht jede Seite ist völlig gelungen, das Trinken des Wassers und das Zähneputzen werden zwar groß und interaktiv dargestellt, aber hier wäre sicher noch mehr Potenzial bei der Darstellung und den Reaktionen des Körpers gewesen.

Für Zweijährige ein schönes Buch, um den eigenen und andere Körper zu entdecken, von Gliedmaßen über Gefühle bis zur richtigen Körperpflege und Ernährung. Für Kinder, die auf die 3 Jahre zugehen, vielleicht schon etwas zu wenig informativ, aber gerade in dieser Altersklasse passiert so viel, so schnell, dass es nicht immer einfach ist, das Interesse über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Ist aber auch gar nicht so schlimm. Denn schöner ist es, dass es Bücher wie dieses gibt – inklusiv, lehrreich und dabei ganz und gar nicht belehrend.

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Veröffentlicht am 23.11.2021

Stürmische Zeiten

Revolution der Träume
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Ach, war das noch entspannt, am Anfang von Schatten der Welt. Das Kennenlernen der drei Freunde, ihr Alltag in den frühen 1910er-Jahren, bevor der Sturm des Weltkriegs über Carl, Artur und Isi hereinbrach ...

Ach, war das noch entspannt, am Anfang von Schatten der Welt. Das Kennenlernen der drei Freunde, ihr Alltag in den frühen 1910er-Jahren, bevor der Sturm des Weltkriegs über Carl, Artur und Isi hereinbrach und sie auseinander riss. So beschaulich legt Andreas Izquierdo im Nachfolger „Revolution der Träume“ nicht los – im Gegenteil.

Der Krieg ist gerade vorbei, die Revolution in vollem Gange. Monarchisten gegen Spartakisten, Soldaten gegen Matrosen, Menschen gegen Menschen. Viele lassen ihr Leben, wo sie es doch gerade feiern wollten. In dieser im wahrsten Sinne explosiven Mischung trifft Carl seine Freundin Isi wieder und schließlich auch Artur, gekennzeichnet vom Aufeinandertreffen mit Falk Boysen und einer Granate in Riga. Doch sie leben und sie haben sich wieder, endlich, und diesmal für immer – oder?

Izquierdo lässt im zweiten Teil der sogenannten Wege-der-Zeit-Reihe das Berlin zwischen 1918 und 1922 aufleben. Neben den politischen Querelen auch dass des Amüsements, des Lasters und des großen Kinos. Artur gründet mit ergaunerten Kaisers-Juwelen eine angesagte Halbwelt-Bar, Carl wird Kameramann unter Ernst Lubitsch bei der UFA, Isi lässt sich von einem Adligen umwerben, der für sie sogar mit seiner Familie bricht.

Aber ist eine heile Welt in dieser Zeit möglich? Natürlich nicht. Die Polizei hat Artur genauso auf dem Kieker wie die Konkurrenz aus der Berliner Unterwelt, Carls große Liebe stirbt, während er ihren Sohn als Pflegekind aufnimmt und Isis zukünftige Schwiegereltern tun alles, um sie zu zerstören.

„Revolution der Träume“ besticht nicht mit der gleichen, überraschenden Stärke wie sein Vorgänger, tritt nach einem sehr stürmischen Beginn zwischenzeitlich etwas zu stark auf die (Harmonie-)Bremse, um die drei Freunde und die Leser:innen dann doch wieder in ihren Grundfesten zu erschüttern, aber ist eine wunderbare Fortsetzung der Geschichte um Carl, Isi und Artur. Eine großartige Reihe geht weiter – und das vermutlich und hoffentlich auch über ihren zweiten Teil hinaus.

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Zu viel Venedig, zu wenig Daniel Schreiber

Die Zeit der Verluste
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Ach Mensch. Eigentlich ist mir Daniel Schreiber ja recht sympathisch, ohne genau zu wissen warum. Ich mag auch seine Schreibe, wobei Schreibe eigentlich ein merkwürdiges Wort ist, gar nicht so positiv ...

Ach Mensch. Eigentlich ist mir Daniel Schreiber ja recht sympathisch, ohne genau zu wissen warum. Ich mag auch seine Schreibe, wobei Schreibe eigentlich ein merkwürdiges Wort ist, gar nicht so positiv besetzt in meinem Hinterkopf, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

Und ich mag auch, wie er sich dem Kontext des Buchs nähert, der Trauer. Vor allem, da ich "Die Zeit der Verluste" selbst in einer Annährung an eine Trauerzeit gelesen habe. In vielen Teilen hat mich Daniel da auch erreicht, ich habe beim Lesen genickt und ich habe mit seiner Trauer mitgefühlt. Aber ... ja, es muss ja nun ein Aber kommen.

Aber ich habe mich über weite Strecken gelangweilt. Und das liegt nicht an der Trauer und das liegt auch nicht an Daniel Schreiber, sondern an Venedig. Vielleicht muss man da gewesen sein, um das Buch mehr zu fühlen. Vielleicht muss man ein bessere Gefühl für die Stadt haben, als ein ewiges "Du warst nie da? Du hast was verpasst!"-Dröhnen gleich hinter dem Mittelohr zu spüren. Vielleicht muss man auch die ewige Metapher zwischen dem Tod und dieser verwesenden Stadt mehr fühlen, aber ganz ehrlich - ich fand schon "Tod in Venedig" furchtbar zäh.

Und Venedig ist mir in diesem Buch eindeutig zu präsent, Schreibers Zeit in der Schreibstube, die Wanderungen durch die mir unbekannten Straßen, ... ich hab die später nur noch überflogen, geguckt, ob hier irgendwas ist, das ich mitnehmen möchte, aber da war wenig.

Daher eher so ein 2,5er-Buch, aufgerundet auf eine 3. Wer trauert und Venedig liebt, landet hier einen Volltreffer, wer nur trauert, naja, vielleicht gefällt's ihm oder ihr ja trotzdem besser als mir.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Die Geschichte seines Lebens

Das Geschenk eines Regentages
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1999 war da der Kurzfilm. She and her Cat - 彼女と彼女の猫. Eine Frau findet an einem Regentag eine Katze und nimmt sie mit nach Hause und die Geschichte nimmt ihren Lauf - auch für Makoto Shinkai. Aus dem Kurzfilm ...

1999 war da der Kurzfilm. She and her Cat - 彼女と彼女の猫. Eine Frau findet an einem Regentag eine Katze und nimmt sie mit nach Hause und die Geschichte nimmt ihren Lauf - auch für Makoto Shinkai. Aus dem Kurzfilm wird ein Anime, ein Manga und dieses Buch.

Ein Buch über Frauen und ihre Katzen. Oder umgekehrt. Ein Buch über tierisch menschliche Schwierigkeiten und das tiefe Verständnis, das eine Beziehung zwischen den Katzen, einem Hund und ihren Frauen erzeugen kann.

Von der alleinlebenden Miyu, die nicht nur ihren Freund, sondern auch ihre beste Freundin verliert. Von der Kunststudentin Reina, die an ihrem Talent zweifelt und sich von einem zweifelhaften Mann vereinnahmen lässt. Von der Mangazeichnerin Aoi, die um ihre beste Freundin Mari trauert und sich die Schuld an ihrem frühen Tod gibt. Und von der älteren Shino, die erst ihren Schwiegervater und dann ihre Schwiegermutter gepflegt hat, als ihr Mann sie längst für eine andere Frau verlassen hat.

Vom kleinen Chobi, der ein neues Zuhause findet. Von der kleinen, schwerhörigen Mimi, die erst Chobi umgarnt und sich dann verletzt und versetzt mit einem anderen Kater einlässt. Von ihrer Tochter Cookie, die ihrer neuen Freundin ein lange veloren geglaubtes Schmuckstück wiederbringt. Von Kuro, der seinem Freund John verspricht, nach dessen Tod eine wichtige Aufgabe zu übernehmen.

Vier Geschichten, die alle über vier mal vier Pfoten miteinander verwoben sind und ganz am Ende zu einem bunten Wollknäuel zusammenlaufen.

Funktioniert das? Ja, wenn man sich auf die Hintergründe der Erzählung einlässt, die Wurzeln in der Anime- und Manga-Welt. Die Erzählweise ist manchmal etwas zu simpel, der Blick der Katzen auf ihre Menschen zu kindisch - ein Fakt, der aber auch an der Übersetzung der Geschichte liegen kann. Die feinen japanischen Zwischentöne zu treffen ist eine Kunst und ob dies Heike Patzschke gelungen ist, ist, ohne den originalen Text zu kennen, schwer zu beantworten.

So bleibt „Das Geschenk eines Regentages“ in erster Linie ein Buch für Freund:innen japanischer Kultur, Manga- und Anime-Fans und Besitzer:innen von Katzen. Wer sich nicht dazu zählt: Es lohnt sich, einen Blick auf die erste Geschichte zu werfen - denn für Makoto Shinkai ist es die Geschichte seines Lebens.

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