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Veröffentlicht am 21.06.2024

Die Frauen von Acht Gräber

Das Dorf der acht Gräber
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Tatsuyas ruhiges Leben in Kobe wird schlagartig aufregend – und lebensgefährlich. Er sei der Alleinerbe eines Gutes in einem Dorf mit dem wenig anmutigen Namen Acht Gräber, teilt ihm ein Anwalt mit. Doch ...

Tatsuyas ruhiges Leben in Kobe wird schlagartig aufregend – und lebensgefährlich. Er sei der Alleinerbe eines Gutes in einem Dorf mit dem wenig anmutigen Namen Acht Gräber, teilt ihm ein Anwalt mit. Doch schon das Kennenlernen seines Großvaters in der Kanzlei endet abrupt mit dessen Tod – nicht der letzte im nahen Umkreis von Tatsuya, sobald dieser in Acht Gräber eintrifft.

„Das Dorf der acht Gräber“ ist die dritte Wiederveröffentlichung von Seishi Yokomizos Krimireihe rund um den als etwas schrullig beschriebenen Detektiv Kosuke Kindaichi. Die Geschichte stammt ursprünglich aus dem Jahr 1951 und ist auch in Japans Nachkriegsjahren angesiedelt. Der Zweite Weltkrieg hat seine Spuren bei einzelnen Figuren hinterlassen oder sie in die ländliche Gegend getrieben. Die Geschichte geht aber zurück bis in die Zeit der Samurai im 16. Jahrhundert.

Acht Samurai sollen in das kleine Dorf geflohen und einen sagenumwobenen Schatz vergraben haben, bevor sie von den Dorfbewohnern aus Habgier getötet wurden – nicht ohne vorher einen Fluch auf den Ort zu legen. Nach ihnen – oder besser gesagt ihren Ruhestätten – ist das Dorf benannt, in dem vor 26 Jahren Tatsuyas Vater, Kopf des Hauses des Ostens, einen Amoklauf beging, bevor er sich vermeintlich in die Berge flüchtete. Und nun scheint sich der Fluch der Samurai zu wiederholen und eine Todesserie beginnt, in der Paare eine besondere Rolle spielen.

Wieder einmal führt eine Geschichte Yokomizos in die Welt höhergestellter Familien im traditionellen und ländlichen Japan. Erbe, familiäre Verstrickungen und Missgunst spielen eine große Rolle. Und auch dieses Mal spielen Frauen eine wichtige Rolle rund um die Mordserie, die dem Neuankömmling und Ich-Erzähler Tatsuya zugeschrieben wird: Seine alten Zwillingstanten Koume und Kotake, seine Schwester Haruyo, eine junge, unscheinbare Frau namens Noriko und die fürsorgliche Miyako Mori, Erbin des Haus des Westens, die Tatsuya auf seiner Reise von Kobe nach Acht Gräber begleitet hat.

Im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern, „Die rätselhaften Honjin-Morde“ und „Mord auf der Insel Gokumon“, ist „Das Dorf der acht Gräber“ durchaus actionreicher. Die Morde passieren häufig im Beisein der Hauptfigur, es gibt Verfolgungsjagden, Versteckspiele und atemlose Bedrohungen. Natürlich trotzdem alles ein wenig entspannter als in der aktuellen blutrünstigen Thrillerlandschaft – sicher auch dank der mal wieder besonnenen und ruhigen Übersetzung der großartigen Ursula Gräfe.

Und noch ein kleiner Unterschied: Die Hauptfigur der Reihe, Detektiv Kindaichi, spielt in diesem dritten Buch, gar keine so große Rolle. So schnell er zwischenzeitlich auftaucht, verabschiedet er sich auch wieder. Ihm bleiben kleine Momente und das Zusammenführen der losen Fäden zum Ende des Kriminalromans. Stattdessen gibt es gleich mehrere Hauptfiguren: Natürlich Tatsuya, aber vor allem die großartigen, vielschichtigen Frauen von Acht Gräber, deren erste Eindrücke verbergen, was alles in ihnen steckt. Oder frei nach Beyonce: Who runs the Dorf? Girls!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Besser als Rooney

Das Leben in Nuancen
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Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, ...

Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, getrocknet ist, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert. In Eves Fall ist das der Tod ihrer besten Freundin Grace vor fünf Jahren.

Eve wohnt in einer WG mit einem Pärchen als alles den Bach runtergeht. Erst verliert sie ihren Restaurant-Job als sie sich gegen die sexuelle Belästigung eines übergriffigen Gastes wehrt. Betrunken knutscht sie mit ihrem Mitbewohner, der das Geständnis an Weihnachten seiner Freundin unter den Tannenbaum legt und prompt fliegt Eve aus der gemeinsamen Wohnung. Ihr alkoholkranker Vater möchte sie nicht aufnehmen, es bleibt nur Max, ihr seit Jahren platonischer und dann doch richtiger Freund. Und Eves große Angst, es mit Max so richtig zu ruinieren, die bleibt auch. Vor allem, weil sie Graces Tod noch immer nicht verarbeitet hat.

„Das Leben in Nuancen“ ist ein Buch über Trauer, über Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, aber auch eines über die Lebensrealitäten von Late-20s und Thirty-Somethings. Eines über Großstadtleben und Aushilfsjobs, über persönliche Entwicklungen und wie unterschiedlich das Leben sein kann, auch wenn man nahezu gleich alt ist.

Ich mag es sehr, wie Chloe Ashby die Protagonistin angelegt hat, sie immer wieder stolpern und aufstehen lässt. Ich bin kein Kunstmensch und kann dennoch ihre Faszination greifen, mit der sie Woche für Woche ins Museum geht, ihre eigene Selbsthilfegruppe mit Manets Bardame Suzon, die plötzlich, genau wie Grace, weg ist, wenn auch nur in einem Pariser Museum und nicht auf einem Friedhof. Und mit gefällt wie Eve plötzlich merkt, dass sie nicht alleine ist, durch Max, durch ein kleines Mädchen namens Molly und trotz der Abwesenheit ihrer Eltern und Graces Tod.

Kein leichtes Buch, aber trotz der schweren Themen auch kein schwermütiges. Und für mich besser, intensiver und ehrlicher erzählt als die Romane von Sally Rooney. Wer die aber schon mag, liegt mit Chloe Ashby sicher richtig.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

In einem Konzertland vor unserer Zeit

Wir könnten Freunde werden
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"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei ...

"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei akuter Konzertvermissung, beim Gedanken daran mal wieder mit einem schalen Bier in einem Plastikbecher in einer verschwitzten Menschenmenge bei Lieblingsliedern dümmlich, aber glücklich in Richtung Bühne zu grinsen.

Schon komisch, wenn ein Buch aus der Zeit gefallen wirkt, und das nicht daran liegt, dass für Zigaretten und T-Shirts noch DM fällig waren und Thees und Dirk und Arne und Jan und Rick und alle anderen einfach mal Mitte 20 und pausbackig waren, sondern weil die Idee, so, ich schnapp mir jetzt mein Wegbier und geh ins Underground (was ja leider eh nicht mehr geht, Ehrenfelder Abrissbirnen sei Dank) und höre mir Rock'n'Roll an, einfach mal seit fast einem Jahr auf Eis liegt.

Trotzdem, es ist eine tolle Reise in eine andere Zeit, eine Zeit, die vielleicht, ach was, bestimmt, irgendwann wieder einmal kommt, nicht mit alter Währung, aber mit altbewährten Mustern der Musikliebe. Und vielleicht ist es auch diese merkwürdige Zeit, in der wir gerade leben und lesen, die ein viertes Sternchen an dieses Buch hängt, das so etwas wie der Vorläufer der geschätzten Uhlmannschen Facebook Posts ist, herrlich ausufernd, oft quatschig, nicht selten emotional, manchmal anstrengend, aber immer wieder mit dem gleichen Abschlussgedanken: Danke, Thees!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Grand Theft Duster

Blacktop Wasteland
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Eine staubige Landschaft im Nirgendwo. Trailerparks. Schnelle Autos. Abgewrackte Rednecks. Die Welt von Blacktop Wasteland erinnert nicht nur ein bisschen an Grand Theft Auto V. Auch die Hauptfigur – Beauregard ...

Eine staubige Landschaft im Nirgendwo. Trailerparks. Schnelle Autos. Abgewrackte Rednecks. Die Welt von Blacktop Wasteland erinnert nicht nur ein bisschen an Grand Theft Auto V. Auch die Hauptfigur – Beauregard Montage – ist der typische Antiheld der erfolgreichen Videospielreihe. Er war mal im Knast. Er möchte das Beste für seine Familie. Er macht noch diesen einen Job. Und dann? Ja dann …

S. A. Cosby nimmt die Leser:innen mit in seine Heimat, in seine Vergangenheit. Aufgewachsen in Virginia, in einem Trailerpark, die Toilette im Hof, der Rassismus allgegenwärtig, alltäglich. Das Literaturstudium musste er abbrechen, um seine Mutter zu pflegen. Und dennoch: Zwischen der Betreuung und den Nebenjobs las er, schrieb er und veröffentlichte nach einer gefeierten Kurzgeschichte und zwei Romanen seinen Durchbruch: Blacktop Wasteland.

Beauregard Montage, genannt Bug, hat ein paar Jahre Jugendknast abgesessen, als Fluchtwagenfahrer Geld verdient und führt jetzt ein recht zurückgezogenes Leben mit eigener Werkstatt im verdammten Hinterland Virginias. Doch dann fehlt das Geld. Der eine Sohn braucht eine Brille, der andere eine Zahnspange, das Pflegeheim seiner Mutter fordert über 30.000 Dollar nach und die Konkurrenz hat seiner Werkstatt hat einen lukrativen Deal vor der Nase weggeschnappt. Da taucht ein alter Bekannter auf. Mit dem Plan für einen letzten Coup, der eigentlich nicht schiefgehen kann. Und natürlich schiefgeht.

Klingt nicht unbedingt neu, ist aber wahnsinnig gut erzählt. Cosby nimmt die Leser:innen mit auf eine oft schonungslose Reise in ein Land voller Konföderierten-Flaggen, Trumpismus, einem kaputten Gesundheitssystem, Gewalt, Medikamenten- und Drogensucht. Aber auch in eine Welt voller Familienbande, Hoffnung, actionreichen Verfolgungsjagden und fein aufblitzendem schwarzen Humor.

Der Dreh und Angelpunkt: Die Hauptfigur mit den zwei Gesichtern. Der Vater, Sohn und Ehemann Beauregard auf der einen Seite, der seine Werkstatt, seine Familie retten und schützen möchte. Und der Fahrer Bug, der seine spektakulären Fähigkeiten zu wilden Autofahrten und schonungsloser Selbstzerstörung von seinem Vater geerbt hat, eine weitere Geschichte, die diesen dichten Roman schnell vorantreibt.

Blacktop Wasteland liest sich wie ein Videospiel, wie eine Netflix Serie, wie ein rasant geschnittener Kinofilm. Kein Wunder, dass die Filmrechte schon verkauft sind. Genau wie die von Cosbys nächstem Roman. Und der ist nicht mal erschienen. Sieht schon ganz gut aus, die Zukunft von S. A. Cosby. Und das nach einer staubigen Jugend im Trailerpark.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Platsch!

Unterwasserflimmern
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Fünf Meter Anlauf, ein Sprung, ein Aufprall - PLATSCH - und dann ... dieser kurze Moment der Schwerelosigkeit unter Wasser, das Funkeln von gebrochenem Licht über einem, krachend laute Stille, bevor es ...

Fünf Meter Anlauf, ein Sprung, ein Aufprall - PLATSCH - und dann ... dieser kurze Moment der Schwerelosigkeit unter Wasser, das Funkeln von gebrochenem Licht über einem, krachend laute Stille, bevor es wieder hoch an die Oberfläche geht.

Unterwasserflimmern eben. Ein Gefühl, das jeden erwischen kann. Auch an Land. Wenn die langjährige Beziehung plötzlich implodiert. Wenn da etwas Unbestimmtes ist, das die Zukunft, das ganze Leben auf den Kopf stellen kann. Wie bei der Protagonistin in Katharina Schallers Debütroman.

Da ist der Freund, der mal eben für beide vor Freunden beschließt, dass es auch bei ihnen langsam Zeit für ein Kind wird. Und ein Grundstück gekauft hat für das gemeinsame Leben auf dem Land, raus aus der Stadt. Da ist die Affäre, verheiratet, Kinder, Zweitwohnung für Außereheliches. Da ist die Unbestimmtheit, wohin es im Leben gehen soll. Die Bestimmtheit, wo es nicht hin sollte. Und da ist ein Zug nach Italien, eine Mitfahrgelegenheit nach, vermutlich, Portugal. Und ein Mofatrip weiter ans Meer. Innehalten. Sortieren. Einen neuen Schock verdauen. Weiter sortieren. Zurück müssen. Nicht zurück wollen. Am liebsten immer unter Wasser bleiben, in diesem Zwischenmoment nach dem Platsch.

Eine Geschichte für alle um die oder über 30. Nicht jeder wird sie lieben, nicht jeder wird sie nachvollziehen können. Aber Unterwasserflimern ist ein Roman, der ein gewisses Maß an Empathie fordert, vielleicht sogar Empathie fördert. Der dafür sorgt, dass die ein oder andere übergriffige Frage nach Kindern, Ehe und Eigenheim nicht gestellt wird, auch wenn es nicht dem eigenen Lebensmodell entspricht.

Angenehm direkt geschrieben, entwickelt die Geschichte schnell einen Sog, der Leser:innen mit auf die Reise nimmt, mit unter Wasser zieht und rechtzeitig vor dem Auftauchen abbricht. Denn wie die Protagonistin ihr Leben weiterführt, geht nur eine Person etwas an. Sie selbst.

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