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Veröffentlicht am 07.10.2024

Lovers to friends to ...

Okaye Tage
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Manchmal ertappt man sich ja bei diesen „Was wäre, wenn“-Gedanken. Was wäre, wenn aus einer Jugendfreundschaft mehr geworden wäre. Was wäre, wenn man sich nicht aus den Augen verloren hätte. Oder was wäre, ...

Manchmal ertappt man sich ja bei diesen „Was wäre, wenn“-Gedanken. Was wäre, wenn aus einer Jugendfreundschaft mehr geworden wäre. Was wäre, wenn man sich nicht aus den Augen verloren hätte. Oder was wäre, wenn man sich plötzlich, Jahre später, wieder sehen würde?

Jenny Mustard schickt ihre beiden Hauptfiguren Sam(antha) und Luc(as) genau in so eine Situation. Ein halbwildes Partygeknutsche mit 18, bevor sie zurück zu ihrer Familie nach Stockholm musste. Und dann ein Wiedersehen, Jahre später, auf einer Party in London, plötzlich mehr, plötzlich intensiver, plötzlich … ein Bruch.

Late-Twenty-somethings-Beziehungsgeschichten sind kein neues Genre, aber auch wenn fast alle Geschichten erzählt sind, so können sie durch einen Twist, durch eine gute Erzählweise doch spannend sein. Empathie wecken, für das, was zwischen Sam und Luc passiert, wie sie damit umgehen, mit sich, mit dem Bruch, mit ihrer Beziehung, ihrer Freundschaft. Und wo es enden mag.

Die große Stärke von Mustards „Okaye Tage“: Es ist verdammt authentisch. Es gibt ganz viele Momente, die nachvollziehbar sind. Oder die man zumindest verstehen kann. Die nicht Romance-Drama-Fiction sind, sondern aus dem wahren Leben gegriffen. Die man vielleicht erlebt oder zumindest miterlebt oder von ihnen gehört hat. Das gibt dem Roman eine persönliche Ebene, lässt aus den Figuren fast so etwas wie Bekannte werden. Und das macht es fast noch spannender, die Geschichte aus den beiden Perspektiven zu lesen. Wie sie denken, wie sie die Situationen um sich herum wahrnehmen. Wie nah sie sich sind und wie wenig sie sich doch einander öffnen, um den anderen nicht zu verprellen, anfangs, oder ihre verletzliche Seite zu zeigen, später.

Für wen ist das Buch? Leser:innen zwischen 20 und 45, die gerne realistische Beziehungsgeschichten mögen. Die vielleicht „Liebewesen“ von Caroline Schmitt toll fanden, „Klarkommen“ von Ilona Hartmann oder auch Autorinnen wie Chloe Ashby und Sally Rooney. Die, Achtung, Mini-Spoiler und Triggerwarnung, auch Themen wie Drogenkonsum und Abtreibung abkönnen. Die London in ihr Herz geschlossen haben und bestimmt den ein oder anderen Ort wiedererkennen werden. Oder alle, die einfach Lust auf eine gute Geschichte haben. Und sich vielleicht hin und wieder eine „Was wäre, wenn“-Frage stellen.

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Veröffentlicht am 18.07.2024

Albtraumreise

Solito
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Die erste Nacht nach dem letzten Kapitel von Solito habe ich schlecht geschlafen. Immer wieder schweiften meine Gedanken und Traumfetzen in die Wüste zwischen Mexiko und den USA, die Hitze der Tage, zu ...

Die erste Nacht nach dem letzten Kapitel von Solito habe ich schlecht geschlafen. Immer wieder schweiften meine Gedanken und Traumfetzen in die Wüste zwischen Mexiko und den USA, die Hitze der Tage, zu leeren Wasserflaschen und trockenen Kakteen. „Solito“ ist ein trauriges, gnadenloses Buch und noch trauriger und gnadenloser muss es für den Autor gewesen sein – denn es ist seine Geschichte.

Mit neun Jahren wird Javier Zamora auf die Reise geschickt. Klingt nach Ferien, bedeutet Flucht und ist in Wahrheit ein Horrortrip durch Mittelamerika. Seine Eltern sind schon vor Jahren in die Vereinigten Staaten geflüchtet, jetzt soll ihr Sohn groß genug und das Budget da sein, ihn mithilfe von Kojoten, Schleppern, über die Grenzen zu sich zu holen. Während er sein Großvater ihn auf dem ersten Weg nach Guatemala begleitet, ist Javier anschließend auf sich allein gestellt – und überlebt nur dank Chino, Patricia und Carla, die eine Art Ersatzfamilie für ihn werden.

In den vergangenen Jahren hat man, wenn man wollte, viel über Flüchtlingsbewegungen lesen können. Meist über europäische, aber auch die mexikanisch-amerikanische Grenze war unter Trump immer mal wieder ein Thema. Häufig ging es da aber nur um Steine für die Mauer, nicht um Menschenleben. Schaut man mal genauer hin, liest man erschreckende Zahlen: Zwischen 1998 und 2016, also auch während der Zeit, in der Solito spielt – 1999 – starben mehr als 6.500 Menschen auf dem Fluchtweg in die USA. Die meisten von ihnen an Hitze und Wassermangel.

Auch Javier Zamora wäre fast eine Zahl in dieser Statistik geworden, die entsprechenden Kapitel sind schwer zu lesen und noch schwerer zu ertragen. Aber: Es gibt auch Gutes und Güte. Da sind Patricia, ihre Tochter Carla und Chino, die Teil von Javiers Fluchtgruppe sind, und den Neunjährigen in den Arm nehmen, mit Wasser versorgen, ihn tragen. Da ist die von Nonnen geführte Herberge, die Flüchtlingen ein Bett und Mahlzeiten bietet, die von den USA zurück nach Mexiko gebracht werden. Da ist der Polizist mit mexikanischen Wurzeln, der mehr als nur ein Auge zudrückt, als es für die kleine Gruppe brenzlig wird.

Eine Stärke des Autors ist es, die Lesegeschwindigkeit extrem zu beeinflussen. Der Anfang ist stotternd, während Javier auf den Beginn der Flucht wartet. Und auch die zwei Wochen in einer dunklen Wohnung sind so zäh, wie es für die Gruppe gewesen sein muss. Doch geht es über das Wasser, durch die Wüste, zu Fuß oder in Reisebussen, steigt der Adrenalinpegel und man fliegt nur so durch die Seiten. Kleine Stolperfallen sind maximal die vielen spanischen Begriffe und Sätze, die im Glossar übersetzt werden. Hier sind ein bisschen die Leser:innen für sich selbst gefragt: Blättere ich hin und her? Versuche ich mir den Kontext zu erschließen? Spreche ich selbst genug Spanisch, um alles zu verstehen? Störend ist es vermutlich nicht.

Was mit den Wegbegleitern Zamoras passiert ist, bleibt übrigens größtenteils im Dunkeln. Kontakt zu seiner Fluchtfamilie hat er nicht mehr, sie hat sich – Stand Februar 2024, vermutlich auch aktuell – noch nicht bei ihm gemeldet, sofern sie sein Buch gelesen hat oder noch am Leben sind. Für den Autoren übrigens nachvollziehbar: Er weiß nicht, ob sie sich komplett wohl mit seiner Erzählung fühlen. Für ihn war es in jedem Fall wichtig, um die traumatische Albtraumreise im Alter von neun Jahren, die statt zwei fast acht Wochen dauerte, zu verarbeiten. Denn der Dank zu diesem Buch, gilt auch seiner Therapeutin. Und man mag kaum vermuten, wie viel Arbeit es ist, über so ein Erlebnis hinwegzukommen.

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Veröffentlicht am 21.06.2024

Die Frauen von Acht Gräber

Das Dorf der acht Gräber
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Tatsuyas ruhiges Leben in Kobe wird schlagartig aufregend – und lebensgefährlich. Er sei der Alleinerbe eines Gutes in einem Dorf mit dem wenig anmutigen Namen Acht Gräber, teilt ihm ein Anwalt mit. Doch ...

Tatsuyas ruhiges Leben in Kobe wird schlagartig aufregend – und lebensgefährlich. Er sei der Alleinerbe eines Gutes in einem Dorf mit dem wenig anmutigen Namen Acht Gräber, teilt ihm ein Anwalt mit. Doch schon das Kennenlernen seines Großvaters in der Kanzlei endet abrupt mit dessen Tod – nicht der letzte im nahen Umkreis von Tatsuya, sobald dieser in Acht Gräber eintrifft.

„Das Dorf der acht Gräber“ ist die dritte Wiederveröffentlichung von Seishi Yokomizos Krimireihe rund um den als etwas schrullig beschriebenen Detektiv Kosuke Kindaichi. Die Geschichte stammt ursprünglich aus dem Jahr 1951 und ist auch in Japans Nachkriegsjahren angesiedelt. Der Zweite Weltkrieg hat seine Spuren bei einzelnen Figuren hinterlassen oder sie in die ländliche Gegend getrieben. Die Geschichte geht aber zurück bis in die Zeit der Samurai im 16. Jahrhundert.

Acht Samurai sollen in das kleine Dorf geflohen und einen sagenumwobenen Schatz vergraben haben, bevor sie von den Dorfbewohnern aus Habgier getötet wurden – nicht ohne vorher einen Fluch auf den Ort zu legen. Nach ihnen – oder besser gesagt ihren Ruhestätten – ist das Dorf benannt, in dem vor 26 Jahren Tatsuyas Vater, Kopf des Hauses des Ostens, einen Amoklauf beging, bevor er sich vermeintlich in die Berge flüchtete. Und nun scheint sich der Fluch der Samurai zu wiederholen und eine Todesserie beginnt, in der Paare eine besondere Rolle spielen.

Wieder einmal führt eine Geschichte Yokomizos in die Welt höhergestellter Familien im traditionellen und ländlichen Japan. Erbe, familiäre Verstrickungen und Missgunst spielen eine große Rolle. Und auch dieses Mal spielen Frauen eine wichtige Rolle rund um die Mordserie, die dem Neuankömmling und Ich-Erzähler Tatsuya zugeschrieben wird: Seine alten Zwillingstanten Koume und Kotake, seine Schwester Haruyo, eine junge, unscheinbare Frau namens Noriko und die fürsorgliche Miyako Mori, Erbin des Haus des Westens, die Tatsuya auf seiner Reise von Kobe nach Acht Gräber begleitet hat.

Im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern, „Die rätselhaften Honjin-Morde“ und „Mord auf der Insel Gokumon“, ist „Das Dorf der acht Gräber“ durchaus actionreicher. Die Morde passieren häufig im Beisein der Hauptfigur, es gibt Verfolgungsjagden, Versteckspiele und atemlose Bedrohungen. Natürlich trotzdem alles ein wenig entspannter als in der aktuellen blutrünstigen Thrillerlandschaft – sicher auch dank der mal wieder besonnenen und ruhigen Übersetzung der großartigen Ursula Gräfe.

Und noch ein kleiner Unterschied: Die Hauptfigur der Reihe, Detektiv Kindaichi, spielt in diesem dritten Buch, gar keine so große Rolle. So schnell er zwischenzeitlich auftaucht, verabschiedet er sich auch wieder. Ihm bleiben kleine Momente und das Zusammenführen der losen Fäden zum Ende des Kriminalromans. Stattdessen gibt es gleich mehrere Hauptfiguren: Natürlich Tatsuya, aber vor allem die großartigen, vielschichtigen Frauen von Acht Gräber, deren erste Eindrücke verbergen, was alles in ihnen steckt. Oder frei nach Beyonce: Who runs the Dorf? Girls!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Besser als Rooney

Das Leben in Nuancen
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Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, ...

Im Englischen heißt dieses Buch „Wet Paint“ und wer schon einmal Wände gestrichen hat, weiß, wie lange es manchmal dauert, bis die Farbe trocken ist. Noch länger dauert es, bis das Leben wieder, naja, getrocknet ist, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert. In Eves Fall ist das der Tod ihrer besten Freundin Grace vor fünf Jahren.

Eve wohnt in einer WG mit einem Pärchen als alles den Bach runtergeht. Erst verliert sie ihren Restaurant-Job als sie sich gegen die sexuelle Belästigung eines übergriffigen Gastes wehrt. Betrunken knutscht sie mit ihrem Mitbewohner, der das Geständnis an Weihnachten seiner Freundin unter den Tannenbaum legt und prompt fliegt Eve aus der gemeinsamen Wohnung. Ihr alkoholkranker Vater möchte sie nicht aufnehmen, es bleibt nur Max, ihr seit Jahren platonischer und dann doch richtiger Freund. Und Eves große Angst, es mit Max so richtig zu ruinieren, die bleibt auch. Vor allem, weil sie Graces Tod noch immer nicht verarbeitet hat.

„Das Leben in Nuancen“ ist ein Buch über Trauer, über Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, aber auch eines über die Lebensrealitäten von Late-20s und Thirty-Somethings. Eines über Großstadtleben und Aushilfsjobs, über persönliche Entwicklungen und wie unterschiedlich das Leben sein kann, auch wenn man nahezu gleich alt ist.

Ich mag es sehr, wie Chloe Ashby die Protagonistin angelegt hat, sie immer wieder stolpern und aufstehen lässt. Ich bin kein Kunstmensch und kann dennoch ihre Faszination greifen, mit der sie Woche für Woche ins Museum geht, ihre eigene Selbsthilfegruppe mit Manets Bardame Suzon, die plötzlich, genau wie Grace, weg ist, wenn auch nur in einem Pariser Museum und nicht auf einem Friedhof. Und mit gefällt wie Eve plötzlich merkt, dass sie nicht alleine ist, durch Max, durch ein kleines Mädchen namens Molly und trotz der Abwesenheit ihrer Eltern und Graces Tod.

Kein leichtes Buch, aber trotz der schweren Themen auch kein schwermütiges. Und für mich besser, intensiver und ehrlicher erzählt als die Romane von Sally Rooney. Wer die aber schon mag, liegt mit Chloe Ashby sicher richtig.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

In einem Konzertland vor unserer Zeit

Wir könnten Freunde werden
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"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei ...

"Wie viele Konzerte werden pro Tag gegeben? Wie viele Menschen gehen pro Tag auf ein Konzert?" (Wir könnten Freunde werden, Seite 135)

Puh, vielleicht nicht die cleverste Lektüre in einer Pandemie, bei akuter Konzertvermissung, beim Gedanken daran mal wieder mit einem schalen Bier in einem Plastikbecher in einer verschwitzten Menschenmenge bei Lieblingsliedern dümmlich, aber glücklich in Richtung Bühne zu grinsen.

Schon komisch, wenn ein Buch aus der Zeit gefallen wirkt, und das nicht daran liegt, dass für Zigaretten und T-Shirts noch DM fällig waren und Thees und Dirk und Arne und Jan und Rick und alle anderen einfach mal Mitte 20 und pausbackig waren, sondern weil die Idee, so, ich schnapp mir jetzt mein Wegbier und geh ins Underground (was ja leider eh nicht mehr geht, Ehrenfelder Abrissbirnen sei Dank) und höre mir Rock'n'Roll an, einfach mal seit fast einem Jahr auf Eis liegt.

Trotzdem, es ist eine tolle Reise in eine andere Zeit, eine Zeit, die vielleicht, ach was, bestimmt, irgendwann wieder einmal kommt, nicht mit alter Währung, aber mit altbewährten Mustern der Musikliebe. Und vielleicht ist es auch diese merkwürdige Zeit, in der wir gerade leben und lesen, die ein viertes Sternchen an dieses Buch hängt, das so etwas wie der Vorläufer der geschätzten Uhlmannschen Facebook Posts ist, herrlich ausufernd, oft quatschig, nicht selten emotional, manchmal anstrengend, aber immer wieder mit dem gleichen Abschlussgedanken: Danke, Thees!

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