Clever konstruierte Lektüre
Ich bin Anna„Bedauerlicherweise weiß niemand, ob das Glückhaben eine konstante Eigenschaft des Menschen ist.“ (S. 70)
1917, der 1. Weltkrieg tobt und Sigmund Freud behandelt den blinden Patienten Ludwig Stadlober. ...
„Bedauerlicherweise weiß niemand, ob das Glückhaben eine konstante Eigenschaft des Menschen ist.“ (S. 70)
1917, der 1. Weltkrieg tobt und Sigmund Freud behandelt den blinden Patienten Ludwig Stadlober. Stadlober, der nach einem Senfgasangriff erblindet ist, zeigt keine organischen Ursachen für seine Blindheit, was ihn zu einem interessanten Fall für die Psychoanalyse macht. Anna, fasziniert von der Arbeit ihres Vaters, nimmt inoffiziell Kontakt zu Stadlober auf und entwickelt eine tiefe Verbindung zu ihm. Diese Begegnungen sind prägend für Annas weitere Entwicklung.
Im Laufe der Jahre entwickelt sich die Beziehung zwischen Anna und ihrem Vater weiter, wobei auch Annas eigene psychoanalytische Fähigkeiten und innere Konflikte eine zentrale Rolle spielen. Als die Nazis 1938 in Wien einmarschieren, steht die Familie Freud vor existenziellen Herausforderungen. Anna und Stadlober begegnen sich erneut, und ihre einst freundschaftliche Beziehung wird auf eine harte Probe gestellt.
Anna, die jüngste Tochter des berühmten Psychoanalytikers, steht im Mittelpunkt des Romans. Sie wird als eine vielschichtige und facettenreiche Persönlichkeit dargestellt, die in der Schattenwelt ihres übermächtigen Vaters und ihrer starken Schwester nach ihrer eigenen Identität sucht. Ihr Weg zur Selbstverwirklichung und ihre Entwicklung von der schüchternen Tochter zur eigenständigen Frau und Psychoanalytikerin bilden das Herzstück der Erzählung.
Saller thematisiert nicht nur die Beziehung zwischen Vater und Tochter, sondern auch die inneren Kämpfe und die Suche nach Selbstbestimmung in einer von patriarchalen Strukturen dominierten Welt. Anna ringt mit den Erwartungen ihres Vaters und der Gesellschaft, während sie gleichzeitig ihre eigene Identität und ihren Platz in der Welt finden muss. Die Integration von psychoanalytischen Konzepten und Analyse der Persönlichkeitsmuster verleiht den Figuren im Roman Lebendigkeit und Tiefe.
Die abwechselnden Erzählperspektiven aus der Sicht von Sigmund und Anna Freud zeigen, wie unterschiedlich ein und derselbe Sachverhalt verstanden und interpretiert werden kann. Saller gelingt es, diese verschiedenen Stränge und Sichtweisen präzise und mit sprachlicher Finesse zu verbinden und er verwebt historische Fakten gekonnt mit erzählerischer Freiheit.
"Ich bin Anna" ist auch als feministischer Roman zu verstehen, der Annas Emanzipation von familiären und gesellschaftlichen Zwängen thematisiert. Ein atmosphärischer und erfrischender Roman, der in die Welt der Psychoanalyse und die komplexen Dynamiken der Familie Freud entführt. Zeitgleich aber auch die „Befreiung“ von Anna Freud erzählt. Saller zeichnet ein fesselndes Psychogramm einer jungen Frau, die zwischen der Loyalität zu ihrem Vater und ihrem eigenen Streben nach Freiheit hin- und hergerissen ist. Eine clever konstruierte Lektüre, die zum Nachdenken anregt und einen Blick auf die berühmte Familie Freud bietet. Mit hat das sehr gefallen! #leseempfehlung!