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Veröffentlicht am 27.03.2023

Kann man sich ansehen, muss man aber nicht

Seht mich an
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Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich ...

Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich mit vorangegangenen Veröffentlichungen – den Roman „Seht mich an“ aus dem Jahre 1983 heraus.

Wie einige andere Romane der Autorin beschäftigt sich auch dieser mit der Einsamkeit einer alleinstehenden Frau, jungen bis mittleren Alters, die wohl recht nah an der Autorin selbst angelegt ist. Frances arbeitet als Mitarbeiterin einer medizinischen Bibliothek, welche sich auf die Darstellung von Erkrankungen und Tod in vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Sie lebt allein in der Wohnung ihrer bereits verstorbenen Eltern. Die Mutter pflegte sie noch bis vor zwei Jahren zusammen mit der Haushälterin Nancy, welche die Bedienstetenkammer bewohnt, bis zum Tod. Nun ist nur noch Nancy als Mitbewohnerin in dieser dunklen, altmodischen Wohnung in London übrig. Frances‘ Familie erwirtschaftete „neues“ Geld, weshalb Frances auch jetzt noch recht wohlhabend ist. Trotz allem fühlt sie sich in ihrem Alltag allein und findet erst Kontakt zur Welt, als das schillernde Ehepaar Nick und Alix, welche „altes“ Geld durch die Kolonialgeschichte Großbritanniens besitzen, sie auserwählt, um ihrer Freundschaft würdig zu sein.

Der Roman beginnt mit hochinteressanten Betrachtungen zu Bildnissen von Wahnsinn, Depressionen und Tod in der Kunstgeschichte, sowie einer kurzen Vorstellung der Figuren, welche sich in der besagten Bibliothek herumtreiben. Mit einer sehr präzisen und literarisch niveauvollen Sprache beschreibt Brookner nicht nur diese Bildnisse sondern auch Frances und ihr Umfeld. Atmosphärisch bekommt mein ein Gefühl für ihre beklemmende Wohnung aus einem vorherigen Jahrhundert wie auch für ihre beklemmende Lebenssituation und dem Hadern mit der Einsamkeit sowie dem Wunsch nach sozialer Anerkennung ihrer Person. Nach diesen ersten ca. 70 Seiten verfällt jedoch der Roman leider in eine ständige Wiederholung Frances‘ hadern mit sich und der Welt. Sprachlich zwar weiterhin brillant aber inhaltlich zunehmend nervig gestaltet Brookner die Innenansicht der Ich-Erzählerin Frances. Diese hat in ihrem sozialen Umfeld einige „prototypische“ Einsame und möchte keinesfalls so enden wie diese, weshalb sie sich den auf den ersten Blick unsympathischen und ausnutzenden Nich und Alix anbiedert. Zwischenzeitlich analysiert sie sogar immer wieder, wie falsch diese beiden handeln und wie falsch sie auch für Frances sind, trotzdem sucht sie immer wieder den Kontakt, möchte sie unbedingt von diesen beiden Menschen gesehen werden. Kurze Erleichterung beim lesen kommt auf, als ein potentieller Liebespartner für Frances auftaucht, nur leider entwickelt sich auch daraus nichts Gutes.

So bewegt sich dieser Roman über mindestens die restlichen 200 Seiten immer wieder vor und zurück. Wie bei einer Flimmerbewegung kreist Frances immer wieder um dieselben Probleme, kommt aber nicht vom Fleck. Eine Entwicklung macht die Figur Frances also leider nicht durch, sie zeigt keinerlei Veränderungspotential. Und so wie die Figur Frances in ihrer Position als alleinstehende „alte Jungfer“ scheinbar eingefroren erscheint, so eingefroren erscheint auch sie und ihr Umfeld in der Zeit. Der Roman wurde 1983 geschrieben, spielt aber schätzungsweise – und wie man aus dem Nachwort von Daniel Schreiber entnehmen kann – Mitte/Ende der 1960er Jahre, den Swinging Sixties, der Zeit kurz bevor und während junge Menschen den Mief der alten Zeit abschütteln wollten und dann sogar politisch aktiv wurden und auf die Straße gingen. Davon merkt man diesem Roman überhaupt gar nichts an; nicht einmal dem schillernden Ehepaar Nick und Alix. Alle Figuren ebenso wie das Wohnumfeld und die gesellschaftlichen Normen scheinen hier wie aus der Zeit gefallen. In Kombination mit der altbackenen - wie gesagt, wenn auch tollen, präzisen - Schreibe der Autorin wirkt es so, als würde man einen Roman aus dem 19. Jahrhundert lesen. Auch wenn das Thema Einsamkeit grundsätzlich zeitlos ist, da es in jeder Generation, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und mit anderen Belastungen, auftritt, so erscheint der vorliegende Roman hingegen nicht zeitlos, sondern hingegen wirklich nicht gut gealtert. Trotz der scharfsinnigen Sätze der Autorin bin ich ob der stillstehenden Handlung mitunter eingenickt beim Lesen. Das ist leider nie ein gutes Zeichen bezüglich einer Lektüreerfahrung.

Das Nachwort von Daniel Schreiber, Autor des kürzlich veröffentlichten Essaybandes „Allein“, ist durchaus lesenswert, da es den Romaninhalt mit der Biografie Anita Brookners in Zusammenhang bringt. Mit manchen seiner Deutungen des Romans, sowie seiner Idee im Roman finde sich „kühler Humor“, gehe ich zwar nicht konform. Trotzdem handelt es sich bei dem Text um eine gute, mitunter erhellende Ergänzung zum Roman.

Ich hätte sehr gern mit dem sehr klug ausformulierten Schreibstil der Autorin ein inhaltlich interessanteres, also ein anderes, Buch gelesen. So kann ich abschließend „Seht mich an“ nicht unbedingt empfehlen, wenngleich ich es nicht unglaublich schlecht finde. Das Buch ist okay, wird aber das letzte sein, welches ich von der Autorin gelesen habe, gerade weil sich ihre Werke inhaltlich recht stark ähneln sollen.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.03.2023

Vom alltäglichen Leben in der amerikanischen Provinz um 1930

Draußen die Welt
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Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ...

Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ins Deutsche übersetzt.

Wir begleiten in dieser Geschichte die Familie Perrault mit ihrem stillen Zentrum Mary, der Mutter von vier Kindern. Die Familiengeschichte trägt sich Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre in der kalifornischen Provinz zu und wird zunächst äußerst beschaulich erzählt. Mary und ihre Familie kommen während der Weltwirtschaftskrise und der darauffolgenden Depression relativ gut über die Runden, aber der Alltag wird immer stärker durchbrochen durch verschiedene Schicksalsschläge, die das nähere und fernere soziale Umfeld der Familie betreffen, beginnend mit dem Unfalltod von Marys bester Freundin.

Der Text zeichnet sich meines Erachtens vor allem durch die atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen der Autorin aus. Sie bringt die sengende Hitze Kaliforniens ausdrucksstark rüber und lässt ein ausführliches Bild des Lebens vor einhundert Jahren in dieser damals erst relativ frisch gegründeten, fiktiven Gemeinde South Encina vor dem inneren Auge entstehen. Über die 366 Seiten hinweg nehmen aber auch diese Beschreibungen zur Umgebung, technischen Errungenschaften oder Bootstouren mitunter auch Überhand und wirken bisweilen recht langatmig. Da die Figuren fast naturalistisch mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten eher oberflächlich beschrieben werden, blieben sie mir sehr fern. Der Text konnte bei mir bis kurz vor Schluss leider keine Empathie evozieren oder Emotionen der Figuren glaubhaft vermitteln. Immer wieder geschieht etwas, über das sich die Familie austauscht, dann wird die Thematik aber ziemlich schnell wieder fallen gelassen und taucht entweder gar nicht oder viel später nur kurz wieder auf. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit angeschnittenen Themen, wie soziales Handeln innerhalb einer Nachbarschaft, der Umgang mit Trauer, junge Liebesbeziehungen, soziale und finanzielle Unterschiede etc. geschieht leider nicht im Detail. So wirkte der Roman für mich über weite Strecken belanglos, obwohl wichtige Themen darin durchaus vorkommen. So plätscherte der Roman für mich größtenteils so dahin, Schicksalsschläge fühlen sich nicht wie solche an und die durch den Klappentext des Verlags angestachelten Erwartungen, erfüllen sich leider nicht. Dort heißt es nämlich: „Aber dann bricht 1929 die New Yorker Börse zusammen: Der Kampf ums nackte Überleben bringt das Fundament der Gesellschaft ins Wanken und bedroht auch das innere Gleichgewicht der Familie Perrault.“ Das ist äußerst dramatisch formuliert und findet sich so keinesfalls im Text. Ein weniger effekthascherischer Infotext hätte dem Buch und meiner Rezeption dessen gutgetan. Das Cover des Buches hingegen ist grandios gewählt und lässt auf den zweiten Blick die Vieldeutigkeit der Alltäglichkeit erkennen.

Der Roman ist durchaus solide geschrieben und meines Erachtens sehr gut von Sylvia Spatz übersetzt. Man merkt der Übersetzung an, dass es sich um einen 80 Jahre alten Text handelt. Das bekommt dem lesenden Auge gut, freut man sich doch über solch kleine Wörtchen wie „obgleich“ im Text. Obgleich mir grundsätzlich der Schreibstil der Autorin zugesagt hat, konnte mich der vorliegende Roman leider nicht davon überzeugen, zukünftig weitere Werke der Autorin lesen zu wollen.

Für mich charakterisiert ein kurzes Zitat, welches Marys Handeln beschreibt, dieses Buch recht knackig: „Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem." Recht hat sie. Mit einigem nachträglichem Suchen kann man durchaus auch subtile moralische Ideen im Text finden, leider konnte mein Interesse dafür nur eingeschränkt geweckt werden.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Wirkt leider zu gewollt, die Anliegen zu künstlich eingebracht

Ich stelle mich schlafend
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Obwohl ich den Debütroman von Deniz Ohde „Streulicht“ wirklich geliebt habe und mir gleichzeitig das Anliegen der Autorin im vorliegenden Roman „Ich stelle mich schlafend“ - Frauen, denen Schuld, Scham ...

Obwohl ich den Debütroman von Deniz Ohde „Streulicht“ wirklich geliebt habe und mir gleichzeitig das Anliegen der Autorin im vorliegenden Roman „Ich stelle mich schlafend“ - Frauen, denen Schuld, Scham und fehlende Abgrenzungsfähigkeit bezogen auf sexuelle Übergriffe über Generationen anerzogen werden - persönlich sehr wichtig ist und mich grundsätzlich sehr interessiert, konnte mich die Autorin diesmal nicht überzeugen.

Eine personale Erzählstimme folgt größtenteils Yasemin durch ihr Leben bis ins Alter von 35 Jahren. Dort beginnt auch der Roman, denn sie steht nicht nur vor einer Brache zwischen den Häuserblocks, in denen sie aufgewachsen ist, sondern scheinbar auch gleichzeitig vor den Trümmern ihres eigenen (Liebes-)Lebens. Nach 20 Jahren traf sie ihre Jugendliebe Vito wieder, die schon damals nicht perfekt war, wie wir durch Rückblicke erfahren, und in der Gegenwart auch nicht besser wird.

Schon der Einstieg in den Roman fiel mir unglaublich schwer. So kompliziert wird die Eingangsszene, in der Yasemin vor der Brache steht, beschrieben, dass ich das erste Kapitel gleich dreimal lesen musste, um überhaupt eine Ahnung davon zu bekommen, welches Haus jetzt nicht mehr steht und was mir die Autorin überhaupt damit sagen möchte. Besserte sich dann zwar der Lesefluss ein wenig, hatte ich weiterhin das Gefühl, dass häufig Formulierungen zu poetisch gewollt und nicht einem Zweck folgend angewendet wurden. Schon innerhalb der ersten 30 Seiten beschlich mich immer wieder das Gefühl, die Autorin wolle dringend einen gesellschaftskritischen Inhalt unterbringen, habe dafür aber nicht immer zwingend erzählerische Anlässe dafür. Das wirkte auf mich häufig holprig, inhomogen, wenig geschmeidig und aufgepfropft. Gerade zum Ende hin geht es mit der Autorin durch und die Erzählstimme, die dann in die Gedankenwelt von Yasemin rutscht, wird unglaublich erklärend und psychologisierend. So kommt es dann zu Sätzen wie beispielsweise diesen hier: „Aus dem Bedürfnis heraus, mich selbst zu bestrafen, habe ich Männername enttäuscht. Der Rausch meiner Verliebtheit bestand darin, endlich die Gewalt zu erfahren, die ich glaubte verdient zu haben. Ich bin in Vito gelaufen wie in ein offenes Messer. Ich habe geglaubt, in ihm ein neues Leben zu finden, dabei war es Vernichtung, die ich mir in Wirklichkeit erhoffte.“ Ganz ehrlich, wer denkt denn so, außer er bzw. sie kommt gerade aus einer psychotherapeutischen Sitzung, in der über zehn Stunden hinweg an dieser Erkenntnis gearbeitet wurde? Aber auch schon sehr frühe Ereignisse in der Kindheit Yasemins werden von der da noch personalen Erzählstimme immer gleich mit einer Deutung aufgeladen.

Bei mir konnte während der Lektüre leider kaum Nähe zu den Protagonist:innen, nicht einmal ein konkretes, inneres Bild von ihnen hergestellt werden. Zu schwammig blieben mir die Personen Yasemin, ihre beste Freundin Immacolata oder die verhängnisvolle Jugendliebe Vito, sowie ihre Beziehung untereinander. Auch die Familienverhältnisse, in denen Yasemin aufgewachsen ist, bleiben größtenteils im Dunkeln. Nur sehr spärliche Schlaglichter gibt es, die aber gleich vollkommen aufgeladen sind mit gesellschaftlichen Missständen gegenüber Frauen.

Für mich ist dieser Roman leider sprachlich nicht gut gelungen, bleibt in bekannten Mustern hängen und die Figuren sind nicht greifbar. Und so verpufft für mich das Anliegen des Romans und schon kurz nach der Lektüre entschwinden die Erinnerungen daran. Sinnbildlich wie die Pfütze auf dem Cover (welches inhaltlich trotzdem sehr gut zum Roman passt!) verdunstet jeglicher Nachhall zu diesem Roman und es bleibt nicht wirklich etwas hängen. Schade. So konnte Deniz Ohde mich mit ihrem zweiten Roman nicht überzeugen. Aber vielleicht ja wieder mit dem nächsten.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.05.2024

Mich hätte ein etwas anderer Fokus mehr interessiert

ruh
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Vielleicht hatte es Şehnaz Dosts Debütroman bei mir deshalb so schwer, weil ich erst kurz zuvor „Dschinns“ von Fatma Aydemir gelesen und geliebt habe. Beide Romane verfolgen eine ähnliche Thematik, sie ...

Vielleicht hatte es Şehnaz Dosts Debütroman bei mir deshalb so schwer, weil ich erst kurz zuvor „Dschinns“ von Fatma Aydemir gelesen und geliebt habe. Beide Romane verfolgen eine ähnliche Thematik, sie beschäftigen sich mit den Familien von türkischen Gastarbeitern, die nun als erste Generation oder als Kinder nachgezogen in Deutschland aufwachsen und dabei auf verschiedenste Herausforderungen stoßen.

In „ruh“ dreht sich die Geschichte um Cemal, der die ersten acht Jahre seines Lebens in der Türkei bei den Großeltern verbracht hat und danach von den Eltern nach Deutschland nachgeholt wurde. Seine Urgroßmutter Süveyde hat er nie kennengelernt, verstarb sie doch kurz vor seiner Geburt. Während der mittlerweile erwachsene Deutschlehrer mit der Scheidung von seiner ebenso türkischstämmigen Ehefrau Gül und dem geteilten Sorgerecht für die geliebte Tochter Ekin zurecht kommen muss und er eine leidenschaftliche Liaison mit Georg eingeht, ereilen ihn immer häufiger diffuse Träume, in denen seine Urgroßmutter Süveyde erscheint und er Lebensereignisse von ihr dadurch miterlebt. Ziemlich schnell stellt sich heraus, dass Süveyde selbst eine Wiedergeborene gewesen ist, die mittels Seelenwanderung in Träumen ein früheres Leben einer anderen Person miterlebte. Man erahnt schon in welche Richtung nun die Geschichte von Cemal geht.

Dost beschreibt sehr solide und für mich auch sehr interessant die gegenwärtigen Erlebnisse von Cemal in einer großen deutschen Stadt, beleuchtet aber auch seine Vergangenheit ebenso wie viele Mikroaggressionen und rassistischen Erlebnissen, denen er bis heute und vor allem als türkischstämmiger Deutschlehrer (welch Skandal! - zumindest für so manchen Elternteil der Schulkinder) ausgesetzt ist. Mich hätte inhaltlich besonders der Erzählstrang um das Zusammensein mit dem deutschstämmigen Georg und damit die bisexuelle Beziehung, das daraus möglicherweise entstehende Spannungsfeld und auch die zusätzlich in der Öffentlichkeit auf Cemal fokussierte Außenwahrnehmung durch „anders aussehen“ und „anders lieben“ sehr interessiert. Leider beendet Cemal schon zügig im Roman Cemal diese Beziehung und ab diesem Zeitpunkt konzentriert sich der Plot mehr auf das Thema der möglichen Seelenwanderung sowie der Vergangenheit von der Urgroßmutter. Diese Träume, bei denen es mir manchmal schwerfiel durchzublicken, ob diese jetzt Süveyde oder Cemal träumt, helfen ihm im Verlauf besser, sich selbst zu finden.

Ich muss zugeben, dass ich nach dem ersten Drittel des Romans diesen vorerst abgebrochen hatte, weil mir das Thema der Seelenwanderung hier zu viel Raum einnahm und der Fokus weg von Cemals Gegenwart wanderte. Mich hätte diese eindeutig mehr interessiert oder die getrennten Abschnitte im Sinne einer Rückschau ins Leben der Urgroßmutter hätten besser getrennt und etwas länger, tiefgründiger sein müssen, um mein Interesse zu halten. Ich habe das Buch dann doch – aber ehrlich gesagt durch ein bisschen Querlesen – noch beendet. So richtig überzeugen konnte er mich in seiner Gesamtkonstruktion leider nicht. Wie gesagt, sprachlich sehr solide und inhaltlich mit viel Potenzial, konnte er mich doch nicht so richtig mitnehmen. Durch das immer wieder Wegschwenken von Cemal blieb mir dieser recht fern, ebenso wie die Urgroßmutter in ihrer Zeitebene.

Somit kann ich leider für den Roman „ruh“ keine Leseempfehlung aussprechen, vor allem da mir im Vergleich empfehlenswertere Romane einfallen. Das tut mir leid, gefällt mir doch die Gestaltung und auch Haptik des gebundenen Buches aus dem Ecco Verlag sehr gut.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 25.03.2024

Hochgelobter Autor mit einem Griff ins virtuelle Klo

88 Namen
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Ich hoffe wirklich sehr, dass Matt Ruff nicht einen Gruß an seinen Autorenkollegen Neal Stephenson im vorliegenden Roman "88 Namen" hinterlassen hat, als er es "Für Neal" widmete. Denn der würde sich die ...

Ich hoffe wirklich sehr, dass Matt Ruff nicht einen Gruß an seinen Autorenkollegen Neal Stephenson im vorliegenden Roman "88 Namen" hinterlassen hat, als er es "Für Neal" widmete. Denn der würde sich die nicht vorhandenen Kopf- wohl aber vorhandenen Barthaare raufen, wenn er mit diesem Buch hier in Verbindung gebracht werden würde. Vielleicht auch nicht. Was weiß ich schon...

Zum Plotinhalt sage ich nichts mehr, steht alles im Klappentext, den Rest hat man im Laufe des Lesens sehr schnell von allein erraten. Und da haben wir schon eine Schwachstelle des Romans: Er ist unglaublich vorhersehbar. Bis auf die obskuren Wendungen am Schluss, die aber einfach nur noch lächerlich prototypisch sind. Aber zunächst einmal zu dem einen Pluspunkt des Buches. Ruff schafft es tatsächlich zu Beginn über lange Strecken ganz hervorragend MMORPGs verschiedenster Couleur vom Fantasy- über das Sci-Fi- bis hin zum (politischen) Zombie-Slasher-Genre zu beschreiben. Hier nutzt er gekonnt die sprachlichen Besonderheiten von Gamern. Ob trotz kurzem Nachschlagewerk im Appendix des Buches wirklich die Masse der Leser*innen hier abgeholt werden kann, wage ich zu bezweifeln. Denn wer schon mit "MMORPG" nicht viel anfangen kann, kann sich eventuell auch gar nicht so gut in beschriebene Spielmechaniken etc. hineindenken. Aber gut. An dieser Stelle trägt vielleicht auch noch ein klitzekleines bisschen die Story und lässt auf eine rasante Abenteuer-Geschichte mit durchaus kritischem Einschlag bezüglich der leider im Gamer-Milieu immer noch omnipräsenten sexistischen und rassistischen Stereotype hoffen. Aber nein. Es geht steil bergab, der Plot entwickelt sich so, wie man es von einem mittelmäßigen Genre-Roman erwarten würde und es gibt ausschweifende Szenen, in denen einfach nur Themen aufs Tableau geworfen werden, die der Autor scheinbar noch unterbringen wollte (Cyber-Sex zum Beispiel). Am Matt Ruff häufig zugesprochenem Humor fehlt es meines Erachtens dem Roman fast komplett. Und öde Anspielungen an pseudo-Nerdwissen ist nicht witzig sondern nur noch lahm. Übrigens finde ich ganz nebenbei, wie ich hier gerade sitze und mir das Cover und den Titel das Buches ansehe, dass das Cover rein gar nichts mit dem Buch zu tun hat und dass "88 Namen" auch wenig bedeutungsvoll bezogen auf den Inhalt des Buches ist. Liegt vielleicht daran, dass so viel Inhalt unterm Strich nicht übrig bleibt.

Letztendlich bleibt zu sagen: Wer sich für das Thema interessiert, findet u.a. in Tad Williams (!!! Otherland !!!), William Gibson, Ernest Cline oder dem oben genannten Neal Stephenson (leider alles männliche Kollegen) bessere Romanautoren, um in virtuelle (Spiel-)Welten einzutauchen. Dieses Buch hier tut zwar nicht schrecklich weh, verschwendet aber wichtige Lebens-/Lesezeit.

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