„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ von Alena Schröder, erschienen 2021 bei dtv, ist ein berührender Roman über die Frage, wer wir sind.
Die junge Studentin Hannah, orientierungslos ...
„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ von Alena Schröder, erschienen 2021 bei dtv, ist ein berührender Roman über die Frage, wer wir sind.
Die junge Studentin Hannah, orientierungslos und etwas verpeilt gestrandet in einem Leben zwischen Dissertation ohne Antrieb, Affaire mit dem Prof fast nur mit Trieb, Verantwortung für eine Großmutter im Pflegeheim, Schuld daran vermutlich der Herdentrieb, stößt plötzlich durch eben diese Großmutter Evelyn auf eine ihr nicht bekannte entfernt jüdische Abstammungsgeschichte und einen verschollenen Vermeer. Auf der Suche nach mehr Informationen und dem Gemälde findet sie vieles nicht, aber etwas viel Wichtigeres doch: Einen Weg zu sich selbst, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, neuen Zielen oder erst einmal dem Gegenteil davon: Dem Loslassen.
Dieser Roman ist dabei so bewegend, so schwungvoll und liebevoll erzählt, so klar und ehrlich und so voller Sensorik, dass ich ihn in einem Rutsch durchgelesen habe. Und gerade jetzt sind sie wichtig, die Bücher, die uns an unsere Vergangenheit im dritten Reich erinnern und uns ermutigen, Fragen zu stellen. Das Buch stellt diese Fragen nie didaktisch oder vordergründig, aber im Hintergrund wird Geschichte immer wieder erlebbar und macht deutlich, wie wir sicher alle fündig werden in unserer Familienhistorie: Wenn wir nur anfangen zu suchen. Sind wir, was wir waren? Sind wir unsere Abstammung, die Vergangenheit? Ganz sicher nicht, aber das Wissen darum kann unser Sein präzisieren und unserem Weg eine Richtung geben. Ein großartiges Buch, das unbedingt gelesen werden will! Einzig die Liebesgeschichte der Protagonistin hätte ich so nicht gebraucht, feministisch gesprochen würde ich gerade auch Autorinnen wünschen, doch häufiger darauf zu vertrauen, dass eine weiblich gelesene Romanfigur auch ohne auskommt. Dem Lesevergnügen hat das aber keinen Abbruch getan.
„Alte Sorten“ von Ewald Arenz, erschienen 2019 im DuMont Buchverlag, ist ein Buch wie ein Spätsommerabend: warm, irgendwie nostalgisch, summend und glücklich machend.
Liss und Sally sind zwei Menschen, ...
„Alte Sorten“ von Ewald Arenz, erschienen 2019 im DuMont Buchverlag, ist ein Buch wie ein Spätsommerabend: warm, irgendwie nostalgisch, summend und glücklich machend.
Liss und Sally sind zwei Menschen, die auf der Oberfläche der pure Gegensatz sind, innendrin aber so gleich, dass diese zwei Seelen direkt miteinander schwingen wie Ying und Yang eben oder schwarz und weiß – erst miteinander vollkommen. Beide tragen ein Geheimnis, beide tragen tiefe Wunden. Und vielleicht geschieht das ja manchmal wirklich, dass zwei Menschen, die genau den anderen so sehr brauchen, aufeinandertreffen, ganz zufällig, und sich dann nicht mehr loslassen, ganz ohne Zwang, ganz ohne Müssen.
Alte Sorten ist ein Buch voller Melancholie und voller Hoffnung, mit einem packenden Plot, von dem ich nichts spoilern möchte, mit so viel Gefühl und so viel Schmerz, aber vor allem mit Licht! Diesem sanften Licht, das morgens über einer Wiese steht, weshalb das Setting eines alten Bauernhofes nicht besser gewählt sein könnte. Die Alten Sorten, das vergessene Wissen, das viele, was schon immer in uns wohnt, all das kann ein Weg zur Heilung sein und ein Weg raus aus unserer lauten Welt, ohne dass wir diese hassen und verdrängen müssen. Arenz wählt im Schreiben seine Worte so klug, alles ist mit so viel Genauigkeit und Bedachtsamkeit gesetzt, dass mensch hier durch eine Sternstunde des Schreibens schreiten darf und am Ende des Buches voller Sehnsucht ist, noch einmal ungelesen von vorn beginnen zu können. Weil das aber nicht geht, muss ich jetzt diese Rezension beenden, tut mir leid, ich habe keine Zeit, ich muss schnell alle anderen Bücher von Ewald Arenz lesen!
„Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte.“ (S. 127) So ist dieses Buch. Unbedingt lesen.
Mit „Noto“ ist Adriano Sack ein schriftstellerisch brillanter und emotional extrem berührender Roman der Meisterklasse geglückt. „Noto“ fängt die dunklen Wolken über den Bergen Siziliens genauso atmosphärisch ...
Mit „Noto“ ist Adriano Sack ein schriftstellerisch brillanter und emotional extrem berührender Roman der Meisterklasse geglückt. „Noto“ fängt die dunklen Wolken über den Bergen Siziliens genauso atmosphärisch ein wie die aufgehende Sonne über dem Meer, es ist ein Buch über Trauer und Verzweiflung – und über Leben, Leben, Leben! Und die Liebe.
Konrad bringt die Asche seiner großen Liebe, Adriano, nach Sizilien, um sie dort zu zerstreuen. Sizilien, der Ort ihrer Liebe, der Ort, an dem mit einem Haus, dass sie aus einer Laune heraus anfingen zu bauen, ein Bekenntnis zu ihrem Miteinander steht. Ein Miteinander, das in den letzten Jahren auch aus viel Trennung bestand, aber Trennung, die Raum gibt, die Atmen möglich macht und immer wieder neues Aufeinanderzugehen: „Ich brauche meine Schlösser und Inseln, zu denen Du keinen Zutritt hast.“
Adriano ist einen viel zu frühen und viel zu sinnlosen Tod gestorben (gibt es sinnvollen Tod?) und hat Konrad überfordert und überrumpelt mit einer eben genau nicht Leere, sondern einer Fülle zurückgelassen, eine Fülle von schwebenden Erinnerungen und unglaublicher Präsenz, von der Konrad sich nicht befreien kann und vielleicht auch nicht will. „Du musst dich öffnen! Entpanzern!“ Dieser Herausforderung stellt sich der einsame Mann, der nicht nur die Tage seit Adrianos Tod immer exakt benennen kann, sondern auch die Stunden.
Sack spielt eindrücklich mit Sprache und Bildern für die emotionale Katastrophe, Bilder, die am Anfang des Romans traumatisch und düster sind, in denen immer eine Hälfte fehlt und es viel um das Sehen geht, um den Kontrast zwischen Fehlen und Vernichtung und Dasein und Horizont. Wenn in der Mitte des Buches ein Feuer fast den gesamten Berg aufzufressen droht, und eine Entscheidung im Raum steht – abfackeln, Asche zu Asche oder doch löschen und retten, was zu retten ist – dann sind alle Emotionen klar auf dem Tisch, ohne jemals benannt werden zu müssen. Überhaupt ist es das, was diesen Roman ausmacht, wie der Autor unglaublich geschickt alles Innen in ein Außen bringt und so wirklich tief ins Herz trifft, weil er eben nicht verkitscht ein Innen beschreibt.
Sein zweiter genialer Schachzug ist, dass er Adriano weiter Sprechen lässt und dieses Sprechen kein Dialog wird, sondern immer über allem schwebt, wie ein Voice Over, das gar nicht zwingend das Geschehen kommentiert, aber immer klarer herausarbeitet, wie die Beziehung und das Zusammenleben von Konrad und Adriano waren, was nun alles fehlt. Mit aller Deutlichkeit wird gezeichnet, dass wir Vergangenheit nun einmal nicht aufholen können und Zukunft immer anders sein wird, als wir sie planten.
Wann also ist Jetzt und wie lebt man darin? Wann darf man wieder lieben und ist jedes Lieben nur ein Außer Sich Sein? Wie viel Trauer muss sein, wie viel darf, wie viel Zeit muss man den Atem anhalten, bis man sich erlösen darf davon? Und muss das alles überhaupt? Kann man annehmen, dass alles im Leben seine Zeit hat und ganz ohne Schmerz? Es sind existentielle Fragen, die dieser Roman einem so karg und schroff entgegenschreit, wie die Felswände um Palermo aufragen. Und die Menschen, die in ihm durch das Leben reisen, sind dabei so warm und herzlich und glaubwürdig, wie der Grillo abends auf der Terrasse, wenn die Nacht still wird. Wer Sizilien kennt, sieht es perfekt eingefangen mit all seinen Widersprüchlichkeiten und den vielen Bezügen auf lokale Gegebenheiten. „Sizilien ist wie eine Kaktusfeige“, sagte er: „Du spürst es zuerst kaum, aber es bohrt sich etwas in dein Fleisch, was du nie mehr rauskriegst.“ Am Ende liegt es immer an uns. Wir sind schon glücklich. Wir wissen es nur noch nicht.
Unbedingt erwähnt werden muss auch noch das wunderschöne Cover im Stil des Expressionismus mit seinen leuchtenden Farben – ist mir sofort ins Auge gesprungen und bildet für mich perfekt alles ab, was in diesem Roman steckt. Eine ganz klare Leseempfehlung. Wer dieses Buch nicht liest, hat wirklich was verpasst.
Ein großes Dankeschön an vorablesen.de und Nagel und Kimche in der Verlagsgruppe Harper Collins für das Rezensionsexemplar!
Mit „Trophäe“ ist Gaea Schoeters ein Ausnahmeroman geglückt, der zu einem atemlosen Leseerlebnis führt, nach dem ganz sicher nichts mehr so ist wie es vorher war. Das eindringliche Cover mit dem würdevollen ...
Mit „Trophäe“ ist Gaea Schoeters ein Ausnahmeroman geglückt, der zu einem atemlosen Leseerlebnis führt, nach dem ganz sicher nichts mehr so ist wie es vorher war. Das eindringliche Cover mit dem würdevollen Nashornkopf führt uns direkt in den Konflikt von archaischer Natur und machthungriger Zivilisation, der im gesamten Buch die Handlung vorantreibt und nur zu lösen wäre, wenn – ja wenn der Mensch nicht der Mensch wäre.
Hunter White ist ein Mensch, der an Widerlichkeit wirklich kaum zu überbieten ist – und er versucht, die Big Five vollzumachen, indem er endlich ein Nashorn schießen kann. Denn vor allem ist Hunter White auch: Jäger. Und Mann. Die Kunst der Autorin besteht darin, richtig nah ran an die innere Logik des Jägertäters zu gehen und schonungslos dessen Besessenheit aufzudecken – aber auch die Logik, die hinter seinem Denken und Handeln liegt und die dieses für ihn zwingend macht. Dabei geht sie so sachlich und klar vor, dass man über weite Teile nicht darum herumkommt, das eigene Denken in Frage zu stellen und zumindest kurzfristig immer wieder eine ganz neue Perspektive auf die Großwildjagd zu entwickeln. Und das wühlt wirklich auf. Hunters Gedanken und Äußerungen machen einerseits sehr klar, dass die Jagd für ihn nur ein Mittel ist, um sich lebendig zu fühlen, um ein Machtgefühl zu erhalten, um den Adrenalinkick zu erleben und zu siegen, einfach nur zu siegen. Unendlich viel Kolonialdenken steckt auch in vielen Gesprächen, wenn er beispielsweise formuliert, dass ihm schon als Kind „das ursprüngliche Afrika“ geraubt wurde oder überhaupt in der Art wie er erwartet, dass Tiere und Reviere für ihn bereitgestellt werden. Dem entgegen steht auf schon absurde Weise ein Teil seines Business, das darin besteht, recht willkürlich Landzonen aufzukaufen, um die Erde als Natur zu bewahren (und sie nach seinem Goodwill zu gestalten). „Er, Hunter, Mann.“
Ein Gedanke, der leider erst einmal bestechend war, war für mich, dass es letztlich die Großwild-Jagdlizenzen sind, die zum Artenschutz beitragen, weil sie die Wilderei aushebeln, indem sie ausreichend Geld ins Land spülen und dafür sorgen, dass es einen Grund gibt, die Arten zu schützen. Ich bin innerlich dem Gedanken erst einmal komplett gefolgt und dachte, oha, da ist ja viel dran. Bis mir dann wieder aufgefallen ist, dass das natürlich nur daran liegt, dass die Mehrheit der Menschen kapitalistisch, kurzfristig und ausbeuterisch lebt und denkt – wäre das nicht so, dann würde auch diese Logik nur auf tönernen Füßen stehen.
Auf jeden Fall gelingt es der Autorin bedrückend gut, in die Gedanken- und Gefühlswelt von Hunter White (ich liebe alles daran) einzusteigen und einen auf diese Reise mitzunehmen – und die Jagd selbst ist superspannend gestaltet, ich habe mich mehrfach selbst ans Atmen erinnern müssen. Der Ekel, den man parallel empfindet, während man spannungsgeladen mit auf die Jagd geht, ist enorm und die Autorin schafft es genial, einen die ganze Zeit eng an der Hand zu führen, es wird keine Pause gegönnt.
In der zweiten Hälfte des Buches geschieht dann ein Plottwist, der hier nicht verraten werden soll, der Schoeters aber die Möglichkeit gibt, die Jagd komplett ad absurdum zu führen und uns in brutaler Ehrlichkeit all die Hässlichkeit zu zeigen, die ihr inneliegt. Dabei verrutschen die Dimensionen des gelangweilten Menschen aus der „Zivilisation“ immer weiter und die pseudologischen Rechtfertigungen auch. Die Jagd der Native Inhabitants und der Weißen kommt immer mehr in Konfrontation: „Für uns ist das eine Frage des Überlebens, Mister White. Nicht des Egos. Oder der Trophäen.“ Das Ende des Buches ist im Detail nicht vorhersehbar und bietet Möglichkeiten, die man in seiner kühnsten Phantasie eigentlich nicht denken möchte.
Mein Fazit: Ein aufrüttelndes, mich absolut bewegendes, über viele Teile heftig abstoßendes (aber im guten Sinne) Buch, das eine unglaublich brillante Autorinnenleistung darstellt und fast durchweg die Spannung extrem hochhält. Pageturner mit unfassbar viel Gehalt und Abgrund. Für mich klare 5 Sterne und ein Stoff, der mich noch länger beschäftigen wird. Mein großer Respekt an die Autorin, sich mit diesem Thema so auseinanderzusetzen und es in diese geniale Form zu bringen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Großer Anwärter auf das Buch des Jahres.
Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Paul Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar!
„Und dann sind wir gerettet“, das Romandebut von Alessandra Carati, erschienen 2023 im nonsolo Verlag, ist eines dieser seltenen Bücher, die mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte: Ein Ausnahmebuch, ...
„Und dann sind wir gerettet“, das Romandebut von Alessandra Carati, erschienen 2023 im nonsolo Verlag, ist eines dieser seltenen Bücher, die mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte: Ein Ausnahmebuch, das es verdient, auf den Bestsellerlisten ganz weit nach oben zu wandern. Ein Buch, dem ich nicht mit einer kurzen Rezension gerecht werden kann.
Die Autorin beschreibt die Situation einer Familie auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg so klar, schnörkellos, gedrängt, teilweise gewaltvoll aber vor allem immer auch poetisch, dass es einen direkt packt. Vor allem die Sprache ist einfach wunderschön, es sind so viele so eingängige Sprachbilder, die Carati findet. Nur ein paar Beispiele aus dem Buchanfang: "Er packte seine ganze Enttäuschung darüber, dass er mich nicht schlagen durfte, in seine geschlossenen Fäuste und rannte weg." (S. 15) "...schon immer hatte sie sich wie zu Besuch in ihrem eigenen Leben gefühlt." (S. 16) "Ich löste mich auf und wurde zu Wasser..." (S.20) "Das einzige Mal, dass ich das Wort "auslöschen" gehört hatte, war in einem Dokumentarfilm über die Dinosaurier gewesen. Nach ihrer Auslöschung war nichts von ihnen übriggeblieben, nicht mal ihre Jungen." (S. 24) Ich könnte endlos weiterzitierten. Ein ganz starker Start in den Roman.
Der erste Abschnitt April 1992/Flucht gibt vor allem indirekte Informationen über den Jugoslawienkrieg. Es ist eher der emotionale Gehalt, der einem mit aller Brutalität bewusst wird. Die Härte, mit der alle wehrfähigen Männer (und eigentlich noch Kinder, 12 Jahre ist ja weit weg von Erwachsen) im Land gehalten werden, das Eingesperrtsein auf engem Raum, mit dem die Flucht von Grund auf verhindert werden soll, die Bedrohung durch die Milizen und die damit einhergehende Willkür, die dauerhafte Traumatisierung durch das Grundgefühl der Angst, das immer mitschwingt. Was mich sehr berührt hat, ist die Unmöglichkeit, Kindern den Krieg zu erklären als das, was er ist - und somit von einer Lüge in die nächste zu schlittern, was dazu führt, dass Kinder, in diesem Fall Aida, ihren Eltern nicht mehr glauben, ein Vertrauensverlust, der immer weitreichende Konsequenzen hat. Ich fand die Beschreibung auf der ersten Seite ganz toll, denn irgendwie gilt sie für alle Menschen, nicht nur für Kinder - wer kann sich Krieg schon vorstellen?: "Wir wussten nicht, was Krieg war, für uns war er nur ein geflüstertes Wort, das die Macht besaß, die Erwachsenen unsicher und böse werden zu lassen." Auch sehr deutlich wurde für mich, wie der Krieg jegliche Individualität aufhebt und den Menschen in eine Masse umformt, eine Funktion. Angesichts des aktuellen Ukrainekriegs, der teilweise durchaus ähnliche Züge hat, sind diese Gedanken sehr bedrückend.
Im zweiten Abschnitt, 1992/1993/Die Familie zieht mit der Geburt von Ibro auch das Thema "Geschwister" in den Roman ein. Ich hatte mich schon davor gefragt, wie es wohl sein muss, wenn ein Geschwisterkind Krieg, Flucht und alte Heimat am eigenen Leib erlebt hat und erinnert und das andere nicht. Beide sind zwar Teil derselben Familie, wachsen aber unter so unterschiedlichen Voraussetzungen auf, das stelle ich mir schwierig vor. Zumal die Eltern sich zunehmend so traumatisiert zeigen, dass hier wenig Unterstützung vorhanden ist: Der Vater, der immer aggressiver und gewaltvoller wird, weil er keine Lösung für all die Probleme finden kann und die Mutter, die sich immer weiter zurückzieht und apathisch schweigt, keine Liebe mehr geben kann. Beide Eltern erzeugen wirklich heftige und gewaltvolle Momente in ihrer Hilflosigkeit. Es muss furchtbar sein, als Kind so aufzuwachsen, wenn man noch dazu selbst auch Traumatisierungsspuren trägt. Auch da findet Carati wieder tolle Worte: "Samir und ich nannten das ihre "Bosnitis" (S. 95), weil wir dachten, die hätte Heimweh." Die Familie zeigt ansonsten erstaunlich wenig Anpassungsprobleme, verdrängt aber mehr oder minder erfolgreich durchweg, dass der Krieg noch länger dauern kann. Immer wieder wird das Hier und Jetzt als Provisorium angesehen, wird beschworen, dass man zurückgehen wird. Das macht es schwierig anzukommen und sich weiterzuentwickeln.
Bedrückend, wie sehr der Krieg auch zehn Jahre später noch das Leben der Familien bestimmt. Sehr plastisch wird für mich beschrieben, wie absurd die recht willkürliche Neuaufteilung in neue autonome Länder ist - mit weitreichenden Konsequenzen für die Bevölkerung, die entwurzelt wird und neu zugeordnet, was auch zu extremem Misstrauen unter Menschen führt, die früher alle zusammen an einem Ort gelebt haben. Sehr klar zusammengeführt in einem Dialog zwischen Großmutter und Soldaten: "Das hier ist ein serbisches Dorf", hatten die russischen Soldaten gesagt, als sie zusammen mit den UNO-Blauhelmen gekommen waren. "Muslime können hier nicht mehr bleiben." (...) An der Spitze der Gruppe hatte meine Großmutter laut gesagt: "Geht mal auf den Friedhof, wenn dort auch nur ein einziges christliches Kreuz steht, dann ist das Dorf serbisch." Alle Grabsteine waren muslimisch. Der Krieg war zu Ende, die Grenzen waren wiederhergestellt worden, und uns hatte man zu Fremden in unserem eigenen Dorf gemacht. (S. 113) Die daraus abgeleiteten Gedanken, dass man nun für immer im Exil ist und seine Heimat verloren hat, dass sie nicht wieder herstellbar ist, finde ich zutiefst schmerzhaft. Verrückt, wie die Elterngeneration dann dennoch weiter an einer Rückkehr klammert und sich einfach nicht neu in Italien zuordnen und einleben kann. Ein Leben auf gepackten Koffern, mit einer ständig aufgeklappten Schere im Herzen.
Carati schildert all dieses so dicht und emotional stark und mensch ist durchgehend sehr berührt von allen Figuren. Es fühlt sich an, als wären sie alle in Schraubzwingen gepresst, beim Lesen oft kaum auszuhalten. Man wünscht ihnen allen so sehr Luft unter den Flügeln. Der, der scheinbar am besten mit allem klarkommt, ist Ibro. Und doch gibt es auch in ihm immer wieder eine Unruhe und eine überschießende Kraft, die zeigt, dass auch in ihm etwas brodelt. Ein Satz, der für mich einfach alles beschreibt: "Ich hielt mich auf Abstand zu allem, als wäre meine Haut zart und dünn wie nach einer Verbrennung." (S. 141) Dauerhafte Vorsichtigkeit. Wie ein Hase auf offenem Feld.
Der letzte Abschnitt bringt noch einmal eine starke Wendung mit sich, die ich hier auf keinen Fall spoilern möchte. Was ich aber noch sagen kann: Fertig mit dem Buch und auch ein bisschen fertig mit der Welt war für mich im letzten Abschnitt sehr eindrücklich, dass es einfach nie ein vollkommenes Ankommen in der neuen Welt gibt. Aida macht eigentlich eine Vorzeigeintegrationsgeschichte durch und dennoch verfolgt sie bis zum Schluss der Krieg, das Trauma, die Zerrissenheit. Wie muss es sein, immer aus einem empfundenen Defizit heraus zu leben (und sich zeitgleich immer schuldig zu fühlen und das Gefühl zu haben, aus allem das Maximum rausholen zu müssen, denn man hat es ja herausgeschafft, anders, als viele andere)? "Ich fand, mir stehe für das Leben, welches mir das Schicksal beschwert hatte, eine Entschädigung zu..." (S. 182) "Sie hatte geglaubt, ihr Opfer werde mich retten, aber niemand kann einen anderen retten. Ich musste einfach nur lernen, in mir selbst Frieden zu finden." (S. 280)
Alle Wege führen letztlich immer wieder zurück nach Bosnien, für die ganze Familie schließt sich dort immer der Kreis. Die Heimat lässt sie nicht los.
Auch in diesem letzten Abschnitt ist der Krieg präsent, wie eine mahnende Wolke, die über allem schwebt und sich nie richtig auflöst. Vor allem aber erscheint der Krieg hier auch als Erblast, als etwas, aus dem man als Sieger:in im neuen Leben hervorgehen muss: "Wir waren seine geliebten Enkelkinder, die den Krieg und die Armut überlebt hatten, und die er sich immer aus der Ferne vorgestellt hatte." (S. 260) Dieser Druck auf einer Generation, für die die Eltern alles aufgegeben haben. Wie kann man dem standhalten?
Das Buch hat für mich bis zum letzten Satz einfach alles eingehalten, was ich mir von einem Buch nur wünschen kann. Sprachlich einfach ganz besonders ausgezeichnet, durchweg zutiefst berührend, eine so kluge Geschichte über das, was Kriege EIGENTLICH auslösen, in uns, in den Menschen, im Miteinander, wie weitreichend die Folgen über Generationen hinweg sind, ich bin auf eine sehr gute Art vollkommen zerstört 5-Sterne-deluxe, ich würde gerne 6 Sterne geben können. Einzig die einleitenden Zitate vor den Abschnitten hätte ich nicht gebraucht. Sie geben für mich nichts dazu, das ist so ein komisches Dekor, das gegen den Roman sowieso nur abfallen kann. Und wenn ich mir etwas für die nächste Auflage wünschen dürfte, wären das noch ein paar mehr Begriffserläuterungen. Aber das sind Marginalitäten angesichts dieses wirklich großen Wurfs. Ich hoffe, wir werden noch ganz viel von Alessandra Carati zu lesen bekommen.
Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den nonsolo Verlag für das Rezensionsexemplar!