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Veröffentlicht am 22.01.2019

Die schlechteste aller möglicher Welten

Fabian
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Erich Kästners autobiographisch angehauchte Erzählung über Jakob Fabian, der das ausschweifende Berlin der späten Weimarer Republik erlebt, und daran untergeht, wirft einen sehr klaren, von Schopenhauers ...

Erich Kästners autobiographisch angehauchte Erzählung über Jakob Fabian, der das ausschweifende Berlin der späten Weimarer Republik erlebt, und daran untergeht, wirft einen sehr klaren, von Schopenhauers Pessimismus geprägten Blick auf die Welt und die Menschheit. Das 1931 erschienene Buch ist an manchen Stellen sogar beängstigend prophetisch, so sagt Fabian im Gespräch mit einem Nazi: "Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"

Die Endzeitstimmung dieser Zeit kommt deutlich zum Vorschein, man merkt geradezu, wie die Menschen fiebrig am Rande des Vulkans tanzen, kopulieren und saufen, um die düstere Welt, die Aussichtslosigkeit zu vergessen. Mittendrin und doch abseits Fabian, der sich dieses ausgelassen-unfrohe Treiben betrachtet, aber nur am Rande und mit einem gewissen Widerwillen daran teilhat.

Der erste Teil des Buchs ist eine etwas zusammenhanglose Betrachtung der diversen Berliner Ausschweifungen, die Fabian sich anschaut. Zusammen mit ihm werfen wir einen Blick in das Nachleben Berlins: auf Frauen, die sich für freien Eintritt in eine Bar und einen Schnaps halbnackt präsentieren, die offensiv ihre körperliche Befriedigung suchen, auf einvernehmliche und nicht-einvernehmliche offene Beziehungen, auf Manipulierung von Zeitungsberichten, viel Alkohol und betrunkene Ausraster, gleichgeschlechtliche Beziehungen und auch auf die in diesen Jahren allgegenwärtige politische Gewalt, die aufkommenden Nazis. Das war farbig erzählt, mir persönlich an manchen Stellen ein wenig zu vignettenhaft und mit recht vielen philosophisch-politischen Monologen (die auch im restlichen Verlauf des Buches immer wiederkehren).

Allmählich bewegt sich das Buch weg von den Einblicken hin zu einer fortwährenden Handlung und wir lernen den Beobachter Fabian nun auch besser kennen. Er ist letztlich zu gut für die Welt, stets hilft er anderen, verteilt sein knapp vorhandenes Geld bereitwillig, handelt dort, wo andere zusehen. Immer wieder wird er von den Menschen enttäuscht, mit dem allgemeinen Egoismus und der Jagd nach Geld und Erfolg konfrontiert, auch wenn man sich im Laufe dieser Jagd selbst verkaufen muß. Die Gedankenlosigkeit der Menschheit wird ebenfalls gut geschildert, sie kostet Fabians besten Freund das Leben.

Zwischendrin dann als scharfer Kontrast die Unschuld von Fabians Mutter, dem gänzlich anderen Kleinstadtleben. Nicht überraschend, daß Fabian sich immer wieder in Erinnerungen an die Kindheit und die Mutter flüchtet, auch wenn diese Kindheit alles andere als sorgenfrei war. Die Szenen zwischen Fabian und seiner Mutter sind sehr liebevoll und berührend.

Das düstere Lebensgefühl dieser verlorenen Generation wird mit messerscharfem Blick und viel treffender Ironie gezeichnet. Die Reise Fabians von Arbeitsamt zu Arbeitsamt nach seiner Entlassung ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Keiner ist zuständig, alle schicken ihn weiter, die Wände sind behängt mit Verboten und amtlichen Informationen - nach fünf Stunden Irrweg durch die Behörden wird er wieder an den Ausgangspunkt zurückgeschickt. Er paßt nicht so richtig ins bürokratische System und letztlich auch gar nicht in diese Welt. Die Jugend wurde ihm - wie auch Kästner - als Siebzehnjährigem durch den Ersten Weltkrieg brutal beendet, das Studium und die Intelligenz helfen ihm wenig im wirtschaftskrisengeplagten Land. Verbiegen und verkaufen möchte er sich nicht, was ihn von so vielen anderen unterscheidet. Offen und direkt ist er, beobachtet scharfsinnig und hält deshalb vielen Leuten den Spiegel vor, was ihm meist schadet. Zu aufrichtig und vertrauensvoll ist er anderen gegenüber. Die guten Eigenschaften Fabians bringen ihm letztlich nur Nachteile.

All dies wird berichtet in Kästners hervorragendem Sprachstil - schnörkellos und gekonnt, oft humorvoll, bissig, treffend. Wer Erich Kästner vorwiegend oder nur als Kinderbuchautor kennt, wird hier überrascht und beeindruckt sein. Kästner konnte mit Worten umgehen, das ist in jedem Satz ersichtlich und viele Sätze habe ich mehrfach gelesen.

Veröffentlicht am 22.01.2019

Persönliche und berührende Geschichte eines Nachkriegsschicksales

Hoffnungsschimmer in Trümmern
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Pia Wunder setzt mit diesem Buch ihrer Großmutter und Mutter ein Denkmal. "Jede Familie hat ihre einzigartige Geschichte" ist der erste Satz, und es gelingt der Autorin gut, diese einzigartige Geschichte ...

Pia Wunder setzt mit diesem Buch ihrer Großmutter und Mutter ein Denkmal. "Jede Familie hat ihre einzigartige Geschichte" ist der erste Satz, und es gelingt der Autorin gut, diese einzigartige Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Damit erzählt sie auch ein Stück Zeitgeschichte, denn die Todesangst während des Krieges und auch der ersten Nachkriegszeit, die unglaublichen Leiden von Vertreibung, Flucht, Willkür einiger Besatzer sind ein Teil vieler europäischen Familienerinnerungen.

Pia Wunder erwähnt im Vorwort, daß in ihren Gesprächen mit Großmutter und Mutter einige Taschentücher verbraucht worden seien, und das kann ich gut verstehen, denn sogar als reine Leserin gab es einige Stellen, an denen mir die Tränen in die Augen stiegen. Die grausame Vergewaltigung einer 14jährigen (sehr dezent im Buch dargestellt) durch Besatzungssoldaten, das Leiden ihrer Eltern, deren Behandlung - das hat mich noch tagelang beschäftigt, ebenso wie überhaupt das Ausgeliefertsein an die Soldaten. Dagegen war die Schilderung des ersten Nachkriegsweihnachtsfestes, bei dem sich unerwartet Gutes ereignete, auf ganz andere, positive Weise anrührend. Die Großmutter der Autorin, Grete, hat viel durchgemacht. Direkt vom Anfang des Buches an hat sie es mit gedankenlosen, teils bösartigen Menschen zu tun, muß fast ständig auf sich selbst gestellt kämpfen. Es ist unglaublich, was diese zarte, aber offensichtlich zähe kleine Person alles erduldet und geleistet hat. Gretes Schicksal hat mich von Anfang an berührt. Die Leiden der letzten Kriegsmonate und der Flucht werden deutlich und eindringlich geschildert. Das Verhalten der Menschen wird hier ebenfalls gut dargestellt - die meisten sind sich selbst die Nächsten, das aber nicht aus reiner Bequemlichkeit oder Bosheit, sondern weil es um das nackte Überleben geht. Wenn es an diesen Urinstinkt, diese Urangst geht, dann treten andere menschliche Gefühle schnell weit in den Hintergrund. Dadurch sind die von der Autorin geschilderten wenigen Ausnahmen besonders eindringlich. Dieser erste Teil des Buches ist der packendste und der, der einen Leser auch nachher noch gedanklich beschäftigt.

Pia Wunder berichtet die Geschichte ihrer Großmutter und Mutter im Romanstil, eine gute Idee. Der Schreibstil liest sich flüssig, er ist einfach (an manchen Stellen für meinen Geschmack zu einfach) und schnörkellos. Ab und an fand ich einige Formulierungen etwas ungeschickt, oder Worte falsch gewählt (zB "linkisch" statt "link").
An mehreren Stellen hätten ein oder zwei erklärende Sätze das Verständnis erheblich erleichtern können, hier fehlten mir doch recht relevante Hintergrundinformationen.

Während der erste Teil des Buches (ca 60 %) sich auf Grete konzentriert und aus ihrer Perspektive berichtet, wechselt diese Perspektive im zweiten Teil zu ihrer Tochter Ilse und erzählt hauptsächlich deren Geschichte. Diese ist naturgemäß weniger dramatisch als die direkten Kriegs- und Nachkriegsjahre. Während ich es gut fand, daß wir auch Ilses Weg weiterverfolgen konnten, war mir hier einiges zu detailliert berichtet und ich habe einige Abschnitte eher überflogen. Hier hätte man meiner Meinung nach wesentlich straffen können, das mag aber auch rein persönliche Präferenz sein.

Es ist der Autorin gelungen, die Geschichte ihrer Großmutter und Mutter mitreißend zu erzählen, zu zeigen, wie wichtig der Familienzusammenhalt war, welche Nachwirkungen die schwierigen Jahre später in der Mutter-Tochter-Beziehung oder auch sogar bei der Berufswahl der Tochter hatten. Mit wenigen Worten wird aufgezeigt, daß die Traumata der Kriegs- und Nachkriegszeit bei den betroffenen Generationen fortwirken.

Es ist ein lesenswertes Buch, das eine katastrophale Epoche unserer Geschichte beleuchtet und mit persönlichen Schicksalen verknüpft.

Veröffentlicht am 01.07.2024

Unterhaltsamer Krimi, von dem ich mir mehr Tiefe erwartet hatte

Im Kopf des Bösen - Ken und Barbie
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Auf dieses Buch kam ich wegen meines großen Interesses an dem Homolka-Bernardo-Fall, der hier als Inspiration genommen wurde. Der tatsächliche damalige Fall dient als Grundlage für diesen fiktiven Roman ...

Auf dieses Buch kam ich wegen meines großen Interesses an dem Homolka-Bernardo-Fall, der hier als Inspiration genommen wurde. Der tatsächliche damalige Fall dient als Grundlage für diesen fiktiven Roman und es wird aufgezeigt, wie er in heutiger Zeit und mit heutigen Mitteln hätte gelöst werden können. Das ist ein origineller und spannender Ansatz, auch machte mich die Mitarbeit von Axel Petermann, den ich aus mehreren Dokumentationen kenne und schätze, neugierig.

Das recht kurze Buch steigt gleich erfreulich ins Geschehen ein, hält dieses dann aber erst einmal durch zwei lange erklärende Einschübe von je einer Seite auf, so daß ich den Einstieg nicht wirklich flüssig fand. Zudem bekommt die Ermittlerin Sophie sehr viel Raum, was gerade in der ersten Hälfte zu Lasten des Erzähltempos und Falls geht. Nachdem es lange Mode war, Krimiermittler mit allerlei Traumata auszustatten, scheint es jetzt in Mode zu kommen, Ermittler mit psychologischen Besonderheiten/Fähigkeiten als Protagonisten zu nehmen. Ich fühlte mich hier in mancherlei Hinsicht an die Bücher von Max Seeck erinnert – auch den ererbten Reichtum haben beide Protagonistinnen. Sophie ist Autistin, hat zudem noch ein Kindheitstrauma und den erwähnten Reichtum, welcher für die Handlung völlig bedeutungslos ist und auf mich etwas wahllos hineingeworfen wirkte. Ihr Autismus dominiert viele Szenen, schon weil ihre diesbzgl. Fähigkeiten ihr bei der Arbeit als Profilerin dienlich sind, ihr andere Autismus-Aspekte aber viele Situationen schwieriger gestalten. Es gibt darüber hinaus mehrere ausführliche Szenen, die ausschließlich dazu dienen, Sophies Autismus darzustellen. Diese unterbrachen leider den Handlungsfluss, waren sehr detailverliebt und wiederholten sich inhaltlich außerdem ziemlich. Zwei Fakten zu Sophie (ihr eidetisches Gedächtnis und ihre Abneigung, aus Gläsern zu trinken) werden uns mehrfach fast wortgleich mitgeteilt, auch sonst fielen mir häufiger Wiederholungen auf.

Nachdem ich von der ersten Hälfte des Buches also eher enttäuscht war, weil es wesentlich mehr um Sophie als um die Ermittlungen ging, nimmt die Handlung dann endlich Fahrt auf und wird richtig gut. Der Schreibstil ist flüssig, ein wenig störte mich abgesehen von den Wiederholungen die Tendenz, das „show, don’t tell“ etwas zu vernachlässigen. Gesichtsausdrücke, Stimmungen, einfache Schlussfolgerungen etc. wurden den Lesern oft erklärt anstatt gezeigt, manchmal gezeigt und zusätzlich erklärt. Erfreulich fand ich dagegen, daß Hintergrundinformationen gut eingebunden werden. Es gibt kein Infodumping, sondern es ist immer nachvollziehbar, wenn Hintergründe in einem Dialog zur Sprache kommen oder Ermittlungsmethoden erklärt werden. Eine ausgezeichnete Szene, in der Sophie in bester Sherlock-Holmes-Manier einem Kollegen zeigt, was sie durch reine Beobachtungen und Schlussfolgerungen alles über ihn weiß, erläutert das Prinzip des Profiling handfest und nachvollziehbar.

Auch die Ermittlungen werden gut geschildert. Es gibt keine hanebüchenen Zufälle oder übertriebene Schockeffekte. Es wird ganz klassisch ermittelt, mit logisch nachvollziehbaren Schlussfolgerungen und realistischer Darstellung. Auch die Gespräche mit Zeugen oder Verwandten sind realistisch und farbig geschildert – man sieht die Szenen vor sich. Das Grausige der Tat wird uns ohne blutrünstige Schilderungen vermittelt – wir erfahren einige Szenen aus Sicht eines der Opfer. Diese Szenen sind ausgezeichnet, sie zeigen sowohl die absolute Menschenverachtung der Täter wie auch die Ausweglosigkeit und das Grauen, in welchen sich das Opfer befindet. Es sind äußerst beklemmende Szenen mit tiefdunklen Einblicken.

Der letzte Teil bringt manch überraschende Wendung und kommt erfreulicherweise ohne langgezogenen Showdown aus (leider dafür nicht ohne das überbenutzte und enervierende Klischee der Romanze zwischen Ermittlern). Dann endet die Geschichte leider sehr abrupt. Tiefere Einblicke in das Täterpaar erhalten wir überraschenderweise kaum, ihre Gedankenwelt und Beziehung wird im Buch sehr rasch abgehandelt, was insbesondere angesichts der extrem ausführlichen Beschreibung von Sophies Psyche erstaunlich und enttäuschend ist. Ein Nachwort schildert den echten Fall und zeigt auf, was im Krimi verändert wurde und was übereinstimmt – der echte Fall ist sehr nah dran, trotzdem finde ich den Begriff „True Crime“ angesichts der Gestaltung eher vollmundig, denn wir bekommen kein True Crime, sondern einen fiktiven Krimi, der von einem True-Crime-Fall inspiriert ist. Letztlich ließ mich das Buch etwas enttäuscht zurück. Vielleicht habe ich mit dem Namen Petermann zu hohe Erwartungen verknüpft. Der besondere Tiefgang, den ich gerade hinsichtlich der Psyche und des Zusammenspiels des Täterpaares erwartet hatte und der hier ein Alleinstellungsmerkmal hätte darstellen können, fehlt leider (denn auch von echten Fällen inspirierte Krimis gibt es mehrere). Meines Erachtens hätte der Fokus mehr von Sophie weggenommen und dem Täterpaar gewidmet werden können. Das Buch bietet interessante Einblicke in Ermittlungstechniken und Profiling – das machen andere Romane allerdings auch, und dies teilweise mit mehr Tiefe. „Im Kopf des Bösen“ bietet letztlich überwiegend konventionelle Krimiunterhaltung mit den bekannten und oft verwendeten Elementen des Genres. Diese ist gut erzählt und punktet durch Realismus sowie die Profilerelemente.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.06.2024

Etwas betont zeitgeistig verfasstes Buch für Neuanleger

Aktien-Life-Balance
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In „Aktien Life Balance“ gibt Lisa Osada einen für Börsenanfänger hilfreichen und praxisnahen Überblick über das Investieren in Aktien, Fonds und ETFs. Sie verwebt diesen sehr stark mit ihrer eigenen Geschichte ...

In „Aktien Life Balance“ gibt Lisa Osada einen für Börsenanfänger hilfreichen und praxisnahen Überblick über das Investieren in Aktien, Fonds und ETFs. Sie verwebt diesen sehr stark mit ihrer eigenen Geschichte und ihren Erfahrungen, was sympathisch wirkt und die Inhalte weniger abstrakt macht, was gerade bei diesem Thema nützlich sein kann.

Von der Erscheinung des Buches war ich ein wenig enttäuscht, denn sowohl Papier wie auch visuelle Gestaltung wirken nicht sonderlich hochwertig. Allerdings ist der Preis für ein Sachbuch relativ moderat, so dass das Verhältnis passt. Trotzdem hätte es nicht geschadet, bei den Abbildungen etwas mehr Sorgfalt walten zu lassen. Es sind einige dabei, die Schrift beinhalten, und diese ist so winzig, dass ich – mit wohlgemerkt perfekter Sehkraft – diese kaum entziffern kann. Negativstes Beispiel ist hier auf Seite 78 eine Abbildung der Klassifizierungsstandards, bei der die Beschriftungen in den gräulichen Feldern keinen guten Kontrast bilden und zudem noch sehr klein sind. Wenn Beschriftungen vorhanden sind, sollte man sie ohne Mühe lesen können. Insgesamt hätte ich mir von der Gestaltung etwas mehr Wertigkeit erwartet.

Vom Stil her ist das Buch leicht lesbar und die Autorin gibt sich viel Mühe, komplexe Sachverhalte und Begriffe nachvollziehbar zu erklären, was auch gut gelingt. Sie greift sehr gerne auf Beispiele zurück. Das ist in den meisten Fällen passend und hilfreich, manchmal aber auch etwas übertrieben, so zum Beispiel in einem Fall, als Angebot und Nachfrage unnötig ausführlich durch das Beispiel eines Obststands mit Apfelverkauf erklärt wird. Das war einer der Fälle der Übersimplifizierung, die mir gelegentlich auffielen, denn wer für Angebot und Nachfrage ein solch einfaches Beispiel braucht, sollte sich vielleicht erst einmal mit ganz anderen Grundlagen beschäftigen, bevor es ans Investieren geht. Auch wenn für die genaue Betrachtung einer potentiellen Aktie das Beispiel des Hereinzoomens in Google Maps verwendet wird, ist das zwar ein gutes, treffendes Bild, wird dann aber eine Seite lang noch mal detailliert erklärt, obwohl gerade die Zielgruppe mit dem Erwähnen des Vergleichs schon genau im Bilde sein dürfte. An einer anderen Stelle wird ein ETF mit einem Blumenstrauß verglichen, was mir ausgezeichnet gefiel – bildhaft und verständlich. Und ausreichend, trotzdem gibt es dann in diesem an Abbildungen eher armen Buch extra ein halbseitiges Blumenstraußbild, das völlig unnötig ist. Das waren alles Momente, in denen man den Eindruck bekommt, den Lesern wird etwas zu wenig zugetraut und sie damit nicht ganz ernstgenommen.
Im Allgemeinen aber ist es erfreulich, die nachvollziehbaren und auch für Anfänger verständlichen Erklärungen und Beschreibungen zu lesen. Enervierend fand ich allerdings die zahlreichen Wiederholungen, teilweise sogar in ähnlichen Sätzen kurz hintereinander.

Weitaus weniger hat mir das betont Zeitgeistige gefallen. So werden die Leser geduzt, was ich sehr unangenehm finde. Auch aus meinem Umfeld (gar nicht sehr viel älter als die Autorin) weiß ich, daß dieser Trend, von Firmen und in Sachbüchern geduzt zu werden, vielen nicht zusagt. Es wirkt übergriffig, nicht sonderlich seriös und hat mich das ganze Buch über gestört, ebenso wie die unnötigen Genderdoppelungen, die Sätze aufblähen. Wenn man vor lauter „Gründerinnen und Gründern“, „Anlegerinnen und Anlegern“ oder „Inhaberinnen und Inhabern“ in Bandwurmsätzen ertrinkt, dann macht das Lesen keinen Spaß – das mag marginal erträglicher sein als die unsäglichen Gendersternchen, aber eben trotzdem unnötig und leseunfreundlich.
Auch die vielen Anglizismen fand ich nicht erfreulich (und das sage ich als zweisprachig Aufgewachsene). „Good to know“ anstelle von „Gut zu wissen“, die „Cashreserve“ anstelle der „Barreserve“ u.ä. haben keinen Mehrwert außer dem zeitgeistigen Klang. Ein wenig zwischen Kopfschütteln und Schmunzeln schwankte ich dann auch bei einem Beispiel, in dem vom Kauf eines BMWs gesprochen wurde, dessen Zweck hauptsächlich darin bestünde, Fotos in den sozialen Medien zu posten und Likes zu generieren. Bei all dem merkt man die etwas enge Fokussierung auf eine bestimmte kleine Zielgruppe. Das ist in meine Bewertung des Buches nicht sonderlich eingeflossen, denn wenn man seine Zielgruppe kennt, ist es nur natürlich, diese auch anzusprechen. Trotzdem wäre es auch etwas weniger betont möglich gewesen, denn mir fallen durchaus mehrere Zielgruppen für das Buchthema ein.

Während ich stilistisch also weniger überzeugt war, fand ich die gegebenen Informationen ausgezeichnet. Ich investiere schon seit meiner Teenagerzeit und konnte so die Ratschläge und Erfahrungen mit meinen eigenen abgleichen. Mir ging es bei dem Buch darum, mein praktisches Wissen an manchen Stellen mit ein wenig theoretischem Fundament zu unterlegen, und das hat gut geklappt. Vieles, was ich mir praktisch erarbeiten mußte, wird hier zutreffend und treffend erklärt. Vieles, was ich theoretisch bereits wußte, wird hier ebenfalls zutreffend dargelegt. Es ist Lisa Osada hervorragend gelungen, ihre eigenen Erfahrungen in Ratschläge und Orientierungshilfen umzuwandeln, die Börsenneulingen wertvolle Hilfen bei den ersten Investitionsschritten geben können. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, daß es sich auszahlen wird, den Informationen in diesem Buch zu folgen. Sehr schön ist es auch, daß sie so offenen Einblick in ihre eigenen Anlagen und Fehler gibt und damit den Lesern ermöglicht, diese Fehler zu vermeiden. Entbehrlich fand ich lediglich die letzten Seiten, in denen wohl noch schnell der Titel des Buches gerechtfertigt werden sollte, dort finden sich auf einigen Seiten Hinweise, was das Leben außerdem noch bereichert. Es sind ziemliche Binsenweisheiten, die in ihrer Form als schneller, kurzer Nachtrag etwas aufgepfropft wirken – da wären mehr Berichte und Ratschläge aus erster Hand wesentlich nützlicher und interessanter gewesen. Die Autorin hat nämlich ihre Abonnenten nach deren Erfahrungen befragt, was eine ausgezeichnete Idee ist, uns aber nur zwei Antworten auf insgesamt eineinhalb Seiten präsentiert.

Ganz hervorragend fand ich die Anleitung zur Aktienauswahl. Hier wird gut dargelegt, welche Gesichtspunkte man beachten sollte, es gibt Hinweise, die gelungen über das Übliche hinausgehen und neue Blickwinkel aufzeigen. Hier habe auch ich mit meinem bereits erfolgreichen Portfolio mit vielen Einzelaktien noch neue Impulse gefunden und mich über frische Perspektiven gefreut. Vom Informationsgehalt ist das Buch insbesondere für Neuanleger lohnenswert, vor allem durch die klare Darlegung und den persönlichen Fokus.

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Veröffentlicht am 05.04.2024

Originell, schöne Sprache, aber sehr distanziert und zu knapp

Der Sommer, in dem alles begann
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Ein Buch, das mit zwei Beerdigungen beginnt, macht neugierig auf das, was in jenem titelgebenden Sommer geschehen ist. Der Klappentext klingt etwas platt, derlei „drei Frauen, deren Lebenswege sich kreuzen“, ...

Ein Buch, das mit zwei Beerdigungen beginnt, macht neugierig auf das, was in jenem titelgebenden Sommer geschehen ist. Der Klappentext klingt etwas platt, derlei „drei Frauen, deren Lebenswege sich kreuzen“, und Romane mit verschiedenen Zeitebenen gibt es leider zu Hunderten. Léosts Roman hebt sich davon aber glücklicherweise ab. Die Geschichte selbst hat schon durch die Bretagne als Handlungsort etwas Ungewöhnliches und auch die meisten Handlungsstränge selbst sind düsterer und substanzvoller als bei der üblichen Drei-Frauen-Zeitebenen-Romankost. Besonderes Herausstellungsmerkmal war für mich der Sprachstil, mit dem Léost sich ebenfalls von diesem oft süßlichen Genre abgrenzt.
Sie schreibt äußerst reduziert und beweist, wie ausgezeichnet sie mit Sprache umgehen kann. Die Übersetzung wird dem ebenfalls erfreulich gerecht. Einziger Wermutstropfen in der Übersetzung ist die Verwendung von künstlichen Worten wie „Studierende“ und leserunfreundlichen Doppelnennungen wie „Schülerinnen und Schüler“ – dies sogar in wörtlicher Rede der frühen 1990er, obwohl diese Formulierung zu der Zeit gar nicht verwendet worden wären. Abgesehen davon erfreut die gekonnte Sprache aber und ich habe viele Formulierungen mehrfach gelesen und mich an ihrer treffenden Prägnanz erfreut.
Etwas nachteilig fand ich dagegen den berichtartigen, knappen Erzählstil. Die Leser sind nur sehr selten wirklich bei Geschehnissen dabei, der Großteil des Buches wird uns nicht erlebbar gemacht, sondern erzählt. Wir sind bei Dialogen oft nicht dabei, sie werden uns zusammengefasst, auch sonst sind die Leser oft nicht in der Szene drin. Unemotional und knapp erfährt man von allerlei, was doch eigentlich voller Gefühle wäre. Es gibt einige anrührende Szenen, aber größtenteils liest es sich eher wie eine Zusammenfassung eines Romans als wie ein Roman. Das hat in mancherlei Hinsicht zwar durchaus ungewöhnlichen Charme, führte bei mir aber dazu, daß mich die Charaktere kaum erreichten und ich auch an vielen Ereignissen innerlich nicht teilnahm und mich auch nur selten in der Geschichte drin fühlte. Eintauchen kann man in dieses Buch leider nicht.
Das ist auch deshalb schade, weil es einige interessante und ungewöhnliche Charaktere gibt, die aber durch die Erzählweise nicht wirklich entwickelt werden. Obwohl die Geschichte ganz sicher nicht flach ist, bleiben die Charaktere an der Oberfläche. Bei einer der drei Frauen, Odette, deren Geschichte in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückführt, hat das leider zudem den Effekt, daß ihre nicht erklärte erhebliche Wesensveränderung für mich nicht nachvollziehbar war. Dem zweiten Teil ihres Handlungsstrangs mangelt es an Plausibilität, was dadurch leider auch die Wendung ganz am Ende erheblich schwächt.
Und so ist dieses Buch für mich eine gemischte Erfahrung. Die Ansätze sind hervorragend, aber ich fühlte mich dauernd, als ob man mich von einem köstlichen Gericht kosten ließ und mir dann den Teller wieder wegnahm. Die Geschichte mit ihren vielen Facetten war zu knapp und zu distanziert erzählt, die Charaktere toll angelegt, aber nicht hinreichend ausgeführt. Die Entwicklungen sind vielversprechend, aber ein Handlungsstrang mit viel Potential verpufft einfach, ein anderer nimmt eine zwar herrlich unerwartete, aber eben nicht nachvollziehbare Wendung. Dauernd blieb das Gefühl: hier hätte man so viel mehr draus machen können.
Dagegen genoss ich den ausgezeichneten Umgang mit Sprache, die Informationen über das bretonische Leben, einige tiefrührende Aspekte und eine Originalität in Schauplatz, Charakteren und Entwicklungen, die leider so vielen Romanen fehlt. Insofern ist das Buch eine zwar etwas unausgegoren wirkende, aber dennoch lohnende Erfahrung.

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