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Veröffentlicht am 01.09.2024

Detaillierte Familien- und Freundschaftsanalyse

Genau so, wie es immer war
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Julia hat in ihrer Kindheit nicht viel Liebe von ihrer trinkenden Mutter mitbekommen, der Vater ist irgendwann verschwunden. Nun selbst Mutter, versucht sie - wie so viele - ihren Kindern ein besserer ...

Julia hat in ihrer Kindheit nicht viel Liebe von ihrer trinkenden Mutter mitbekommen, der Vater ist irgendwann verschwunden. Nun selbst Mutter, versucht sie - wie so viele - ihren Kindern ein besserer Elternteil zu sein und sich ganz und gar auf ihre Rolle als liebendes Mutterwesen einzulassen. Doch irgendetwas fehlt ihr im Leben. Als sie die um einiges ältere Helen kennenlernt, ändert sich ihr Leben nachhaltig...

Claire Lombardo analysiert in "Genau so, wie es immer war" die fiktionale Biographie ihrer Protagonistin Julia mit großer Hingabe und kurzweiligen Detailreichtum. Abwechselnd begleiten die Lesenden Julias Gegenwart und Vergangenheit, in knapp 720 Seiten begleiten sie die Entwicklung des Charakters durch seinen bewegten Lebenslauf. Es ist bewundernswert, wie treffsicher, rund und nachvollziehbar die Autorin die lange Geschichte strickt, ohne dass das Erzählte langweilig wird oder der rote Faden reißt. Die verschiedenen Protagonist:innen werden einfühlsam und ehrlich beschrieben, alle vielseitig mit Ecken und Kanten, allesamt neigen sie zu Fehlern und gestehen sich diese - unterschiedlich früh oder spät - ein. So wirken die Figuren aus dem Leben gegriffen und es ist ein leichtes, sich in diese hinein zu fühlen, auch wenn sie durch ihre Schrulligkeit teilweise anstrengend sind. Wie in jedem Leben müssen sie sich durch Höhen und Tiefen hanteln, verlieren sich und/oder ihre Liebsten, doch das Leben geht weiter.

Prinzipiell habe ich das Buch sehr gern gelesen, weil mir einiges auch aus meinem eigenen Leben bekannt vor kam und mich die Geschichte zur Selbstreflexion brachte. Lombardo fokussiert sich nicht nur auf die Entwicklung ihres Hauptcharakters, sondern schildert eingehend die Komplexität von Beziehungen - ob familiär oder freundschaftlich - und deren Entwicklung im Laufe eines Lebens. Wie schon erwähnt, schreibt sie sehr exakt und rund, trotzdem empfand ich das Buch an manchen (wenigen) Stellen als langatmig. Zudem fand ich Julia und auch einige andere Figuren manchmal nervig und ich musste das Buch mal ein paar Tage ruhen lassen, bevor ich die Lust am Lesen ganz verlieren würde. Doch mit Abstand bin ich sofort wieder in die Geschichte hineingekommen und hatte wieder Freude an dem Erzählten.

Mein Fazit: "Genau so, wie es immer war" ist trotz seines beachtlichen Umfangs ein größtenteils kurzweiliger Roman, der besonderen Wert auf eine umfangreiche und detaillierte Charakterbeschreibung setzt. Das Leben einer Frau mit den unterschiedlichen Herausforderungen wird treffend nachgezeichnet. Einen Stern Abzug erhält das Buch, weil es sich ruhig 200 Seiten an Detailreichtum einsparen hätte können. Trotzdem spreche ich gerne eine Leseempfehlung aus!

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Veröffentlicht am 04.08.2024

Die Einsamkeit und Stärke eines Fluchtkindes

Solito
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Javier ist neun Jahre alt, als die ersehnte Nachricht kommt: er darf sich nun endlich auf die Reise zu seinen Eltern in "La USA" begeben. Eigentlich hat der smarte Junge in El Salvador alles, was er braucht ...

Javier ist neun Jahre alt, als die ersehnte Nachricht kommt: er darf sich nun endlich auf die Reise zu seinen Eltern in "La USA" begeben. Eigentlich hat der smarte Junge in El Salvador alles, was er braucht - ein Dach über dem Kopf, Menschen, die sich fürsorglich um in kümmern, Haustiere und Erfolg in der Schule - und doch sehnt er sich sehr nach den beinahe unbekannten Eltern und dem verheißungsvollen Land im Norden. In der Hoffnung in zwei Wochen bei ihnen zu sein, startet er mit einem Schlepper und einer kleinen Truppe Erwachsener die Flucht ins Ungewisse. Die Erfahrungen die er machen muss, sind geprägt von kaum ertragbarer Langeweile, der Angst eines Aufgriffs, dem Auswendiglernen einer Schein-Identität und dem unsäglichen Wunsch nach Nähe, der Großteils unerfüllt bleibt. Die Strapazen der Flucht sind tiefgehend, das Kind muss zusehen, wie viele andere Menschen scheitern, doch Javier bleibt stark, auch dank einiger Erwachsener, die sich seiner annehmen - seine temporäre, neue Familie. Zwei Grenzübertritte nach "Gringolandia" missglücken, doch die Familie gibt nicht auf...

Javier Zamora erzählt in "Solito" seine eigene Fluchtgeschichte aus dem Jahr 1999 nach. Die Erzählperspektive ist jene des Neunjährigen, die Sprache bleibt dementsprechend einfach. Gekennzeichnet ist sie durch Wiederholungen, Langatmigkeit und detaillierten Beschreibungen, was das Erzählte noch eindrücklicher nacherlebbar macht. Er erzählt das Erlebte chronologisch und durchläuft die Tage vor der Abreise sowie die gesamte Flucht. Ärgerlich sind die stets eingestreuten Ausdrücke auf Spanisch, die man zwar im angehängten Glossar nachlesen kann, das stellt sich allerdings als mühsames Unterfangen heraus: die Übersetzungen sind nach Kapitel geordnet, nicht alphabetisch und außerdem sind sie nicht vollständig. Das Nachschlagen stört den Lesefluss teils beträchtlich, Fußnoten könnten diesem Problem entgegenwirken. Hilfreich wäre ebenfalls eine Landkarte, in der die gewaltige Fluchtroute nachvollziehbar wäre.

Besonders in der ersten Hälfte des Buches störte mich das langsame Tempo der Erzählung Zunehmens - es zog sich durch Detailreichtum und die ständigen Wiederholungen. Doch vermutlich war das, was der Autor bezwecken wollte, war der erste Teil der Flucht doch geprägt von langweiligem Warten. Zwischendurch jedoch waren immer wieder kleine Highlights, beispielsweise die Beschreibung über die Fluchtpassage mit einem Boot. Zamora beschreibt das Erlebte so eindringlich, dass ich das Gefühl hatte, es selbst mit zu erleben - besonders die Gerüche schienen sich lebhaft zu formieren, auch das Durchdrehen eines Mannes am Boot und die Hilflosigkeit ob der Grausamkeit der Situation, die Javier stark zusetzt, beeindrucken mich nachhaltig.

In der zweiten Hälfte des Buches änderte sich der Ton, alles wird beschleunigt, teilweise sogar rasant, was natürlich auch mit dem Fortgang der Geschichte zu erklären ist. Der Gang durch die Wüste ist hochgefährlich und nicht alle schaffen es lebendig durch die Ödnis. Die mehrfachen Wüstenquerungen setzen Javier besonders zu und dementsprechend mitgerissen wurde ich durch das Erzählte. Als die Flucht geschafft ist und der Abschied von seiner temporären Familie bevorsteht, die ihn nun über Monate begleitet, gestärkt hat und von der er doch ein wenig von der ersehnten Nähe bekam, hat es der Autor endgültig geschafft mich zum Weinen zu bringen. Und auch das letzte Kapitel, das uns einen kleinen Einblick gibt, was aus Javier Zamora geworden ist und weshalb er dieses Buch geschrieben hat, ist zutiefst berührend und lässt hoffen, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist.

Mein Fazit: "Solito" ist ein absolut lesenswertes Buch über die reale Fluchterfahrung eines Kindes, die lange nachhallt. Speziell im zweiten Teil schafft es der Autor, Spannung und tiefes Mitempfinden zu erzeugen, sodass die Geschichte im Kopf lebendig wird. Einen Stern Abzug bekommt es jedoch durch das m.E. unpraktische Glossar und dem zu überbordenden Detailreichtum im ersten Teil des Buches.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Schein und Sein

Fucking Famous
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Lotte fehlt der Kick in ihrem Leben - ihr Bürojob langweilt sie und enttäuscht muss sie feststellen, dass ihr Sachbuch über Tinder floppt. Ihre Freundin Tessa hat die zündende Idee - sie will Lotte zu ...

Lotte fehlt der Kick in ihrem Leben - ihr Bürojob langweilt sie und enttäuscht muss sie feststellen, dass ihr Sachbuch über Tinder floppt. Ihre Freundin Tessa hat die zündende Idee - sie will Lotte zu einer angesagten Influencerin machen. Und tatsächlich gelingt der Plan, wenn auch anders, als Lotte sich das gedacht hat...

Ich bin mir ehrlich gesagt nach wie vor nicht sicher, was ich von diesem Roman halten soll... Den Titel und das Cover finde ich eher furchtbar, nichtsdestotrotz habe ich in das Buch reingelesen und fand den Schreibstil, den Aufbau und das Thema der Geschichte irgendwie reizvoll. Ich habe es gern gelesen, war fasziniert von dieser absurden Influencer-Welt, und bin mir doch nicht sicher, was dessen Kernaussage sein soll (wenn eine solche überhaupt intendiert ist). Nach Beendigung und einigen Tagen des Nachdenkens darüber hab ich immer noch etliche Fragezeichen im Kopf...

Die Protagonistin lässt sich von ihrer Freundin instrumentalisieren und digital bearbeiten - eigentlich ist ihr klar, dass das Online-Ich mit dem realen Ich nur sehr wenig zu tun hat. Sie lässt sich in diese Welt der Oberflächlichkeiten hineinwerfen, spielt mit, hat (wie der Titel schon sagt) doch auch sehr Spaß dabei, reflektiert diese (Schein-)Welt aber auch treffend, teils sarkastisch, und belächelt das ganze. Zudem trinkt Lotte ziemlich viel Alkohol, schießt damit oft über das Ziel hinaus, sodass ich mir nicht sicher bin, ob sie das macht, um tatsächlich den Spaß zu haben, den sie will oder doch um diese jämmerliche Welt von Sein und Schein erträglicher zu machen... Die Freundschaften, die sie hat oder hatte, scheinen ebenso auf Oberflächlichkeiten zu beruhen, anders kann ich mir nicht erklären, weshalb sie diese auch so sang und klanglos vergehen lässt. Andererseits hat Lotte viel Mitgefühl, was ihr nicht so nahestehende Menschen betrifft. Ihre Analysen der Social Media- und Influencer:innen-Welt sind treffend und ihr scheint sehr bewusst zu sein, dass es dort eigentlich nur um Manipulation und Geschäft geht. Schließlich: "Nur Aufmerksamkeit hat noch einen Wert." (S. 292) Trotzdem spielt Lotte mit, lässt sich sogar von ihrer Freundin überwachen, ohne dies groß zu hinterfragen. Kommt schlussendlich in eine äußerst brenzlige Situation, die sie kaum tiefer sinken lassen kann. Doch das Ende ist irgendwie genial und das Ziel der beiden Freundinnen scheint erreicht zu sein...

Der Roman ist eine Mischung aus Gesellschaftsbeobachtung und philosophischen Gedankengängen, gepaart mit einem sich Aneignen und Leben von Oberflächlichkeit und scheinbarer Beliebtheit. So kommen schlaue und schwarzhumorige Aussagen wie "Nein, die Looser [sic!], die Zurückgelassenen, die Ewig-Zweiten, die, die im Schatten stehen, die sind ironisch, nämlich um ihre Position der Schwäche ein wenig erträglicher zu gestalten. Ich verdränge den Gedanken gleich wieder, denn Ironie ist mein Steckenpferd." (S. 86) genauso vor wie irritierende Vorurteile wie "[...] und wir stoßen nochmal an mit den Skinny Bitches. [...] Alkohol, der gut für die schlanke Linie ist, einfach großartig. Ich muss an Adipöse denken, die sich ihren Schokoladenkonsum schönreden, weil Kakaobohnen so gut fürs Herz sind. Jeder lebt in seinem eigenen Märchen." (S. 101)

Genau dieser Wiederspruch zwischen genialen Analysen der (Online-)Gesellschaft und dem mutmaßlichen Anbiedern an Oberflächlichkeit und Ruhm machen "Fucking Famous" für mich so ungreifbar. Und ich frage mich: ist das alles nur ein schlechter Scherz oder doch ein scherzhaft vorgehaltener Spiegel? Eins ist jedoch sicher - so schnell vergessen werde ich dieses Buch sicher nicht!

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Veröffentlicht am 09.04.2024

Unfassbar

Der Wald
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Als Mira Bunting den Milliardär Robert Lemoine kennenlernt, scheint ihr Ziel in greifbare Nähe zu rücken: ihr Guerilla-Gardening-Gruppe Birnam Wood könnte dank der unerwarteten Unterstützung des geldigen ...

Als Mira Bunting den Milliardär Robert Lemoine kennenlernt, scheint ihr Ziel in greifbare Nähe zu rücken: ihr Guerilla-Gardening-Gruppe Birnam Wood könnte dank der unerwarteten Unterstützung des geldigen Mannes plötzlich rentabel werden und ihre Existenz sichern. In dem kleinen, durch einem Erdrutsch von der Außenwelt beinahe abgeschnittenen Dorf Thorndike gibt er ihnen die Möglichkeit legal an ihrem Projekt zu arbeiten. Doch nichts ist so wie es scheint und auch innerhalb der Gruppe kommt es zu Spannungen, die der Geschichte unerwartete Wendungen bringt...

Nach Beendigung des Buches bin ich immer noch sprach- und ratlos. Einerseits geht von der Kunst der Autorin, die unterschiedlichen Charaktere detailliert zu zeichnen, ihnen durch mannigfaltige, lebensweltliche Anschauungen und kritische Reflexionen auf die Welt in verschiedensten Facetten eine realistische und glaubhafte Lebendigkeit teilwerden zu lassen, eine große Faszination aus. Manche Passagen waren so eindringlich und anregend, dass ich noch Wochen nach dem Lesen darüber nachdenken muss - die gesellschafts- und kapitalismuskritischen Diskussionen waren für mich so bereichernd, dass ich vielem davon zustimmen kann und nun eine bessere Argumentationsgrundlage für persönliche Auseinandersetzungen damit habe. Andererseits rutschte die Geschichte für mich oft in eine extreme Langatmigkeit aus, die es mir schwer machten mich dazu zu überwinden, den Roman weiter zu lesen. Oft las ich den Text und meine Gedanken glitten ob der teilweise unnötig in die Länge gezogenen Gedankengänge und Betrachtungen der Charaktere weit ab, sodass ich die Seiten wieder und wieder lesen musste. Oft kam mir in den Sinn, es einfach gut sein zu lassen und einfach abzubrechen.
Aber immer wieder kamen Aspekte in die Geschichte, die mich einfingen und mich doch nicht aufgeben ließen. Und dann kam das letzte Drittel des Buches, das für mich so unglaublich fesselnd war, dass ich es schier nicht mehr aus den Händen legen konnte. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, nicht aufs Atmen zu vergessen - so unglaublich spannend und rapide entwickelte sich die Geschichte und spätestens bei den letzten Seiten fand ich mich in einem manieartigen Zustand wieder. Den Schluss empfand ich dann als ziemlich abrupt, einerseits schlüssig, andererseits unbefriedigend.

"Der Wald" ist für mich ein unfassbares Buch im mehrdeutigen Sinn. Die Autorin weiß durch tiefsinnige Charakterdarstellung und philosophische Gedankengänge zu beeindrucken. Andererseits ist auch die immer wiederkehrende Langatmigkeit unfassbar. Unfassbar ist auch der Abschluss des Buches, der für mich als moralische Komponente zusammenfasst, dass es wohl keine Gerechtigkeit gibt - oder alle Gerechtigkeit der Welt. Ein Buch, das definitiv keine leichte Kost ist, das Durchhaltevermögen erfordert, aber aufgrund der Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe eine unheimliche Bereicherung ist.

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Über Freundschaft, Menschen und das Kindsein

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
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"Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." "Fremde. Und Leute, die Bücher ...

"Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." "Fremde. Und Leute, die Bücher lesen. Und Dicke. Und Dünne. Und Schwarze und Rothaarige. Das ist korrekt. Aber ansonsten ist die Erde ganz in Ordnung. [...]" (S. 64)

Lisa ist ein trauriges Mädchen. Ihre Eltern sind arbeitslos und deshalb lethargisch. Am Spielplatz wird sie tagtäglich von Jugendlichen gequält und von ihren Mitschüler:innen gemobbt. Nur ihr selbstgebauter Computer und der Blick ins All bereiten ihr Freude. Eines Nachts tauchen Außerirdische auf, die sofort wieder flüchten - doch zurück bleibt einer von ihnen: "Walter". Mit ihm lernt sie die schönen Seiten des Lebens kennen...

"Walter" ist ein Kinder-Comicroman von der Schriftstellerin Sibylle Berg und dem Illustrator Julius Thesing, der auch Erwachsenen eine kurzweilige Lesefreude bereitet. Der Schreibstil strotzt trotz einer depressiven Grundstimmung vor Humor und Leichtigkeit, was die großartigen Zeichnungen von Thesing in Schwarz-Weiß gekonnt in Szene setzen. Durch den Außerirdischen Walter lernt das Mädchen Lisa scheinbar erstmalig Freundschaft kennen und auch die Tatsache, dass es viele Vorteile bringen kann, wenn man sich situationsbedingt unterschiedlich verhält. So lernt Walter Lisa, wie sie sich verbal gegen die tyrannisierenden Jugendlichen wehren oder wie sie ihre Lehrerin für sich gewinnen kann. Allen voran aber zeigt er ihr, welche Stärken in ihr stecken. Das ist gar nicht so einfach, denn Walter scheint aus einer Welt zu stammen, in dem Geschlechter(rollen) nicht mehr existieren und das System Kapitalismus unbekannt ist. Irgendwie (wie genau, bleibt den Lesenden vorenthalten) schafft der Außerirdische es sogar, dass Lisas Eltern wieder zu ihrer Lebenslust zurückfinden.

Grundsätzlich sind viele "Moralen", die in "Walter" erzählt werden, treffsicher und können Kindern, die von Mobbing durch Kinder und Jugendliche und Abneigung/Ablehnung Erwachsener betroffen sind, helfen, mehr Selbstvertrauen zu geben. Die Geschichte ist scharfsinnig und kritisch und zeigt die Welt als einen Ort, an dem viel Ungerechtigkeit herrscht, die aber überwunden werden kann. Es kann Lesende dazu anregen, über die Welt und das System, in dem wir leben (allen voran dem Kapitalismus und seine gesellschaftliche Ausprägung) zu hinterfragen. Was mir persönlich aber ehrlich gesagt nicht so gut gefällt, ist, dass Lisas Eltern ob ihrer Arbeitslosigkeit vollkommener Lethargie ausgeliefert sind. Das bedient m.E. ein Klischee, das für viele arbeitslose Menschen nicht zutrifft - vor allem nicht, wenn sie, wie in dieser Geschichte, noch nicht allzu lange ohne Arbeit sind. Bei der Lehrerin sagt Walter, dass diese Lisa nicht mag, weil sie klug und stark ist und lernt ihr, sie zufriedenzustellen, indem sie ihr recht gibt. Ich würde dies meinem Kind nicht beibringen wollen, denn ich finde, es legitimiert das ungute Verhalten der Lehrperson. Deshalb gibt es für mich einen Stern Abzug.

Mein Fazit: Walter ist ein grandios gezeichneter Kinder-Comic, der einem gepeinigten Mädchen zeigt, wie sie sich selbst behaupten kann. Ob die Ratschläge an die Protagonistin für alle Eltern stimmig sind, sollte vorab geprüft werden. Wie auch immer - für Erwachsene ist es jedenfalls eine kurzweilige Lesefreude.

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