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Veröffentlicht am 19.06.2024

Der amerikanische Traum

Cold Spring Harbor
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Der gute Wille zählt nicht allein, die äußeren Umstände haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Charles Shepard hat den Absprung vom Militär verpasst, um sich rechtzeitig ein ziviles Leben aufzubauen. ...

Der gute Wille zählt nicht allein, die äußeren Umstände haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Charles Shepard hat den Absprung vom Militär verpasst, um sich rechtzeitig ein ziviles Leben aufzubauen. Er, der just dann in Frankreich eintrifft, als der 1. Weltkrieg zu Ende ist, hat diese Enttäuschung nie überwunden. Sie wird sich durch sein ganzen Leben ziehen. Seine Frau, einst lebensfroh und charismatisch, hält das Umsiedeln von einem Militärstützpunkt zum anderen nicht mehr aus. Als sich ein Ausweg bietet, ist Charles nicht wagemutig genug. Schließlich ziehen sie nach Charles Pensionierung nach Cold Spring Harbor auf Long Island. Ein einfaches Haus, ein einfaches Leben und ein schwieriger Sohn, er sich jung in eine überhastete Ehe stürzt. Bereits auf Seite 21 ist diese Ehe schon wieder beendet und wir verfolgen den weiteren Lebensweg der kleinen Familie, die sich bald um eine neue Flamme, deren Bruder und beider Mutter erweitert.

Auf nur 235 Seiten entwirft der Autor eine Studie über gescheiterte Leben. Menschen, die sowohl aus eigener Handlung heraus, aber auch durch äußere Umstände geleitet, selten die richtige Abzweigung nehmen. Dies ist für mich ein typischer amerikanischer Roman, der tiefe Einblicke in eine untere soziale Schicht in einem gewöhnlichen Vorort gewährt. Ich mag diese Art von Roman sehr, weil sie ein anderes Amerika beschreibt, das oft verdrängt wird: deprimierend, traurig, schlicht, manchmal aussichtslos und häufig auch sich selbst verleugnend. Aber Yates schreibt gleichzeitig universell, wenn er darstellt, wie sich Verhaltensweisen und Gemütslagen wiederholen und übernommen werden. Anschaulich stellt er dies durch Handlung dar und weniger durch Beschreibungen.

Ich habe das Buch gerne gelesen, auch wenn ich ganz oft rufen wollte "Tu das bitte nicht!".

Wer den Autor nicht kennt, ist aber vielleicht schon über die Verfilmung einer seiner Romane gestolpert: "Zeiten des Aufruhrs" (2008) mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt

Der Wal und das Ende der Welt
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Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei ...

Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei einer großen Bank, die einen erheblichen Teil ihres Gewinns mit Leerverkäufen macht, also auf den Fall von Aktien spekuliert. Joe hat ein Analyse-Programm entwickelt, das tausende von Faktoren aus dem Tagesgeschehen verarbeitet und so Voraussagen trifft. Was passiert, wenn in Asien eine Grippe ausbricht, die hoch virulent und außergewöhnlich oft tödlich verläuft? Ja, was?

St. Piran ist ein kleines Fischerdorf in Cornwall, das gerade einmal 307 Einwohner zählt. Einige von ihnen finden eines Tages einen jungen Mann am Strand - nackt und ohne Bewusstsein: Joe. Kaum ist dieser wieder auf den Beinen, organisiert und delegiert er die Rettung eines gestrandeten Wals. Und schwupp ist er in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Und diese schildert Ironmonger ganz zauberhaft und ein wenig aus der Zeit gefallen. Jedenfalls möchte man sofort da hin und die teilweise kauzigen Menschen sehen und anfassen.

Der Roman beschreibt das Aufeinandertreffen des Analysten Joe mit einer Dorfgemeinschaft in einer Extremsituation. Immer wieder gibt es Rückblicke, die erklären, warum Joe schließlich in St. Piran am Strand gelandet ist und dann kommt die Grippe. Der Roman enthält viel Gesellschafts(kritik)- und Wirtschaftstheorie. Es ist wahnsinnig interessant diese Zusammenhänge zu erfahren, allerdings bremsen diese Episoden auch den Lesefluss, es passiert dann eben so gut wie nichts. Wunderbar ist die Geschichte, wenn alle im Dorf zupacken und die Handlung vorangeht. Der Roman ist wirklich schön geschrieben und hat seinen Höhepunkt - wehe wer an Kitsch denkt - an einem Weihnachtsabend und seit dem wird jedes Jahr in St. Piran das "Fest des Wals" gefeiert. (Das wird schon relativ früh erwähnt, deswegen darf ich das so schreiben.)

Ein Roman, der wirklich lohnt und eine unbedingte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.04.2024

In welche Richtung würdest Du gehen?

Das andere Tal
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Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen ...

Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen würde, hätte man denn die Chance dazu. Es gibt nur zwei Wege aus dem Tal, nach Westen in die Vergangenheit oder nach Osten in die Zukunft. Die gleiche Stadt, die gleichen Personen aber jeweils 20 Jahre zeitversetzt und ein Tal reiht sich an das nächste. Niemand weiß, wieviele es sind. Odile ist 16 und bewirbt sich um einen solchen Ausbildungsplatz. Sie ist eine Außenseiterin, ohne Freunde und eigentlich auch ohne wirkliche Ambitionen. Eines Tages entdeckt sie sogenannte Besucher, also Personen aus einem anderen Tal, die jemanden aus ihrer Familie aus der Ferne sehen dürfen. Diese Besuche sind selten und werden unter extrem strengen Auflagen nur gewährt, wenn ein Todesfall bevorsteht. Trotz der Masken, die die Besucher tragen müssen, erkennt Odile die Personen und weiß daher auch, wer sterben wird. Diesen Vorfall nimmt sie in ihren Aufsatz für das Conseil auf und wird zum Auswahlverfahren zugelassen.

Der Autor hat ein Gedankenexperiment geschaffen, das viel Platz für philosophische Fragestellungen läßt. Der Roman ist eine Mischung aus Coming-of-Age, Dystopie und ein bisschen Zeitreise, eingebettet in eine zeitlose Gegenwart ohne Computer und Handy, aber mit Auto, Prügelstrafe und scharf bewachten Grenzen. Die Entwicklung von Odile und ihre zarte Freundschaft gerade mit der Person, die offenbar sterben wird, hat mich sehr berührt. Die Handlung wird konsequent aus der Sicht von Odile erzählt, in einer Sprache, die die Handlung in den Vordergrund rückt. Das Tal und seine "Regierung" nehmen im Laufe der Handlung immer mehr Gestalt an und doch bleiben bis zum Schluss Fragezeichen. Der Autor hat hier eine sehr komplexe und auch durchdachte Gesellschaft erschaffen, die man allerdings so annehmen muss, wie sie geschildert wird. Würde man bestimmte Verhaltensweisen etc. hinterfragen, gibt es Logiklücken. Der zentrale Konflikt: Darf man in die Vergangenheit eingreifen? Ein außergewöhnliches, stellenweise sehr bedrückendes Buch, mit dessen Protagonistin ich zwar mitgefiebert habe, die mir aber nicht so nahe gekommen ist. Dafür wirkte sie auf mich zu distanziert und oft auch passiv. Der Roman wird mich noch einige Zeit gedanklich beschäftigen.

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Veröffentlicht am 24.02.2024

Spuren der Vergangenheit

Düstersee
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Der Berliner Anwalt Joachim Vernau möchte endlich mal entspannen und nimmt das unerwartete Angebot von Professor Steinhoff an, der sich Vernaus Gunst für die Wahl zum Präsidenten der Berliner Anwaltskammer ...

Der Berliner Anwalt Joachim Vernau möchte endlich mal entspannen und nimmt das unerwartete Angebot von Professor Steinhoff an, der sich Vernaus Gunst für die Wahl zum Präsidenten der Berliner Anwaltskammer erhofft. Vernau hat zwei Wochen Urlaub im alten Bootshaus auf Steinhoffs Villengrundstück am Düstersee in der Uckermark vor sich. Zumindest denkt er das, bis es den ersten Toten gibt. Dann ist es vorbei mit der Beschaulichkeit und der Name des Ortes Düsterwalde ist Programm.

Ich mag die TV-Serie mit JJ Liefers als Vernau sehr gerne, dies war aber tatsächlich erst mein zweiter Roman der Reihe. Die Handlung wird aus der Sicht des Anwalts erzählt, der eine mehr als lässige Art hat und das hat mir wirklich gut gefallen. Ziemlich ironisch kommentiert er die Ereignisse und man sieht vor dem inneren Auge immer passend dazu Herrn Liefers durch die Uckermark laufen. Daher liest sich der Roman ziemlich flugs und unterhaltsam. Thematisiert wird der Ausverkauf der kleinen Dörfer im Einzugsgebiet der Hauptstadt, die zu reinen Sommerwochenende-Siedlungen werden. Die Einheimischen rächen sich, indem z.B. für ein Stück Blechkuchen mehr als das Doppelte des normalen Preises verlangt - und bezahlt wird. Mit von der Partei auf dem Lande sind auf einmal auch Vernaus Mutter und deren Lebensgefährtin Frau Huth, genannt Hüthchen. (Und da muss ich immer an Pony Hütchen aus Emil und die Detektive von Erich Kästner denken.)

Wer kennt den Film "Es geschah am helllichten Tag" oder die literarische Vorlage Dürrenmatts "Das Versprechen"? Es gibt eine Anlehnung daran in diesem Roman ...

Düstersee ist ein prima Krimi, der gut unterhält und mit Vergnügen schnell gelesen ist; mit sympathischen Figuren und solchen, denen man nicht begegnen möchte und doch sind alle aus dem Leben gegriffen. Manchmal sind Charaktere etwas überzeichnet, aber das gehört dazu und dass Kollege Zufall auch mit von der Partie ist - egal. Der 7. Band der Reihe von bisher acht Krimis um Vernau und seine Kollegin Marie-Luise kann auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände gelesen werden.

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Veröffentlicht am 07.02.2024

Reise in die Vergangenheit

Lichtungen
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Lev und Kato begegnen sich nach langer Zeit wieder, fern der Heimat Rumäniens. Man weiß nicht genau, was sie verbindet und was sie getrennt hat. Alles ist ein bisschen in der Schwebe, unklar und vage.

Der ...

Lev und Kato begegnen sich nach langer Zeit wieder, fern der Heimat Rumäniens. Man weiß nicht genau, was sie verbindet und was sie getrennt hat. Alles ist ein bisschen in der Schwebe, unklar und vage.

Der Roman beginnt mit Kapitel neun und bereits im achten Kapitel merkt man dann, dass nicht nur die Kapitel rückwärts gezählt werden, sondern auch die Geschichte auf ihren Anfang zusteuert, der sich am Ende des Buches in Kapitel eins befindet. Ungewöhnlich, anspruchsvoll und nicht immer leicht zu lesen. Die Geschichte von Lev (Leonhard), seiner Familie, seiner Heimat, seinen Gefühlen und seiner Freundin Kato setzt sich aus Fragmenten zusammen. Die Kapitel wirken jeweils wie kleine Fenster, hinter denen wir einem Teil von Levs Lebensgeschichte folgen können. Vieles bleibt bis zum Ende offen und läßt Spielraum für eigene Überlegungen. Jedoch wächst mit jedem weiteren Kapitel das Verständnis für die Ereignisse und Verhaltensweisen in den vorherigen Abschnitten.

Wie bereits in "Die Unschärfe der Welt" ist Rumänien als Heimat ein wichtiger Aspekt des Romans. Die Charaktere haben unterschiedliche Auffassungen von Heimat und ziehen unterschiedliche Konsequenzen für ihr Leben.

Ich mag die Sprache von Iris Wolff sehr gerne. Irgendwie ganz zart und leicht, sehr bildlich, eben poetisch. (Dazu passt das wunderschön gestaltete Cover, das sich auch auf das Zeichentalent von Kato bezieht.) Auf der anderen Seite ganz bodenständig. Meine zahlreichen Post-Its zeugen davon, dass es viele Sätze gibt, die mir unheimlich gut gefallen haben. Der Roman ist ohne Frage eine Herausforderung an die Leserschaft, denn er benötigt viel Aufmerksamkeit. Immer wieder hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges überlesen zu haben. Daher sollte man sich Zeit nehmen und auch größere Abschnitte am Stück lesen. Kleine Leseeinheiten zerpflücken die mosaikartige Handlung noch mehr. Mit der Lesezeit und der Konzentration, die man diesem Roman widmen muss, würdigt man jedoch auch gleichzeitig die Schreibarbeit der Autorin. Vielleicht kommt das heute tatsächlich oftmals zu kurz, wenn man in rascher Folge Buch auf Buch "konsumiert".

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