Percival Everetts Roman "James" finde ich aufgrund mehrerer Faktoren wahnsinnig spannend. Everett entführt uns in die Welt von Huckleberry Finn und erzählt Mark Twains Klassiker aus einer ganz neuen Perspektive, ...
Percival Everetts Roman "James" finde ich aufgrund mehrerer Faktoren wahnsinnig spannend. Everett entführt uns in die Welt von Huckleberry Finn und erzählt Mark Twains Klassiker aus einer ganz neuen Perspektive, die der bekannten Geschichte nicht nur ein neues Gesicht verleiht, sondern auch viel mehr Tiefe gibt. Hier geht es um die Gedanken und Erlebnisse des Sklaven Jim, der um seinen weißen, kleinen Freund Huck und seine Familie bangt und sich auf der Flucht in Richtung Freiheit befindet. Auf seiner Reise, entlang des Mississippis, trifft er auf andere Sklaven und -händler, Betrüger und Blackface-Sänger, die ihn von 'einem Abenteuer' direkt ins Nächste jagen. Dabei springt er selbst schon immer zwischen den Welten - seiner und der weiß geprägten. Jim stellt sich dumm um eben jenen vorherrschenden Vorurteilen und dem weißen Blick auf die Welt zu entsprechen, eine Rolle, die er nur in wenigen Momenten ablegen kann, denn wirklich frei ist er nie, egal wo er hinkommt, wo sich versteckt oder ob er Gleichgesinnte findet. Er beobachtet die Vergehen der Weißen an den Sklaven, seinen Freunden, berichtet von Vergewaltigungen und Unterdrückungen... dieses Buch ist nicht ohne, vielleicht sogar provozierend, stellt Everett doch die weiß-geprägte Geschichtsschreibung zum Teil infrage, überholt und öffnet sie, rückt sie grade.
Auf der Flucht möchte Jim auch anderen helfen, wie dem Mädchen Sammy, das im späteren Verlauf getötet wird. Die fast beiläufige Aussage "Sie war schon tot, als ich sie gefunden habe [...] Sie ist jetzt bloß noch einmal gestorben, aber diesmal als freier Mensch." hat mich lange nicht losgelassen, trifft sie doch genau die damaligen Verhältnisse der Unterdrückung auf den Punkt. "Von meiner Heimat habe ich nicht viel in Erinnerung, aber an das Schiff kann ich mich erinnern. An die Misshandlungen. Das Klatschen der Wellen.","Bin in der Hölle geboren. Verkauft worden, ehe meine Mutter mich im Arm halten konnte." sind weitere Aussagen, die sich in eben jenes Bild nur so einreihen und von der Grausamkeit und dem zugefügten Leid berichten. Aber es sind nicht nur diese Szenen, die diesen Roman ausmachen. Für Everett scheint es ein Leichtes zu sein zwischen Härte und Komik, tiefgründigen Gedanken, mitreißenden Szenen und leichteren Beschreibungen zu wechseln. Dies hat er bereits in "Erschütterung" und "Die Bäume" in der hervorragenden Übersetzung von Nikolaus Stingl mehrfach bewiesen. Und wo ich gerade von der Übersetzung spreche, der Slang in diesem Roman und wie Stingl dies ins Deutsche übertragen hat... grandios. Ich hoffe sehr, dass noch weitere Romane ihren Weg nach Deutschland finden und das Everett auch hier die Anerkennung und Beachtung bekommt, sind seine Romane doch jedes Mal so eine Wundertüte und zeitgleich so eine Abhandlung wichtiger Themen. "James" - eine große Empfehlung ob mit oder ohne Mark Twains "Huckleberry Finn"-Kenntnisse.
Ich weiß gar nicht, was ich an "Annas Lied" beeindruckender finde, dass Benjamin Koppel [Ü: Ulrich Sonnenberg] hier einen umfangreichen Roman über das Leben seiner Tante Anna und jüdischen Familie geschrieben ...
Ich weiß gar nicht, was ich an "Annas Lied" beeindruckender finde, dass Benjamin Koppel [Ü: Ulrich Sonnenberg] hier einen umfangreichen Roman über das Leben seiner Tante Anna und jüdischen Familie geschrieben hat oder dass es so eine mitreißende, wie bewegende Geschichte ist, die über viele Höhen und Tiefen eines Lebens berichtet, geschichtlich so einige tragisch-schwere Einblicke liefert und dabei Hoffnung und Träume nie so ganz aus den Augen verliert. In Dänemark war diese Familiensaga ein Überraschungsbestseller und für mich eine große Entdeckung, die mir so einiges abverlangt hat.
Die Geschichte beginnt in Dänemark. Wir Leserinnen lernen die Koppelmanns kennen, zumindest den Teil, der auf den Weg nach NewYork in Kopenhagen hängen blieb. Yitzhak und seine Frau Bruche, ihre fünf Kinder - Joseph, Zimmel, Avrom, Ezekiel und Hannah.
Sie alle teilen die unbedingte Freude an der Musik und gerade für die Jüngste sind Brahms, Beethoven und Bach beinahe ihr Leben. Bereits als Kind hegt sie den Traum Pianistin zu werden und so wie ihre Brüder auf der ganzen Welt zu spielen. "Ich hätte gern eine große Familie. Wir würden die ganze Zeit musizieren." Doch mit den Träumen und Wünschen ist das so eine Sache. In der jüdischen Tradition ist es Brauch, dass die Familie nach einer/einem geeigneten Frau/Mann für die ihre Kinder sucht und deren Ehe arrangiert. Dies führt in der Familie Koppelmann zu sehr viel Streit, denn alle vier Söhne wollen selbst entscheiden und legen sich mit ihrer Mutter Bruche an und "Jedes Mal tröstete sie sich damit, dass sie sich in jedem Fall auf ihre Tochter verlassen konnte. Hannah würde niemals Schande über die Eltern bringen. Hannah würde nie gegen den Willen ihrer Eltern handeln. Hannah würde ihrer Mutter nicht auf die gleiche Weise trotzen wie ihre Brüder. Hannah würde sie niemals im Stich lassen." Oder etwa doch?
1936 fanden Hannahs Eltern endlich mit Francois die passende Partie für ihre 15jährige Tochter, eine vornehme Pariser Familie sollte es also sein, die die Ehre und jüdische Tradition der Familie retten sollte. Aber da wussten sie noch nichts von Aksel, Hannahs heimlicher Liebe, die sie eines Abends beim Ausgehen mit ihrer Freundin Elisabeth kennenlernte...
Während die Welt langsam das Ende der Wirtschaftskrise erreicht, kommt es in Deutschland zu großen Veränderungen. Die Deutschen "wählen so einen Verrückten und überlassen ihm die gesamte Demokratie" und es sollte nicht allzu lange dauern, bis auch in Dänemark die Nationalsozialistische Arbeiterpartei gegründet wurde, die Nazis Einfluss gewannen und auch die Deutschen die Neutralität Dänemarks nicht länger respektieren würden. Die Invasion Dänemarks stand unmittelbar bevor. Für Hannah und ihre Freunde stand fest, sie wollten Widerstand leisten, brachen in Geschäfte von Unterstützern der Deutschen ein, zündelten mit selbstgebauten Bomben.
"Wie so viele andere Juden im Laufe der Geschichte gingen sie davon aus, dass schon alles gut werden würde, solange man nur auf sich, seine Geschäfte und seine Familie aufpasste. Die jüdische Gemeinde erwartete, dass Dänemark sich schon um seine Bürger kümmern würde - auch um die dänischen Juden. Das Leben musste so normal wie möglich weitergehen, davon waren die meisten überzeugt, auch bei den Koppelmanns."
... bis dann die Unruhen stärker wurden, die Deutschen Listen über sämtliche dänische Juden stahlen und auch die dänischen Juden zur Flucht gezwungen wurden. Was dann folgt ist ein ungewisses Schicksal mit vielen herben Enttäuschungen, Hannah muss sehr viel zurückstecken und ja, als der Krieg vorbei ist, unterwirft sie sich wirklich den Wünschen ihrer Eltern, doch Aksel und die Musik kann sie nie so ganz vergessen.
Ich könnte nun noch ewig weitererzählen, denn dieses Buch hat so einiges zu bieten. Sehr interessant fand ich dabei den Blick auf Dänemark und Frankreich während Hitlers Machtergreifung und deren Folgen. Auch über die jüdischen Traditionen habe ich in dieser Form noch nie etwas gelesen. Die stete Verbindung zur Musik, diese große Familie mit ihren so komplett unterschiedlichen Charakteren, Hannahs Leben, ihre Träume und Wünsche, ihre Aufopferung für die Familie, diese Wut und Enttäuschung, diese hoffnungslose Liebe, die sich durch all die Jahre und den Krieg zieht... ich habe Hannahs Lebens- und Leidensweg so gefühlt und finde die Art und Weise dieser Erzählung einfach besonders. Bis zuletzt habe ich für Hannah gehofft, dass sie ihren ursprünglichen Traum Pianistin zu werden irgendwie erreichen kann, sie kämpft immer wieder dafür und muss viel zu oft zurückstecken oder sich ihren Brüdern, der Ehe und ihrem Mann... unterordnen. Durch die etwas mehr als 500 Seiten bin ich an einem Wochenende nur so geflogen und wollte mich auch durch nichts anderes mehr ablenken lassen. Ein ganz großer Wurf, dem ich wirklich noch viel mehr Leserinnen wünsche.
Warum ich diesen Kurzgeschichtenband so mag? Um es mit Tayari Jones Worten zu sagen (Nachwort, Ü: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg): "Oliver zeigt ein beeindruckend vielschichtiges Verständnis für ...
Warum ich diesen Kurzgeschichtenband so mag? Um es mit Tayari Jones Worten zu sagen (Nachwort, Ü: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg): "Oliver zeigt ein beeindruckend vielschichtiges Verständnis für die Bandbreite Schwarzen Lebens in den Südstaaten. Sie gewährt Einblick in das Leben einer Frau in prekären Umständen, die viele Meilen zu Fuß geht, um ihre Kinder zum Arzt zu bringen. Sie kann sich in ein Paar einfühlen, das vom Rassismus zu einem Leben im Wald getrieben und dann von mörderischer Wut erfasst wird. Sie weiß, warum notleidende Familien alles verkaufen, um sich Zugfahrkarten in den Norden leisten zu können, auch wenn sie nicht wissen, was sie dort erwartet. Sie kann aber auch das Innenleben einer Arztgattin schildern, die gezwungen ist, eine missmutige Stieftochter zu beherbergen, gerade als das Zusammenleben von Schwarz und Weiß überall neue Formen annimmt." Und diese Vielschichtigkeit ist es dann unter anderem auch, die diese Kurzgeschichtensammlung oder besser gesagt den Nachlass von Diane Oliver für mich so faszinierend macht. Zuerst hatte ich beim Lesen noch Bilder des Filmes "The Help" vor Augen, betrübte Szenen einer sehr deutlichen, harten Klassengesellschaft, die auf Äußerlichkeiten, Herkunft und Abstammung beruht, aber umso mehr ich von Olivers Worten, den beschriebenen Charakteren und Lebensverhältnissen eingenommen wurde, umso mehr vergaß ich die äußerlichen Gegebenheiten und Zuschreibungen und fühlte diese Tiefe, die so viel Trauer, Angst, Sorgen, Hoffnung und ein Leben(-skampf) offenbart, das(den) man sich als toleranter, weißer Mensch so gar nicht vorstellen mag. Es ist hart zu lesen, obwohl man bei diesen kurzen Szenen und Einblicken in die verschiedensten Lebensverhältnisse Schwarzer nie so wirklich den Ausgang ihrer Geschichte erfährt... aber vielleicht muss man das auch gar nicht, denn viele der beschriebenen Probleme existieren auch heute noch, mehr als 60 Jahre später. Und das obwohl man eigentlich denkt, es hätte sich auf der Welt im Laufe der Zeit viel getan, aber Rassismus, Ausgrenzungen, Ver- und Beurteilungen, unterschiedliche Behandlungen und und und sind auch heute noch allgegenwärtig.
Ich kann gar nicht sagen, welche der vierzehn Kurzgeschichten meine liebste ist, denn auch wenn sie alle ihren eigenen Rahmen und Charaktere haben, so gehen sie doch an einigen Stellen nahtlos ineinander über. In der titelgebenden Geschichte "Nachbarn" beleuchtet Oliver z.B. die Sorgen der Nachbarn, Freunde und Familie eines Kindes, das nach Aufhebung der Rassentrennung an eine weiße Schule gehen soll und schon im Vorfeld große Widerstände zu spüren bekommt. Und selbst wenn dieses 'Vorhaben' gelingt und als Fortschritt gesehen werden kann, so ist es Winifred, die gleich in der darauf folgenden Geschichte, die einzige Schwarze am College ist und sehr unter ihren Mitschülerinnen leidet, von ihnen fast schon als Ausstellungobjekt angesehen wird, bis sie "nicht [mehr] genug für ihr College" ist und abreist. Es sind so diese kleinen Szenen und ihre Folgen, die doch von so viel mehr erzählen, die eigentlichen Held*innengeschichten bereithaltenden und dabei den Druck der (weißen) Gesellschaft nie aus den Augen verlieren.
Sehr klug, weniger erklärend und doch so allumfassend, politisch, gesellschaftlich, wie menschlich... ein wirklich rundum großes Leseereignis, das mich noch lange beschäftigen wird, meine nun mal sehr weiß geprägte Sicht auf die Welt erneut bereichert hat, mich getroffen hat. Ich möchte nun eigentlich nicht "großes Kino" sagen, denn dafür sind die beschriebenen Lebensumstände viel zu real und doch ist das beim Lesen entstehende, imaginäre Bild so ergreifend, mitreißend und intensiv, dass es die beste Umschreibung wäre, die mir dazu einfällt. Schade nur, dass Diane Oliver das selbst nun alles nicht mehr miterleben kann und ein Unfall sie so früh aus dem Leben riss... was hätte da noch alles folgen können. "Nachbarn" von Diane Oliver - eine überraschend große Empfehlung!
Häufig frage ich mich, wenn ich durch Lübecks Straßen, Gassen und Gänge laufe, was diese alten Häuser wohl für Geschichten zu erzählen hätten. Dieser Gegensatz von prunkvollen Fassaden an den Hauptstraßen ...
Häufig frage ich mich, wenn ich durch Lübecks Straßen, Gassen und Gänge laufe, was diese alten Häuser wohl für Geschichten zu erzählen hätten. Dieser Gegensatz von prunkvollen Fassaden an den Hauptstraßen und den sehr einfachen Hinterhäusern fasziniert mich schon lange und lässt mich spätestens seit Svealena Kutschkes Roman „Stadt aus Rauch“ nicht mehr los. Natürlich könnte ich an dieser Stelle auch Thomas Manns „Buddenbrooks“ erwähnen, doch dieses Buch reizte mich nie, generell habe ich für Geschichten von Adligen und bessergestellten Familien nicht so den Nerv, war es doch häufig nur Zufall in jene angesehene Familien hineingeboren zu sein und ihre Taten, die mehr auf sich, ihren Ruf und Ansehen bedacht waren… nun ja. Die wahren Überlebenskünstler sind dann doch die einfachen Leute, eben jene aus dem Hinterhaus oder die Bediensteten der anderen. Und so freute ich mich wirklich sehr auf Inger-Maria Mahlkes Roman „Unsereins“ der diese Menschen in den Fokus rückt, die alles am Laufen hielten… die einfacheren Menschen, die Köchinnen, Dienstmädchen und Lohndiener, die Bediensteten und Kaufläute.
„Unsereins“ ist dabei mehr so ein kaleidoskopartiger Roman, der nicht mal unbedingt so einen mitreißenden Plot hat, geschweige denn braucht. Das Herz sind diese unterschiedlichen Charaktere, die lose miteinander verknüpft sind. Familienmitglieder, Freunde, Bekanntschaften - diese liebevollen Figuren mit ihren Erlebnissen und Geschichten umringt von ihren Pflichten und Diensten. Mit jeder Seite kommt man ihnen näher, lernt sie lieben oder sie lernen es zu lieben, amüsiert sich über skurrile Situationen oder ist bewegt von der Armut und den Zuständen um 1890. Ich habe diesen Roman wahnsinnig geliebt, finde dieses Gegenstück zu den Buddenbrooks wirklich großartig und ja, ich wollte ehrlich gesagt gar nicht, dass dieses Buch jemals ein Ende findet. Ein große Empfehlung, für alle die historische, atmosphärische Romane lieben und mehr über das Damals und die nur selten erwähnten Lebensgeschichten und -realitäten lesen mag. Ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung… denn, wie der letzte satz so schön heißt: „vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“
"Woher wissen wir, was wahr ist?" ist vielleicht die übergeordnete Frage der sich Nathan Hill in seinem Roman "Wellness" stellt. In diesem Fall bietet das Unternehmen Wellness eine Art Liebestrank, der ...
"Woher wissen wir, was wahr ist?" ist vielleicht die übergeordnete Frage der sich Nathan Hill in seinem Roman "Wellness" stellt. In diesem Fall bietet das Unternehmen Wellness eine Art Liebestrank, der die zwischenmenschlichen Beziehungen, Gedanken, Gefühle und Hormone beeinflussen und der Liebe wieder Auftrieb verleihen soll... doch ist es wirklich so einfach?
In kurz würde das Wort Eheroman dieses Buch am besten beschreiben. Es geht um Jack Baker und Elizabeth Augustine, die beide aus ganz unterschiedlichen Beweggründen 1993 nach Chicago kommen, recht nah beieinander wohnen, sich gegenseitig beobachten und fasziniert vom jeweils anderen sind. Sie studiert Psychologie. Er ist Künstler, fotografiert und lernt am Art Institute of Chicago. Durch eine zufällige Begegnung in einer Bar kommen sie sich sehr schnell näher, fast als seien sie Seelenverwandte. Es folgt ein gemeinsames Leben, ein Kind und eine Ehekrise, denn nach all den Jahren fühlt es sich für beide nicht mehr richtig an. Eigentlich wollen sie eine gemeinsame Eigentumswohnung beziehen, doch bereits bei der Planung, der Möglichkeit für zwei getrennte Schlafzimmer und bei dem damit verbundenen Gedanken an die Zukunft, gehen ihre Meinungen auseinander. Und dann ist da noch Toby, dessen Erziehung Elizabeth immer wieder überfordert, an ihre Grenzen stoßen und sich als Versagerin fühlen lässt. Immer häufiger stellen sich beide die Sinnfrage... ist ihre Ehe noch zu retten oder ist ihre Liebe bereits komplett erloschen?
"Jedes Paar hat eine Geschichte, die es sich selbst erzählt, eine Geschichte, die wie eine Maschine unter ihnen dahinschnurrt und sie durch alle möglichen Fährnisse und voran in die Zukunft treibt. Für Jack und Elizabeth handelte diese Geschichte von einer Liebe auf den ersten Blick, von zwei Träumern, die ihre andere Hälfte entdecken, von zwei Waisenkindern, die ein Zuhause fanden, von zwei Menschen, die einander verstanden - einander kapierten -, sofort und mit Leichtigkeit. Aber Geschichten haben nur Kraft, solange man sie glaubt..."
Wie sich an diesem Zitat vielleicht schon erahnen lässt steckt in diesem Buch noch viel mehr, als nur die Geschichte einer Ehe. Nathan Hill ergründet am Beispiel von Jack und Elizabeth die Wahrheit, sofern sich überhaupt von einer übergeordneten und nicht subjektiven Wahrheit sprechen lässt. Wir tauchen in ihre Familiengeschichten ein, lernen mittels Elizabeths Anstellung psychologische Studien über das Verhalten von Kindern und die Liebe kennen, driften ab in Traumata, die beider Leben belasten, und Erinnerungen, die sie begleiten, prägen und unbewusst einen viel größeren Einfluss auf ihr beider Leben nehmen. Es geht um den Glauben, die Hoffnung, Verschwörungstheorien, das Internet und den Einfluss von Algorithmen auf unsere Wahrnehmung, Verschwörungstheorien, alternative Heilbehandlungen, Placebos, zurechtgedrehte Wahrheiten und und und.
Und genau diese psychologische Auseinandersetzung mit der Wahrheit ist es, was diesen Roman so unglaublich faszinierend und lehrreich macht. Ich würde fast schon sagen, dass dieser Roman, sofern man es zulässt, Verständnis für andere (Welt-)Anschauungen schafft, Empathie und Offenheit fördert und einen selbst anders über eigene Erinnerungen und bedeutsame Erlebnisse des Lebens denken lässt, vielleicht sogar andere Perspektiven eröffnet.
"Im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, dass die Menschen dazu tendieren, automatisch zu handeln und zu denken, aber wenn man sie drängt, zu erklären, warum sie etwas Bestimmtes tun oder sagen, füllen sie die Lücke und erfinden eine Geschichte. Und erstaunlicherweise glauben sie diese Geschichte."
Wenn Wahrheit nur eine Geschichte ist, die uns unser Leid verdrängen lässt, Schuldigkeit sucht, Hoffnung liefert, uns, durch ständige Wiederholungen der Erzählung, immer mehr daran glauben lässt, dass alles so geschehen ist, so gedacht wurde, andere aus den und den Gründen so handelten und wir den optimalen Weg aufgrund dessen gelaufen sind, gelebt haben oder eben jenes vorbestimmt ist, in wie weit ist es dann noch die Wahrheit? In wie weit können Studien überhaupt wirkliche und verlässliche Auskünfte geben? Die subjektive Wahrnehmung, das Nicht-begreifen-können des Ganzen, das auf Ausschnitte komprimierte Verständnis und die Ausprägungen der Gefühle, die sich nicht immer so leicht zuordnen lassen, wie wir hoffen... das alles erschafft in Form dieses Romans und bei weiterer Betrachtung ein großes Fragezeichen und zeitgleich ermöglicht es einen intensiven Austausch mit sich selbst, der Welt und ihren Möglichkeiten.
Der anfängliche Eindruck von Seelenverwandtschaft, Aufbruch und perfekten Leben, also das, was wir, wie Jack und Elizabeth, gerne öffentlich zu zeigen bereit sind und mit dem sie/wir uns gerne positionieren, fängt an, mit jedem weiteren Blick, jeder tiefgründigeren Frage zu bröckeln. Hills Nachforschungen, jedes weitere Kapitel eröffnet einen Blick auf Wunden, Schnitzer, Zuschreibungen und die Lebenswege seiner Protagonisten... sodass am Ende die blanke Wahrheit, ihre "kaputten" Leben und prägenden Traumata sichtbar werden. Und das ist tatsächlich ein Ritt, ein schrittweises Näherkommen und bei knapp 730 Seiten auch ein wenig Arbeit, die Hill sich, seinen Protagnisten und uns abverlangt. Zeitweise fällt es wirklich schwer, noch weitere Informationen aufzunehmen, weitere Anekdoten kennenzulernen und zuordnen zu können. Sehr lange hatte ich auch das Gefühl diesen beiden Menschen kaum näherzukommen. Zahlreiche rote Fäden werden aufgegriffen, Vergangenes erzählt, Studien angeführt, fallen gelassen, bis am Ende alles, fast schon magisch, ein komplettes Bild ergibt und viel mehr offenbart, als mir beim Lesen direkt bewusst war. Und obwohl ich schon anfangs dachte, dass ich dieses Buch mag, so hat es mich, fernab dieser ganzen interessanten Fakten und psychologischen Gedanken, doch erst am Ende so richtig abgeholt und begeistern können. Der weitere Denkprozess im Nachhinein, die Möglichkeit schonungslos mit seinem eigenen Leben zu beschäftigen ist dabei nicht zu verachten. Ein wirklich großes Buch, eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Sein und Tun, sowie eine fast schon traurige, augenöffnende Wahrheit, sofern diese dann auch die Wahrheit, Gewissheit und keine weitere Simulation ist.
"Gewissheit war nur die Geschichte, die der Verstand erdachte, um sich gegen den Schmerz des Lebens zu verteidigen. Was quasi per Definition bedeutete, dass Gewissheit ein Weg war, dem Leben auszuweichen. Man konnte sich für die Gewissheit entscheiden, oder man konnte sich entscheiden, lebendig zu sein."