Begeistert mich restlos
Marten ist Friedhofsmusikant. Er trompetet bei Beerdigungen und kann sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen. Um die zwanzig hat er bereits eine Ausbildung als Bibliothekar und ein „Standardleben“ hinter ...
Marten ist Friedhofsmusikant. Er trompetet bei Beerdigungen und kann sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen. Um die zwanzig hat er bereits eine Ausbildung als Bibliothekar und ein „Standardleben“ hinter sich, dem er entflohen ist. Eigentlich könnte alles immer so weiter gehen, wäre da nicht die Beerdigung eines ehemaligen Mitschülers, ein Haufen Geld und eine Unruhe, die ihn nicht so schnell loslässt.
Abschlussball ist ein moderner Entwicklungsroman par excellence. Nach einem Einstieg rekapituliert Marten seine Kindheit und Jugend. Gleichzeitig ist es genau der Gegenentwurf zu einem Entwicklungsroman, denn damals schon fühlte er sich schrecklich alt. Schwermut, Nachdenklichkeit, der Wunsch, Nichts zu tun, wirklich nichts. Er hat Gelenkschmerzen, graue Haare, die Physiologie gleicht sich seiner „alten“ Seele an. Und ja, natürlich steckt da viel dahinter. Schnell wird klar, dass Marten depressiv ist. Er hat Zusammenbrüche, bräuchte Hilfe, alles drum und dran.
Der Leser muss aufmerksam sein, um das zu entschlüsseln. Marten ist sehr introvertiert, er erzählt die Geschichte und blickt ganz anders auf sich, als sein Umfeld das zwischen den Zeilen tut. Während er die Musik als Mittel des Ausdrucks und Verbundenheit zu seiner Mutter nutzt, sich seine Welt in Improvisationen versucht zu erspielen, gibt es nur wenige echte Verbindungen in seinem Leben. Seine Schwester, die eben da ist, sein Vater, der langsam verschwindet.
Jess Jochimsen zeigt einen ungewöhnlichen Helden, der dadurch besticht, dass er gar kein Held sein will. Als Marten Bücher „entdeckt“ verliert er sich in den Geschichten, weil er gar keine eigenen Abenteuer erleben will. Keinen Wundert es mehr, als ihn, dass er durch den Tod des ehemaligen Mitschülers so durchgerüttelt wird. Vielleicht auch, weil Marten zuletzt ihre Verbindung sieht. Wilhelm, in der Schule das Gegenteil von Marten, beliebt, gute Noten, überall dabei – und plötzlich verschwunden. Dass es eine andere Art, eine andre Ausprägung des gleichen Übels ist, wird nie benannt, es ist eine der Feinheiten des Romans.
Eine winzige Handlung ist es dann, die Marten mitreißt. Weil er hofft, dass Wilhelms Geschichte anders verlaufen ist, aber auch, weil er insgeheim immer wieder auf seine eigene schielt. Dass der Leser auch das nicht vor den Latz geknallt bekommt, sondern selbst erlesen muss, ist für mich ein weiterer Pluspunkt. Es steht alles da, wir müssen es nur erkennen. Die vielen Anspielungen, von Romanen über Figuren, von Metaphern über Strukturen, haben mich ehrlich restlos begeistert.
Und natürlich der Inhalt selbst. Marten, der sich plötzlich in einem geheimen Keller wiederfindet, der sich verliebt zum ersten Mal jung fühlt, der das erste Mal die Grenzen von München übertritt. Und alles zirkelt immer wieder um seine Erkenntnis, die ihm bevorsteht. Der Leser ahnt es, sieht es kommen, rätselt dennoch. Dass der Roman selbst zyklisch verläuft, ist ein besonderes Schmankerl.
Es gibt Bücher, die mich begeistern, weil sie mich abholen. Solche, die mich faszinieren, weil sie so dicht sind. Bücher, die mich unterhalten, zum Lachen bringen, zum Nachdenken, zum Nicken. Sehr wenige schaffen das alles auf einmal. Jess Jochimsens Abschlussball gehört definitiv dazu!