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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein atmosphärischer Roman

Als wir an Wunder glaubten
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Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ...

Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ein paar Jahren aus, doch zurückgekehrt ist noch keiner und so unterstützen die Frauen sich gegenseitig auf ihren Höfen. Viel Raum für Hoffnung bleibt ihnen nicht und nun steht auch noch der Weltuntergang bevor, prophezeit der Spökenfritz, ein Scharlatan, der die Unsicherheiten der Dorfbewohner zu seinen Gunsten zu nutzen weiß. Als Annies Josef endlich heimkommt, ist die Freude groß, doch schnell folgt Ernüchterung. Der an Körper und Seele Versehrte findet kaum zurück ins alte Leben, säuft sich durch die Tage, schaut seine Frau nicht mehr an und schielt immer öfter auf die rothaarige Edith, die ihm so vertraut erscheint. Ganz klar, er ist verhext worden und ein Sündenbock für alles Unheil schnell ausgemacht. Bald schon stehen die Frauen auf gegensätzlichen Seiten, ein Graben des Misstrauens zwischen ihnen, ein Riss, der ganz Unnenmoor spaltet. Hier die Abergläubischen, dort die Aufgeklärten. Hier die Altmodischen, dort die Fortschrittlichen. Denn nicht nur der Zweite Weltkrieg und dessen schmerzhafte Nachwehen sorgen für große Verunsicherung, auch die in großen Schritten voranpreschende Modernisierung überfordert die Menschen, die sich nach Altbekanntem, nach Sicherheit sehnen. Wie weiterleben nach einem Krieg, der fortwährend in den Köpfen und draußen im Moor herumspukt? Wie mit der eigenen Schuld in den Schatten der Vergangenheit?

Ich bin tief eingetaucht in Helga Bürsters atmosphärischen Roman, der mit starken Bildern in eine Zeit der Orientierungslosigkeit entführt und überaus lebendig erzählt ist. „Als wir an Wunder glaubten“ zeichnet ein realistisches Bild der düsteren Nachkriegsära, die sumpfige Moorlandschaft Ostfrieslands spielt dabei eine zentrale Rolle und verleiht der Geschichte etwas Mystisches, Geheimnisvolles. Ich habe insbesondere die im Moor verwurzelte Guste und die junge Betty ins Herz geschlossen, ihren festen Zusammenhalt gemocht, ihre beharrliche Weigerung, sich unterkriegen zu lassen, bewundert. Keine Feel-Good-Lektüre, aber dennoch eine lohnenswerte!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Wie ein leises Echo

Marschlande
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Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische ...

Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische Geschichte birgt. Entlang der Elbe winden sich fruchtbares Land, lange Deiche, malerische Bracke mit verhängnisvollen Ursprüngen auf grünen Wiesen, das alles konservierende Moor. Hier liegen auch Abelke Blekens Wurzeln, mit dieser feuchten Erde ist sie verbunden, hat ihre Hände tief hineingegraben, gegeben, was sie konnte, und genommen, was sie zum Leben benötigte. Hier ist sie geboren, hat mit großem Geschick ihren eigenen Hof bestellt, und hier ist sie gestorben - als Hexe verbrannt auf dem Scheiterhaufen im Jahre 1583. Britta Stoever, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, zumindest früher einmal, zieht mit ihrer Familie neu in die Marschlande, raus aus der lauten Stadt und ins Eigenheim, das ist schon lange ihr Wunsch. So lange, dass sie ihn kaum noch spüren kann, und so richtig ankommen kann sie auch nicht. Dies ändert sich, als sie auf das Schicksal Abelkes stößt und wie elektrisiert nachzuforschen beginnt. Wer war diese Frau und wieso fühlt sie sich ihr so verbunden, fühlt deren Schmerz tief im eigenen Fleisch pochen, wie ein leises Echo?

Jarka Kubsova verknüpft Natur und Mensch in atmosphärischen Bildern, die mein Nature Writing-Herz höher schlagen ließen, Biografie mit Fiktion, Vergangenheit mit Gegenwart, erzählt von Freundschaft und Stärke, aber auch von Unrecht und Missgunst, der systematischen Auslöschung von Frauenbiografien in unserer Historie. Zwei Frauen, zwei Erzählstränge, die sehr unterschiedliches Identifikationspotenzial boten und mich nicht gleichermaßen überzeugen konnten. Da ist die unglaublich stark skizzierte, faszinierende Abelke, die sich mit größter Würde durch ein entbehrungsreiches Leben gekämpft hat. Großes Kino! Aber Britta hat es mir nicht leicht gemacht mit ihren Sorgen, die mir blass erschienen im Vergleich zu Abelkes, fast albern, unbequem vielleicht, doch mit Netz und doppeltem Boden gesichert. Vielleicht ist mir Britta zu nah und dann wieder zu fremd, während Abelkes Haltung mich stark berührt und beeindruckt hat.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Perfekte Überbrückungs-Lektüre

Honigkuchen
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Denke ich an Haruki Murakami, entfaltet sich eine ganz eigene Welt vor meinem inneren Auge. Ich denke an magischen Realismus, an immer wiederkehrende Elemente in gleichzeitig immer neuen, fantasievoll-absurden ...

Denke ich an Haruki Murakami, entfaltet sich eine ganz eigene Welt vor meinem inneren Auge. Ich denke an magischen Realismus, an immer wiederkehrende Elemente in gleichzeitig immer neuen, fantasievoll-absurden Geschichten, an sein großes Herz für einsame Figuren, die straucheln und mitunter mehr durchs Leben stolpern als gehen. Ich liebe Murakamis Literatur und ganz besonders liebe ich seine Romane - je länger, desto besser ist hier ganz klar mein Motto, denn wieso sollte ich mich mit einem kurzen Vergnügen zufriedengeben, wenn es auch lang geht? Aber ich muss gestehen, seine Erzählungen haben es mir mittlerweile auch angetan, nicht zuletzt dank Kat Menschiks wunderbaren Illustrationen, die Murakamis zum Teil fantastischen Figuren Leben einhauchen (big love an dieser Stelle für den visualisierten Schafsmann). Zuletzt erschien in Zusammenarbeit der beiden Künstler mit „Honigkuchen“ die zarte Novelle über eine Ménage-à-trois, eine Gefühlsachterbahn zwischen Freundschaft und Liebe, Familie der etwas anderen Art. Mit wenigen Worten beschwört der japanische Autor diese für ihn so typische, melancholische Atmosphäre herauf, eine von Unaufgeregtheit und Gelassenheit geprägte Stimmung, die von den Bildern Menschiks wunderbar unterstrichen und pointiert in Szene gesetzt wird. Perfekt geeignet für den kleinen Murakami-Hunger zwischendurch und natürlich zum Überbrücken der Wartezeit bis zum nächsten dicken Roman!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Leichtfüßige Unterhaltung, ohne platt zu sein

Eine halbe Ewigkeit
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Vorweg – ich war Ildikó von Kürthy Neuling und skeptisch, als mir das Buch in die Hand gedrückt wurde. Sehr skeptisch. Aber was soll ich sagen? Ich habe „Eine halbe Ewigkeit“ entgegen meiner Erwartungen ...

Vorweg – ich war Ildikó von Kürthy Neuling und skeptisch, als mir das Buch in die Hand gedrückt wurde. Sehr skeptisch. Aber was soll ich sagen? Ich habe „Eine halbe Ewigkeit“ entgegen meiner Erwartungen sehr gemocht, hab laut gekichert und sogar ein bisschen geweint, sei es vor Lachen oder aus rührseliger Sentimentalität. Cora Hübsch, Protagonistin aus „Mondscheintarif“, ist mittlerweile 54 Jahre alt und buchstäblich am Ende. Ihre Ehe ist in die Jahre gekommen, die drei Kinder sind quasi aus dem Haus und der Altpapiercontainer ist voll. Da kann man schon mal zusammenbrechen und genau das tut sie auch. Doch es naht Rettung in Form eines sabbernden Hundes und einer Seele von Mensch namens Wanda hintendran, die Cora direkt in ihre Küche verfrachtet, wo diese nun sitzt, überrumpelt und trunken vor Glück über diese liebenswerten Menschen, die wie ein kleines Wunder in ihr Leben gepoltert sind, als sie sie am dringendsten brauchte.

Das Buch hat einen fiesen Nerv bei mit getroffen, sind es doch genau die auf mich zurollenden Themen, die die Autorin hier berührt. Cora ist 15 Jahre älter als ich, aber wir haben vieles gemein. Drei Kinder auf der Schwelle zum Erwachsenenalter, eine langjährige Ehe, die tiefe Verwurzelung mit einem Ort. Alltag und Beständigkeit bis in die letzte Pore. Und ja, manchmal spüre ich es auch, dieses leichte Ziehen im Bauch bei dem Gedanken an die bevorstehende Leere der Wohnung, die Stille wo vorher Trubel war. Eine Zweisamkeit, die neu erlernt werden möchte.

Von Kürthys Roman ist leichtfüßig, ohne platt zu sein. Die Figuren sind mit viel Herz und Humor gezeichnet, bisweilen ein kleines bisschen drüber, aber das ist gar nicht weiter schlimm. Erdal würde ich gerne vom Fleck weg adoptieren, welch ein herrlicher Mensch einfach. Viele Lebensmodelle finden hier ihren Platz, ohne bewertet zu werden, und auch wenn ich Cora im Verlauf der Geschichte nicht immer folgen konnte, habe ich das Buch mit großer Befriedigung zuklappen können. Eine fröhliche Feier der Freundschaft, der (Wahl-)Familie und eine große Hommage an die Beständigkeit.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein ambivalenter Text

Geordnete Verhältnisse
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Faina ist zehn als sie in den 90er-Jahren ihre Heimat, die Ukraine, verlässt und mit ihrer Familie nach Deutschland umsiedelt. Auf der neuen Schule lernt sie Philipp kennen, der sich mit Freundschaften ...

Faina ist zehn als sie in den 90er-Jahren ihre Heimat, die Ukraine, verlässt und mit ihrer Familie nach Deutschland umsiedelt. Auf der neuen Schule lernt sie Philipp kennen, der sich mit Freundschaften schwer tut, und doch nichts sehnlicher wünscht als einen Freund. Und hier ist sie nun, Faina, mit ihren ebenfalls roten Haaren sein perfektes Gegenstück. Erst werden die „Oladuschkis" geteilt, russische Zucchinipuffer, bald die gesamte freie Zeit. Philipp beginnt langsam, das Mädchen zu vereinnahmen, ihm die Welt zu erklären, es von den anderen abzuschotten. Er bringt Fainas Unordnung in Ordnung, sortiert die Dinge für sie, sorgt für klar geordnete Verhältnisse. Nach der Schule trennen ihre Wege sich, zu unterschiedlich sind ihre Erwartungen an das Leben und aneinander. Philipp ist ehrgeizig und baut sich eine finanziell sichere Existenz auf: seine sozialen Beziehungen bleiben vage, während er sein grundsätzlich fehlendes, sexuelles Interesse an anderen Menschen zu verbergen versucht. Faina dagegen ist ein Freigeist, leichtfüßig tanzt sie durch die Welt, lässt sich einmal hierhin, einmal dorthin treiben. Und als sie ein paar Jahre später in Schwierigkeiten gerät, ist es Philipp, der ihr sofort in den Sinn kommt, der ihr freimütig aushilft und sie wieder in seinem strukturierten Leben aufnimmt, ihr einen festen Platz darin einräumt und Sicherheit (an)bietet. Doch zu welchem Preis?

Uff, definitiv keine leichte Kost, Lana Lux 'neuer Roman, diese Anatomie eines Femizids. Ziemlich schnell ist klar, dass das hier nicht gut enden wird, wenngleich der große Knall bis zum Ende auf sich warten lässt und dann irgendwie gar nicht so laut knallte, wie erwartet. Mir nicht so um die Ohren flog, wie er es angesichts der Thematik eigentlich sollte. Die Geschichte entwickelt einen starken Sog, ist sprachlich und erzählerisch top. Der Autorin gelingt es, den Tater nicht zu dämonisieren und das Opfer nicht zum wehrlosen Opfer zu machen. Diese Ambivalenz empfand ich als große Stärke des Textes, doch gleichzeitig löste irgendetwas daran ein diffuses Unwohlsein in mir aus, fühlten sich Form und Inhalt disharmonisch an, leicht verzerrt, ohne, dass ich genau benennen könnte, woran es liegt.

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