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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine erschütternde Geschichte

Verbrenn all meine Briefe
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Wut. Traurigkeit. Beklommenheit. Angst.

Dies ist ein Roman und es ist doch keiner. Alle Erwähnten sind so berühmt, dass sie Wikipedia-Einträge haben, ein öffentliches Dasein abseits dieser höchst persönlichen ...

Wut. Traurigkeit. Beklommenheit. Angst.

Dies ist ein Roman und es ist doch keiner. Alle Erwähnten sind so berühmt, dass sie Wikipedia-Einträge haben, ein öffentliches Dasein abseits dieser höchst persönlichen Geschichte. Alex Schulman arbeitet in „Verbrenn all meine Briefe“ ein vererbtes, familiäres Trauma auf, begibt sich auf die Spurensuche seiner eigenen, unkontrollierten Wut. Er möchte sie verstehen und den Kreis durchbrechen, die nur allzu vertraute Furcht aus den Augen, den Herzen, jeder einzelnen Zelle seiner Kinder verbannen.

Im Jahre 1932 begegnen sich drei Menschen und verknüpfen ihre Lebenswege auf schicksalhafte Weise miteinander. Sven und Karin Stolpe, ein junges Ehepaar und spätere Großeltern des Autors, sowie Olof Lagercrantz. Sie alle sind Teil der Literatur-Szene Schwedens und verbringen in jenem Sommer 10 Tage in der Sigtuna-Stiftung, 10 gemeinsame Tage nur, die alle drei für immer verändern und eine Schneise der Zerstörung zurücklassen werden. Während beide Männer die Deutunghoheit dieser Zeit für sich beanspruchen, Kränkung und Leidenschaft in Literatur transformiert in die Welt hinausschicken, bleibt Karin nur das Schweigen, das langsame Verschwinden und Wegducken. Der Rückzug in „das Land, das nicht ist“, einen Ort in ihrer Phantasie, der mich zu Tränen gerührt hat und es gerade wieder tut, als ich diese Zeilen schreibe, den ich nicht vergessen werde.

Welch eine zutiefst erschütternde Geschichte! Schulman schreibt eindringlich und mitreißend über diese tragische Liebe, die ich mit jeder Faser meines Körpers spüren konnte, ohne je pathetisch oder kitschig zu werden. Über die vertane Chance auf ein bisschen Glück. Ganz nah kamen mir die Protagonisten, ganz dicht bringt Schulman mich mittels Tagebüchern und Briefen an ihre Gefühle und Gedanken, ihre innersten Sehnsüchte und ihr Scheitern heran. Es ist eine zärtliche Hommage an eine Frau, die zwischen zwei lauten Männern keine Stimme hatte und der Versuch, ihr ebenjene wiederzugeben. Eine schmerzhaft wichtige Lektion über die Kraft der Vergangenheit und die unglaublich zerstörerische Macht eines einzelnen Menschen, die generationsübergreifend wirkt und wirkt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein verregneter Tag in Schottland

Sommerwasser
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Irgendein Sommertag in Schottland. Der Morgen bricht durch die Dunkelheit, der Regen trommelt auf dem See seine monotone Melodie, die niemals enden will und alle Regungen dämpft. Die Bewohner der Ferienhäuser ...

Irgendein Sommertag in Schottland. Der Morgen bricht durch die Dunkelheit, der Regen trommelt auf dem See seine monotone Melodie, die niemals enden will und alle Regungen dämpft. Die Bewohner der Ferienhäuser sind sich selbst überlassen, ohne WLAN von der restlichen Welt abgeschnitten, ohne die gewohnten Zerstreuungen ganz ihren eigenen Gedanken und Gefühlen ausgeliefert. Da ist das junge Paar, das am gemeinsamen Orgasmus feilt und dabei an nichts weniger denken kann, als aneinander (Lieblings-Sex-Szene seit langem, was hab ich gekichert!). Die gelangweilten Teenager von gegenüber, die sich weit weg wünschen, in die Sonne, ins trubelige Leben, zu den Freunden oder wenigstens ins Internet; die überall sein wollen, nur nicht hier. Claire und Jon mit ihren beiden Kleinkindern und dem zum Scheitern verurteilten Versuch, die Absurdität ihrer Situation zu verdängen, „nicht daran zu denken, dass sie sich mit all dem Geld, das sie bezahlt haben, um zwei Wochen nicht zu Hause zu sein, im Wesentlichen um all die Hilfsmittel gebracht haben, die ihnen sonst zur Verfügung stehen, um die Zeit rumzubringen.“ Diese Familie mit dem komischen Namen, kommen die aus Rumänien? Bulgarien?, die besonders genau beäugt wird. Die Menschen beobachten sich gegenseitig, ziehen ihre Schlüsse aus flüchtigen Momentaufnahmen, fällen ihr Urteil und mit Einsetzen der Dämmerung kündigt sich etwas Bedrohliches an.

Ganz ehrlich und unter uns – hier passiert nicht viel. Die Menschen in „Sommerwasser“ tun die alltäglichsten Dinge und ganz besonders eines: sich langweilen. Und doch passiert eben ganz viel in ihnen, mit ihnen, brodelt es unterschwellig, wächst aus dieser Eintönigkeit ein faszinierend präzises Bild unserer modernen Gesellschaft, das mich bestens und vor allem klug unterhalten und auch ein wenig ertappt hat. Einfühlsam, scharfsinnig und humorvoll begegnet Sarah Moss ihren Figuren, entlarvt deren Sehnsüchte, spielt mit ihren Ängsten. Auch die Tiere und der Wald, Regen und Schall bekommen eine Stimme und ergänzen diese atmosphärisch dichte Geschichte, diesen explosiven Chor, der letztlich tut, was er tun muss - sich in einem lauten Knall entladen.

Aus dem Englischen von Nicole Seifert.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Für Freunde des gepflegten Grusels

Das Nachthaus
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Ihr lieben Freunde des gepflegten Grusels, ich hab da was richtig Feines für euch! Eieiei, war das spannend und endlich mal wieder ein richtiger Pageturner, hatte ich jetzt länger nicht mehr. Und dabei ...

Ihr lieben Freunde des gepflegten Grusels, ich hab da was richtig Feines für euch! Eieiei, war das spannend und endlich mal wieder ein richtiger Pageturner, hatte ich jetzt länger nicht mehr. Und dabei ist weder Horror noch Spannung eigentlich mein bevorzugtes Metier, wisst ihr ja. Aber von vorne. Ich hab vor gut 10 Jahren ein paar Harry Hole-Krimis gelesen. Mochte ich, sind mir nun aber auch nicht wahnsinnig im Gedächtnis geblieben. Insofern kann ich mich nicht gerade als große Nesbo-Kennerin bezeichnen. Dass das hier kein typischer Nesbo ist, habe allerdings selbst ich gemerkt. „Das Nachthaus“ ist ein wilder Ritt durch diverse Genres und hat mich komplett in seinen Bann gezogen.

Der 14jährige Richard ist nach dem Tod seiner Eltern gerade erst zu Verwandten in das verschlafene Nest Ballantyne geschickt worden, als es dort zu mysteriösen Vorfällen kommt. Ein Junge verschwindet, eingesaugt von einem öffentlichen Telefon. Sagt Richard, der ihn als letztes gesehen hat. Glaubt ihm natürlich keiner, logisch. Spätestens nachdem ein zweiter Klassenkamerad verschwindet, direkt aus Richards Zimmer hinaus, zementiert sich dessen Position eines gefährlichen Irren in den Augen der Kleinstädter. Da hilft Richards Beteuerung, der Junge habe sich vor seinen Augen in einen Käfer verwandelt und sei aus dem Fenster geflogen, auch nicht wirklich weiter. Das klingt jetzt alles sehr abstrus, ich weiß. Und es ist auch etwas durchgeknallt und ziemlich gruselig, aber vor allem entwickelt Nesbo hier eine wirklich spannende Geschichte, der ich atemlos und mit klopfendem Herzen gefolgt bin. Eine Geschichte, die den einen oder anderen Plottwist bereithält, soviel sei gesagt, und sich als deutlich weniger abstrus entpuppt, als zunächst angenommen. Denn was es mit Richards Vergangenheit und dem Nachthaus wirklich auf sich hat, dieser alten Villa im Spiegelwald, enthüllt sich uns Lesern erst Stück für Stück. Der Autor jagt uns durch drei Abschnitte und jeder lässt alles in einem so gänzlich neuen Licht erscheinen, dass man am Schluss am liebsten direkt wieder von vorne anfangen möchte, um der Geschichte mit diesem neuen Blick noch einmal zu folgen. Ganz großes Kino!

Für mich ein überraschendes Lesehighlight zum Ende des Jahres, das ich unbedingt mit euch teilen möchte. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Aufwühlend und erschöpfend, auf eine gute Art

Mein Herz ist eine Krähe
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Erstes Highlight in diesem Lesejahr gefunden und was für eins! In mir herrscht das totale Gefühlschaos. Ich bin ausgelaugt und erschöpft. Traurig. Beseelt und glücklich, aber nicht auf die schnelle Art. ...

Erstes Highlight in diesem Lesejahr gefunden und was für eins! In mir herrscht das totale Gefühlschaos. Ich bin ausgelaugt und erschöpft. Traurig. Beseelt und glücklich, aber nicht auf die schnelle Art. Kein Fast Food-Glücklich, sondern dieses schwere Glücklich, das dumpf nachhallt, ganz tief in mir drin. Das mir sagt, dass da gerade etwas passiert ist, das bleibt, mein Herz fest umklammert hält. Ich habe selten eine Geschichte gelesen, die mich mit solcher Intensität trifft, bewegt, aufwühlt. Ihr merkt es vielleicht schon, ich krieg keinen klaren Gedanken zu fassen und mit einer fundierten Rezension hat das hier auch nix zu tun. Ich möchte so viel sagen und gleichzeitig am liebsten gar nichts, aus Angst dem Roman nicht gerecht zu werden. Wie ein rohes Ei liegt diese kostbare Geschichte in meinen groben Händen.

Also nur ein paar Worte zum Inhalt. Lina Nordquists Debütroman (schier unglaublich) erzählt die Geschichten von Unni und Kåra, zwei Frauen einer Familie, die fast ein Jahrhundert trennt, doch die Liebe zu Roar, Sohn der einen und Schwiegervater der anderen, eint. Ihr Zuhause ist die „Frieden“, eine kleine Kate in Schweden, die 1900 Unni und ihrem Liebsten Armod Zuflucht bietet und in den 1970er Jahren auch Kåra aufnimmt. Die Autorin verknüpft beide Geschichten Stück für Stück, dringt immer tiefer in ihr Innerstes und auf den Grund ihrer Geheimnisse vor, beschreibt in betörenden Bildern und kraftvollen Worten die Zumutungen des Lebens, denen diese beiden Frauen ausgesetzt sind, aber auch die starke Liebe, die hell aus der Dunkelheit strahlt. Die fast unbeschreibliche Kostbarkeit des Glücks. Eine zentrale Rolle nimmt hier auch der Wald ein, dem Roars Herz gehört, der ihm von klein auf Schutz und Sicherheit in einer beunruhigenden Welt bedeutete.

Ein Wald ist viel mehr als nur Bäume, sondern auch alles dazwischen: Luft, Moos, Flechten, Blumen, Pilze. Bäume allein machen keinen Wald. So, wie ein Mensch nicht automatisch lebt, nur weil er am Leben ist.« S. 185 Und Worte allein machen noch keine gute Geschichte. Es braucht diesen besonderen Zauber, der ihr Leben einhaucht, der sie aus dem Raum des Möglichen herausholt und ans Tageslicht hält.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Wunderbarer Vater-Sohn-Roman!

Drei Uhr morgens
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Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese ...

Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese bestenfalls neu bewerten. Dort angekommen erwartet die beiden ein ungewöhnlicher Auftrag. Sie sollen zwei Nächte wach bleiben, Antonios Körper so in einen Ausnahmezustand versetzt und auf seine Belastbarkeit hin überprüft werden. Überraschend sehen Vater und Sohn sich nun mit viel freier, gemeinsamer Zeit konfrontiert, einem Zustand, der ihnen auf Anhieb wenig geheuer ist. Denn wie plötzlich umgehen mit diesem fast fremden Menschen? Die Trennung der Eltern ist lange her, Vater und Kind sich lange schon nicht mehr vertraut. Sie lassen sich treiben, folgen anfangs noch zaghaft der Strömung der flirrenden Stadt, den Ratschlägen der Einheimischen und beginnen zunehmend Gefallen an der Sache zu finden, aneinander und am Zauber des Balikwas. „Das ist Tagalog, die Hauptsprache der Philippinen. Es ist schwer zu übersetzen. Es bedeutet so viel wie: unverhofft in eine neue Situation springen, den Blickwinkel ändern, die Dinge, die wir zu kennen glauben, in einem anderen Licht sehen.“ S. 171

Völlig ohne Kitsch und Pathos kommt diese Geschichte einer zarten Annäherung aus, die sich intensiv und atmosphärisch auf wenigen Seiten entfaltet, eine leichte Melancholie verströmend, die mich konstant umfangen hielt. Da steckt ganz viel Klugheit drin, Sanftheit, ein sicheres Gespür für Beziehungen und ihre Tücken, für Nähe und Distanz, und wie die eine die andere zu überwinden vermag in kleinen Momenten wahrer Intimität. Eine ganz zauberhafte, inspirierende Lektüre, die es auch schon als Taschenbuch gibt. Lesen bitte!

„Als mein Vater geendet hatte und dem Echo der beiden abschließenden, wehmütigen Tonfolgen nachsann, brandete warmherziger Beifall auf. Ich applaudierte ebenfalls und klatschte so lange, bis ich mir sicher war, dass er mich gesehen hatte, denn ich begann zu begreifen, dass es Missverständnisse gibt, und in diesem Moment sollte es keine geben. In den Jahren danach sollte ich noch jede Menge unterschiedlichsten Jazz hören. Ich sollte Begriffe kennenlernen, von denen ich in jener Nacht in Marseille nicht den leisesten Schimmer hatte: Variationen, Paraphrasen, Dissonanzen, Cluster, Chromatik, Wechselspiel, modale Improvisation, Free Jazz. Doch alles - sei es viel oder wenig -, was ich wirklich über Jazz weiß, habe ich in jener Nacht gelernt.“ S. 114

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