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Veröffentlicht am 26.04.2024

Existenzielle Fragen über unsere Verbundenheit mit der Welt

Klara und die Sonne
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»Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ. Sondern im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders ...

»Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ. Sondern im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht?«

KI, künstliche Intelligenz, ist aus unserer digitalisierten Welt nicht mehr wegzudenken, gerade erst hat die EU das erste Regelwerk zur Eindämmung der enormen Risiken auf den Weg gebracht. Auch Klara ist eine KF, eine künstliche Freundin, konzipiert in der nahen Zukunft um jungen Menschen im Erwachsenwerden beizustehen, eine angenehme Gesellschafterin und vertrauensvolle Ansprechpartnerin zu sein. Und Klara ist eine besonders intensive Erzählstimme, denn sie sieht die Welt durch Augen, die unseren sehr ähnlich und doch anders sind. Fast wie ein Märchen liest sich der Roman, kindlich mutet Klaras naiver Blick an, ihr unumstößliches Vertrauen in die Kraft der Sonne und auch in die Menschen, allen voran in Josie, das kranke Mädchen, dem sie gehört und dem bald ihre ganze Sorge gilt. Doch Klaras genaue Beobachtungen dessen, was um sie herum geschieht, verwirren sie zunehmend; wie die Menschen im Namen der Liebe handeln, ist für sie logisch kaum nachvollziehbar, bringt sie an die Grenzen ihrer Fähigkeiten.

Vor Jahren las ich mit „Was vom Tage übrig blieb“ mein erstes Buch des britisch-japanischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro und war sofort fasziniert. Fasziniert von der bedächtigen Art, mit welcher der Autor diese Geschichte erzählt, davon, wie wenig Aufhebens es benötigt, um seine Figuren zum Leben zu erwecken und mich nachhaltig zu berühren. Nach der Lektüre von „Klara und die Sonne“ weiß ich, das war kein besonderes Merkmal dieses einen Romans; Ishiguros Literatur zeichnet sich nicht durch gewaltige Bilder aus, nicht durch Lärm. Seine Figuren sind still und feinsinnig, seine Worte brauchen etwas Zeit, um ihre ganze Wucht, ihre Wirkung zu entfalten. Es sind existenzielle Fragen über unsere Verbundenheit mit der Welt, die der Autor aufwirft, und die sich auch in diesem Roman wiederfinden.

Aus dem Englischen von Barbara Schaden.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Österreichische Literatur par excellence

Verschwinden in Lawinen
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„Stehen, knien, sitzen. Aus allen Mündern: Amen. In der ersten Reihe hockten die Eltern des Jungen. Das Murmeln im Rücken, das Rascheln der Kleidung, bewies ihnen die vereinte Unterstützung. […] Er blickte ...

„Stehen, knien, sitzen. Aus allen Mündern: Amen. In der ersten Reihe hockten die Eltern des Jungen. Das Murmeln im Rücken, das Rascheln der Kleidung, bewies ihnen die vereinte Unterstützung. […] Er blickte zu Boden. […] Er dachte an die Lawine. An dieses Phänomen und was es bedeutete. Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“ S.11

Ein tragisches Unglück ist geschehen am Berg. Zwei junge Menschen wurden von einer Lawine überrollt, das Mädchen wird bald verletzt gefunden, sein Freund bleibt vermisst. Xavers Nichte Tina kämpft nun im Krankenhaus ums Überleben während dieser, ein Schauspieler in den Kinderschuhen und Daheimgebliebener, sich wild entschlossen dem Rettungsteam anschließt. Während der Suche nach Noah spürt er bald eine Unruhe in sich aufsteigen, wird er jäh von Erinnerungen an den vor vielen Jahren verschollenen Großvater übermannt. Damals war es Sommer, auch dann verschwinden Menschen am Berg, verschwinden und werden gar nie mehr gefunden, oder eben doch, aber erst viel später, dann kaum noch wieder zu erkennen. Und manche könnten rechtzeitig gefunden werden, wenn man selbst ein bisschen mehr Mut hätte, kein solcher Hasenfuß wäre.

Aberglaube trifft auf Skepsis in diesem Dorf, beides ist den Menschen wohlbekannt und ringt miteinander im Angesicht der Tragödien, die zum Leben dort dazugehören. So entwickelt sich die Suche nach dem Jungen für Xaver zu einer längst überfälligen nach dem eigenen Platz auf dieser Welt, in diesem Dorf, rührt an einem Gefühl des tiefsten Versagens und dem dringenden Wunsch nach Wiedergutmachung.

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ jongliert geschickt mit den menschlichen Regungen und Bedürfnissen, der Bedeutung von Signifikanz im eigenen Leben. Es ist ein Heimatroman im besten Sinne, atmosphärisch und dicht, bildgewaltig; jedes Wort sitzt, hier wird etwas genauestens auserzählt, dort ganz knapp gehalten, schnörkel- und kompromisslos. Österreichische Literatur par excellence und eine große Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein atmosphärischer Roman

Als wir an Wunder glaubten
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Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ...

Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ein paar Jahren aus, doch zurückgekehrt ist noch keiner und so unterstützen die Frauen sich gegenseitig auf ihren Höfen. Viel Raum für Hoffnung bleibt ihnen nicht und nun steht auch noch der Weltuntergang bevor, prophezeit der Spökenfritz, ein Scharlatan, der die Unsicherheiten der Dorfbewohner zu seinen Gunsten zu nutzen weiß. Als Annies Josef endlich heimkommt, ist die Freude groß, doch schnell folgt Ernüchterung. Der an Körper und Seele Versehrte findet kaum zurück ins alte Leben, säuft sich durch die Tage, schaut seine Frau nicht mehr an und schielt immer öfter auf die rothaarige Edith, die ihm so vertraut erscheint. Ganz klar, er ist verhext worden und ein Sündenbock für alles Unheil schnell ausgemacht. Bald schon stehen die Frauen auf gegensätzlichen Seiten, ein Graben des Misstrauens zwischen ihnen, ein Riss, der ganz Unnenmoor spaltet. Hier die Abergläubischen, dort die Aufgeklärten. Hier die Altmodischen, dort die Fortschrittlichen. Denn nicht nur der Zweite Weltkrieg und dessen schmerzhafte Nachwehen sorgen für große Verunsicherung, auch die in großen Schritten voranpreschende Modernisierung überfordert die Menschen, die sich nach Altbekanntem, nach Sicherheit sehnen. Wie weiterleben nach einem Krieg, der fortwährend in den Köpfen und draußen im Moor herumspukt? Wie mit der eigenen Schuld in den Schatten der Vergangenheit?

Ich bin tief eingetaucht in Helga Bürsters atmosphärischen Roman, der mit starken Bildern in eine Zeit der Orientierungslosigkeit entführt und überaus lebendig erzählt ist. „Als wir an Wunder glaubten“ zeichnet ein realistisches Bild der düsteren Nachkriegsära, die sumpfige Moorlandschaft Ostfrieslands spielt dabei eine zentrale Rolle und verleiht der Geschichte etwas Mystisches, Geheimnisvolles. Ich habe insbesondere die im Moor verwurzelte Guste und die junge Betty ins Herz geschlossen, ihren festen Zusammenhalt gemocht, ihre beharrliche Weigerung, sich unterkriegen zu lassen, bewundert. Keine Feel-Good-Lektüre, aber dennoch eine lohnenswerte!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Wie ein leises Echo

Marschlande
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Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische ...

Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische Geschichte birgt. Entlang der Elbe winden sich fruchtbares Land, lange Deiche, malerische Bracke mit verhängnisvollen Ursprüngen auf grünen Wiesen, das alles konservierende Moor. Hier liegen auch Abelke Blekens Wurzeln, mit dieser feuchten Erde ist sie verbunden, hat ihre Hände tief hineingegraben, gegeben, was sie konnte, und genommen, was sie zum Leben benötigte. Hier ist sie geboren, hat mit großem Geschick ihren eigenen Hof bestellt, und hier ist sie gestorben - als Hexe verbrannt auf dem Scheiterhaufen im Jahre 1583. Britta Stoever, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, zumindest früher einmal, zieht mit ihrer Familie neu in die Marschlande, raus aus der lauten Stadt und ins Eigenheim, das ist schon lange ihr Wunsch. So lange, dass sie ihn kaum noch spüren kann, und so richtig ankommen kann sie auch nicht. Dies ändert sich, als sie auf das Schicksal Abelkes stößt und wie elektrisiert nachzuforschen beginnt. Wer war diese Frau und wieso fühlt sie sich ihr so verbunden, fühlt deren Schmerz tief im eigenen Fleisch pochen, wie ein leises Echo?

Jarka Kubsova verknüpft Natur und Mensch in atmosphärischen Bildern, die mein Nature Writing-Herz höher schlagen ließen, Biografie mit Fiktion, Vergangenheit mit Gegenwart, erzählt von Freundschaft und Stärke, aber auch von Unrecht und Missgunst, der systematischen Auslöschung von Frauenbiografien in unserer Historie. Zwei Frauen, zwei Erzählstränge, die sehr unterschiedliches Identifikationspotenzial boten und mich nicht gleichermaßen überzeugen konnten. Da ist die unglaublich stark skizzierte, faszinierende Abelke, die sich mit größter Würde durch ein entbehrungsreiches Leben gekämpft hat. Großes Kino! Aber Britta hat es mir nicht leicht gemacht mit ihren Sorgen, die mir blass erschienen im Vergleich zu Abelkes, fast albern, unbequem vielleicht, doch mit Netz und doppeltem Boden gesichert. Vielleicht ist mir Britta zu nah und dann wieder zu fremd, während Abelkes Haltung mich stark berührt und beeindruckt hat.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Perfekte Überbrückungs-Lektüre

Honigkuchen
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Denke ich an Haruki Murakami, entfaltet sich eine ganz eigene Welt vor meinem inneren Auge. Ich denke an magischen Realismus, an immer wiederkehrende Elemente in gleichzeitig immer neuen, fantasievoll-absurden ...

Denke ich an Haruki Murakami, entfaltet sich eine ganz eigene Welt vor meinem inneren Auge. Ich denke an magischen Realismus, an immer wiederkehrende Elemente in gleichzeitig immer neuen, fantasievoll-absurden Geschichten, an sein großes Herz für einsame Figuren, die straucheln und mitunter mehr durchs Leben stolpern als gehen. Ich liebe Murakamis Literatur und ganz besonders liebe ich seine Romane - je länger, desto besser ist hier ganz klar mein Motto, denn wieso sollte ich mich mit einem kurzen Vergnügen zufriedengeben, wenn es auch lang geht? Aber ich muss gestehen, seine Erzählungen haben es mir mittlerweile auch angetan, nicht zuletzt dank Kat Menschiks wunderbaren Illustrationen, die Murakamis zum Teil fantastischen Figuren Leben einhauchen (big love an dieser Stelle für den visualisierten Schafsmann). Zuletzt erschien in Zusammenarbeit der beiden Künstler mit „Honigkuchen“ die zarte Novelle über eine Ménage-à-trois, eine Gefühlsachterbahn zwischen Freundschaft und Liebe, Familie der etwas anderen Art. Mit wenigen Worten beschwört der japanische Autor diese für ihn so typische, melancholische Atmosphäre herauf, eine von Unaufgeregtheit und Gelassenheit geprägte Stimmung, die von den Bildern Menschiks wunderbar unterstrichen und pointiert in Szene gesetzt wird. Perfekt geeignet für den kleinen Murakami-Hunger zwischendurch und natürlich zum Überbrücken der Wartezeit bis zum nächsten dicken Roman!

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