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Veröffentlicht am 26.04.2024

Etwas geht heute zu Ende, etwas liegt in der Luft...

Seemann vom Siebener
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Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. ...

Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. Als das Becken schon leer war oder beinahe leer, eine Pfütze war noch drin, aber die half auch nichts mehr. Doch heute erinnert, abgesehen vom „Nicht Betreten“-Schild und Bademeister Kiontkes inneren Dämonen, nichts mehr an die Tragödie von damals, heute ist ein strahlender Sommertag und Ottersweilers Freibad dementsprechend voll. Und genau heute steht dieses seltsam aussehende Mädchen oben auf ebenjenem Sprungbrett, ganz still steht sie da, stolz und erhaben, wie auf dem Dach der Welt. Bereit zum Absprung.

„Das Mädchen breitet die Arme aus. Und plötzlich scheint es dem Kiontke, als hätten Teile eines Mobiles sich um eine unsichtbare Achse sanft im Kreis gedreht, all die Jahre, den ganzen Tag, um genau jetzt, in diesem Moment, zur Ruhe zu kommen. Ein Stillstand, der auf eigentümliche Weise ein Bild und einen Sinn ergibt, den der Kiontke nicht ergründen kann. (…) Kiontke lässt das Megaphon sinken und den Dingen ihren Lauf.“ S. 233/234

Etwas geht heute zu Ende, unwiederbringlich, und gleichzeitig liegt etwas Neues in der Luft, das spüren sie alle. Isobel Trautheimer, die etwas wunderliche, betagte Lateinlehrerin des Dorfes unter der Linde liegend, wo sie selig vergangenen Zeiten nachlauscht, Renate in ihrem kleinen Kassenhäuschen, die Nase wie immer in einem Kreuzworträtsel, Lenny und Joe am Grund des Beckens sitzend, der Gegenwart entrückt, einander und sich selbst irgendwo abhandengekommen und nicht wissend, wohin mit dieser inneren Leere, der verpassten Chance. Wie ein Mosaik setzt sich aus all den Lebensgeschichten, die hier und heute zusammenfinden, ein melancholisch-beglückendes Bild zusammen, ein aus sämtlichen Schicksalen komprimiertes Gefühl des leisen Aufbruchs. Arno Frank erzählt humorvoll und feinfühlig von den Menschen, ihren Sehnsüchten und Irrungen, von ernsten Untertönen in einer sonnenbeschienen Welt. Ein leichtfüßiger Roman mit Tiefgang, herrlich pfälzischem Lokalkolorit und viel Herz für seine Figuren, den ich in einem Rutsch inhaliert habe.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein betörender Traum

Die Gouvernanten
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Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, ...

Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, einmal hier, einmal da, und schon ist es wieder verschwunden. Ich reibe mir die Augen, schaue durch halb geschlossene Lider genauer hin. Sieh doch, da galoppieren sie durchs Unterholz, das lange Haar wehend, die strengen Netze zu Boden geworfen, die roten Röcke wild umher schwingend. Sie sind es, die Gouvernanten, Inès, Laura und Éléonore, Herrscherinnen ihrer kleinen, abgeschiedenen Welt hinter den goldenen Toren. Diese verlassen sie niemals, doch innerhalb der Mauern regieren sie über alles, nehmen sich, was immer ihnen beliebt, koste es, was es wolle. Hier gelten ihre Regeln. Und auf die Jungen passen sie natürlich auf, am Tage! Welche Jungen, fragst du? Na, die von Monsieur und Madame Austeur, der Familie, die hier lebt. Klein und groß jagen sie den Reifen hinterher, geraten ganz aus der Puste und kehren dann zu ihren Gouvernanten zurück, den Blick vertrauensvoll auf diese gerichtet, bei den Älteren sehe ich eine Ahnung ersten Verlangens darin, ein sehnsüchtiges Brennen. Und wer kann sie ihnen verübeln, diese totale Verzückung? „Hier nahte das Leben (…) und mit ihnen eine Fülle von Erinnerungen und Wünschen, eine Menge von Unbekannten, die an ihren Träumen hingen, ihre zukünftigen Kinder, ihre künftigen Liebsten, die endlose Kohorte ihrer Vorfahren, die Bücher, die sie gelesen, die Blumen, deren Duft sie eingesogen hatten.“ (S. 32)

Ungläubig und ein wenig neidisch beobachte ich das unbändige Treiben jener jungen Frauen, ihre reine Freude an der Unvernunft, ihr hungriges Verlangen, das im starken Kontrast zu ihrer bescheidenen Aufgabe, ihrer sittsamen Rolle in der Gesellschaft steht. Gleich dem greisen Herrn mit dem Fernrohr bin ich eine neugierige Voyeuristin, kann mich dem, was sich vor meinen Augen abspielt, dieser surrealen Szenerie nicht entziehen. Ein so kraftvolles wie zartes, fiebriges Märchen voll Poesie und Phantasie, ein sinnliches Spiel mit den verschwommenen Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, das mich bezaubert und betört hat.

Anne Serres eleganter Roman ist eine wirklich aufregende Neuentdeckung des Berenberg Verlags. Die Originalausgabe „Les Gouvernantes“ erschien bereits 1992 in Frankreich, 2021 folgte eine leicht veränderte Ausgabe, der diese hervorragende Übersetzung von Patricia Klobusicky folgt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Zwischenmenschliche Regungen

Lieder aller Lebenslagen
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Heute erscheint dieser wunderbare Herbsttitel, den ich euch sehr empfehlen mag. Stine Pilgaard ist Dänemarks derzeit erfolgreichste Autorin und vielen hier seit „Meter pro Sekunde“ ein Begriff. Für mich ...

Heute erscheint dieser wunderbare Herbsttitel, den ich euch sehr empfehlen mag. Stine Pilgaard ist Dänemarks derzeit erfolgreichste Autorin und vielen hier seit „Meter pro Sekunde“ ein Begriff. Für mich war dieses Buch (im Original vor „Meter pro Sekunde“ erschienen, aber erst nach dessen durchschlagendem Erfolg ebenfalls ins Deutsche übersetzt) das erste der Autorin und ich bin ziemlich angetan von diesem frischen, authentischen Ton, der mich berührt und dann wieder zum Lachen gebracht hat, Pilgaards klugen, nuancierten Beobachtungen der zwischenmenschlichen Regungen.

Wir sind in einem großen, alten Haus in Århus. Hier leben Menschen unterschiedlichster Generationen und Nationalitäten dicht beisammen in einer Genossenschaft, teilen ihren Alltag, ihre Sorgen und ihre Freuden. Das ist meistens schön und bereichernd, manchmal aber auch nicht ganz leicht unter einen Hut zu bekommen und dann ist da auch noch die verflixte Vergangenheit und rückt einem auf die Pelle, will einen partout nicht in die Gegenwart entlassen. Als die Gemeinschaft erfährt, dass unsere neu eingezogene Ich-Erzählerin ein besonderes Talent fürs Liederschreiben hat, schütten sie ihr das Herz aus. (Dafür müsst ihr wissen, dass es in Dänemark üblich ist, zu festlichen Anlässen ein eigenes Lied vorzutragen.) Diese Lieder also führen uns durch den Roman wie ein roter Faden, fassen die Geschichten der Menschen zu einem schillernden Kaleidoskop des Lebens zusammen, schauen ihnen ins Herz und direkt auf den Grund ihrer Sehnsüchte. Da ist Wahrsager-John mit seiner absurden Ratgeberspalte in der Zeitung, Lisa, die uns tief in die Welt der isländischen Sagen und ihren starken Frauen mitnimmt, Oma, die ihre Enkelin Iben innig liebt und ebenso innig bevormundet und die seit einem halben Jahrhundert in Ruth verknallt ist, der Kater Daisy (ja, genau, KATER Daisy), Mie, die das Haus kennt wie keine Zweite und verzweifelt versucht, das Zepter in der Hand zu behalten und, ach, lassen wir das. Lest es einfach und lernt ihn selbst kennen, diesen chaotischen, liebenswerten Haufen und tut eurer Seele etwas Hyggeliges in diesen unruhigen, beängstigenden Zeiten.

„Das ist wie in einer Band, sagt Iben, wenn's Probleme gibt, holt man tief Luft und spielt weiter.“ S. 91

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Träumen hat keine Altersbegrenzung

Kleine Kratzer
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„Mich macht dieses Buch glücklich!“, stellte Elke Heidenreich nach der Lektüre fest - und mich ebenfalls! Wenn du denkst, alte Frauen gehörten aufs Abstellgleis geschoben und unsichtbar gemacht, scroll ...

„Mich macht dieses Buch glücklich!“, stellte Elke Heidenreich nach der Lektüre fest - und mich ebenfalls! Wenn du denkst, alte Frauen gehörten aufs Abstellgleis geschoben und unsichtbar gemacht, scroll bitte direkt weiter, sieh einfach woanders hin. Dann ist das hier definitiv nicht dein Buch! Die betagten Damen in diesen 13 Erzählungen fluchen derb, haben leidenschaftliche Gefühle, üben Rache und schrecken auch vor Mord nicht zurück, wenn’s sein muss. Da ist kein Hauch von Angst zu spüren, von Rücksichtnahme und Bescheidenheit, von Greisentum und nahendem Tod, oh nein, jetzt wird abgerechnet. Mit dem eigenen Leben, den Ansprüchen anderer, diesem allzu gerne hervorgekramten Bild der tattrigen Omi mit ihren Stricksachen und ihrem gedanklichem Verweilen im Gestern. Intimität, Verliebtsein, Lust? Aber doch bitte nicht mehr nach dem 60. Geburtstag! Wer will sowas hören, geschweige denn davon lesen, fragt ihr? Ich. Und ihr alle solltet es auch tun, denn die 80jährige Debütantin Jane Campbell weiß genau, wovon sie schreibt, und das sind die Sehnsüchte und Wünsche von Frauen wie uns, unseren Müttern, Schwestern und Töchtern, Ehefrauen und Geliebten. Frauen, die wir einmal sein werden.

„Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.“ S. 44

Manche Geschichten dieser Anthologie sind ganz klar, andere muten traumähnlich an, der Realität entrückt. Um Selbstbestimmung geht es, um den herben Verlust der Mündigkeit, um Einsamkeit, aber auch um die Frage, was in unserer Welt eigentlich wirklich von Wert ist, woran sich unser eigener Wert bemessen lässt. Ernste Themen werden hier also verhandelt, doch mit viel englischem, zuweilen auch bitterbösem Humor, denn diese Unterschätztheit birgt eine ungeahnte, verheißungsvolle Chance auf Freiheit, die auszukosten unsere Protagonistinnen nur zu gerne bereit sind. Denn sie wagen noch immer, zu träumen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Heldin, getrieben von dem unbändigen Willen zu überleben

Tiere, vor denen man Angst haben muss
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Vor langer Zeit las ich mit „Kraniche und Klopfer“ von Axel Brauns ein Buch, das mich tief berührt hat. Als ich nun in Alina Herbings neuen Roman und damit in Madeleines Geschichte eintauchte, erinnerte ...

Vor langer Zeit las ich mit „Kraniche und Klopfer“ von Axel Brauns ein Buch, das mich tief berührt hat. Als ich nun in Alina Herbings neuen Roman und damit in Madeleines Geschichte eintauchte, erinnerte ich mich direkt wieder an die Adinas. In beiden geht es um Verwahrlosung, um den Verlust des unbeschwerten Kindseins. Ein Leben außerhalb der Gesellschaft, das einsam macht, innerlich aushöhlt, und das unter größter Anstrengung geheim gehalten werden muss. In beiden Romanen verlieren die Mütter schleichend die Kontrolle über den Alltag, während die Väter sich der Verantwortung schlichtweg entziehen. Und in beiden werden Lebenssituationen geschildert, die leider nur zu real sind.

Madeleine ist 16, eine junge Frau, die sich zum ersten Mal verlieben sollte, mit Freundinnen quatschen und lachen, Pläne für die Zukunft schmieden. Doch nach dem Umzug aus Lübeck in ein kleines Dorf in Mecklenburg verändert sich vieles. Da ist kein Raum für Luftschlösser, keine Energie für ein Später, ein Vielleicht. Da ist nur die Kälte, die in jede Ritze des alten Hofes dringt, der Efeu, der sich seinen Weg ins Haus bahnt, die Mutter, die entweder weg ist, Tiere retten, oder mit den Gedanken bei eben diesen. Die kleine Schwester, die sich nur noch von Äpfeln ernährt und immer dünner wird. Alles nicht so schlimm, findet die Mutter, das härtet ab und überhaupt wird fließendes Wasser überschätzt, ist der Hundebiss nicht so tief und nähen darf man den eh nicht. Und sie hat ja Recht irgendwie, es geht ja. Und wer kümmert sich sonst um die armen Tiere, um all die traumatisierten Hunde, die Wildschweine vor der Tür und die zig Mäuse im Gebälk?

Alina Herbing skizziert in „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ eindringlich die fließende Grenze zwischen Zivilisation und Natur. Den Traum eines guten, einfachen Lebens, der in Hundepisse und Chaos ertrinkt, an den Anforderungen des echten Lebens zerschellt. „Eine berührende Heldin, der man gebannt folgt auf ihrer Suche nach Geborgenheit“ sagt Kristine Bilkau und genau das ist sie, eine Heldin voller Wut, angeknackst, aber auch getrieben von dem unbändigen Willen zu (über)leben.

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