Profilbild von readiculousme

readiculousme

Lesejury Profi
offline

readiculousme ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit readiculousme über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.04.2024

Ganz viel Liebe für dieses Debüt

Nincshof
0

Wir befinden uns im Jahre 2023 nach Christus. Die ganze Welt ist im Berühmtheitswahn. Die ganze Welt? Nein! Ein von munteren Rebellen bevölkertes Dorf in Österreich hört nicht auf, dem Erinnertwerden Widerstand ...

Wir befinden uns im Jahre 2023 nach Christus. Die ganze Welt ist im Berühmtheitswahn. Die ganze Welt? Nein! Ein von munteren Rebellen bevölkertes Dorf in Österreich hört nicht auf, dem Erinnertwerden Widerstand zu leisten. Nincshof liegt genau an der Grenze zu Ungarn im Burgenland, ein winzig kleines Dorf im Schilf. Die Sommer sind flirrend heiß und in genau so einem Sommer trägt sich auch diese Geschichte zu, die von leuchtenden Irrziegen und Oblivisten erzählt, von alten Legenden und neuen Dorfbewohnern, vom Erinnern und Vergessen und der Chance, die in beidem steckt. Erna Rohdiebl, Isa Bachgasser, Selma Sadić – „Nincshof“ ist bevölkert von klugen, emphatischen Frauen, die auf der Suche sind nach, ja, nach was eigentlich? Nach Glück irgendwie, dem Gefühl der Zugehörigkeit und echtem Zusammenhalt. Nach der unbedingten Anwesenheit im eigenen Leben würde Mariana Lekys Selma so treffend sagen.

Liebe Johanna, ich danke dir für diese märchenhafte Geschichte, die mich innerlich ganz arg gewärmt hat und aus der so viel Herzblut tropft, für all den groben Unfug, den du dir ausgedacht hast. Diese Liebeserklärung an die Menschen und das Erzählen, all die schönen Bilder, die du in meinem Kopf erzeugt hast. Für mich ist „Nincshof“ ein richtiger Feelgood-Dorfroman, der mich bestens unterhalten und in seiner Skurrilität tatsächlich an Mariana Leky erinnert hat, was wirklich eine Ehre ist. Ich hab so gelacht (an dieser Stelle herzlichste Grüße an die prustende Dame aus Reihe eins bei der Premiere letzte Woche, I get it now), hab mitgefühlt und mitgefiebert, mich einfach in die Geschichte hineinfallen lassen. Ganz viel Liebe für dieses Debüt!

„Auf ihrer Terrasse stand Erna Rohdiebl, blickte in den Himmel und erfreute sich an diesem flammenden Blau, das sich wolkenlos über einem weiteren lähmenden Julitag bog. Wahrscheinlich war es der Genügsamkeit geschuldet, die sich langsam an einen heranschlich und irgendwann nicht mehr fortging, während eines langen, mal gelebten, mal ertragenen Lebens, dass Erna Rohdiebl in jeder Jahreszeit, in jedem noch so brummenden Sommer, in jedem noch so klirrenden Winter etwas zu finden wusste, woran sie sich erfreuen konnte.“ S. 274

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Liebesbrief für Jung und Alt

Das Lied des Stars
0

Der Star macht sich auf, über all das Schöne zu singen, das er sieht, seine Freude daran weiterzutragen. Alle sollen es wissen. Und tatsächlich hören die anderen Tiere seinen bezaubernden Gesang, sein ...

Der Star macht sich auf, über all das Schöne zu singen, das er sieht, seine Freude daran weiterzutragen. Alle sollen es wissen. Und tatsächlich hören die anderen Tiere seinen bezaubernden Gesang, sein Jubilieren, und sie erzählen dem Star von der Schönheit ihrer eigenen Welt, und so wächst das Lied und verlässt die persönliche Ebene des Vogels. Eine poetische Hymne auf das Leben entsteht, eine zarte Melodie, die die Lesenden gefangen nimmt und dazu einlädt, eigene Gedanken hinzuzufügen.

Octavie Wolters Liebesbrief für Jung und Alt wird auf außergewöhnlich schöne Weise vom Design des Buches gestützt und so wundert es mich nicht, dass dieser literarische Schatz von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher des Jahres gekürt wurde. Ich darf euch als Botschafterin zwei der ausgezeichneten Bücher vorstellen und freue mich sehr über dieses Privileg, das ich mit wirklich großartigen Buchmenschen teile.

„Das Lied des Stars“ ist ein großformatiges Bilderbuch, das mit seinem robusten, etwas rauen Pappeinband aus der Masse hervorsticht. Die gelb kolorierten Details des Vogels heben sich deutlich ab und signalisieren „hier bin ich, schau mich an!“. Und dieser Aufforderung leistet man nur zu gerne Folge, weshalb ich mich auf Anhieb für die Vorstellung dieses Buches entschieden habe. Die Illustrationen der Schriftstellerin zum Text strecken sich großzügig über die Doppelseiten und sind in Schwarz und Weiß gehalten (bis auf Schnabel und Beine des kleinen Poeten natürlich, die blitzen weiterhin fröhlich gelb auf). Die Grafiken sind nicht überfrachtet und doch sehr ausdrucksstark, scheinen sich dem Betrachter beim Umblättern entgegen zu wölben und ein Eigenleben zu entwickeln. Die Künstlerin hat sich für die Technik des Linolschnitts entschieden, für das faszinierende Spiel mit den Gegensätzen Hell und Dunkel als Kontrast zu der bunten Vielfalt unserer Welt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Von der Brüchigkeit des Glücks

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
0

Ein junges Mädchen, das sich und seine Bedürfnisse zurückstellt, um die der kleinen Schwester aufzufangen. Ein abwesender Vater. Eine Mutter, die nicht in der Lage ist, die Familie zusammenzuhalten, Sicherheit ...

Ein junges Mädchen, das sich und seine Bedürfnisse zurückstellt, um die der kleinen Schwester aufzufangen. Ein abwesender Vater. Eine Mutter, die nicht in der Lage ist, die Familie zusammenzuhalten, Sicherheit zu bieten. Liebe und Verlust. Woran erinnert uns der Plot noch gleich? Natürlich, ihr wisst es alle, an Caroline Wahls „22 Bahnen“. Schnell drängt sich der Vergleich beider Debüts auf und mich dünkt, nicht bloß Schwimmbad-Cover trenden in diesem Jahr ganz gewaltig, sondern auch Geschichten über vernachlässigte Mädchen, über Schwesternschaft und weibliche Selbstermächtigung. Umgesetzt sind beide Romane allerdings ziemlich unterschiedlich und ich bin definitiv Team Dini und Katha (sorry, Ida und Tilda, geht nicht gegen euch persönlich).

Ich habe „ATDWVDWDS“ gerade zugeschlagen, mich in eine Decke gekuschelt (ja, im August) und so traurig-melancholisch-froh gefühlt, kennt ihr das? Ich geb’s offen zu, ich dachte zuletzt, Bücher, geschrieben von jüngeren Menschen als ich es bin über deutlich jüngere Menschen als ich es bin, sind einfach nix mehr für mich. Ich bin rausgewachsen, kann mich nicht mehr (und noch nicht wieder) mit den jungen Leuten und den Nöten ihrer Zeit identifizieren. Klingt irgendwie bekloppt, aber dachte ich halt. Hab mich geirrt. Auch dieses abgehärtete Herz ist nicht gefeit vor solch rohen Worten, so starken Bildern wie Sina Scherzant sie direkt über mir ausgeschüttet hat. Hier, nimm und fühl, du alte Schachtel. Vor einer so intensiven, kraftvollen Stimme, vibrierend und summend, anders kann ich es nicht beschreiben. Die Geschichte tastet die fragilen Grenzen zwischen den Menschen und der Welt ab, die Brüchigkeit des Glücks; sie lebt, wächst und atmet und man hält selbst die Luft an, möchte keine Regung verpassen und spürt genau, all das ist echt. Sie erzählt von den Spuren, die manche Begegnungen in uns hinterlassen, von Ellenbogen, die sich miteinander verhaken, statt gegeneinander zu stoßen. Aber bitte lest einfach selbst.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Etwas geht heute zu Ende, etwas liegt in der Luft...

Seemann vom Siebener
0

Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. ...

Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. Als das Becken schon leer war oder beinahe leer, eine Pfütze war noch drin, aber die half auch nichts mehr. Doch heute erinnert, abgesehen vom „Nicht Betreten“-Schild und Bademeister Kiontkes inneren Dämonen, nichts mehr an die Tragödie von damals, heute ist ein strahlender Sommertag und Ottersweilers Freibad dementsprechend voll. Und genau heute steht dieses seltsam aussehende Mädchen oben auf ebenjenem Sprungbrett, ganz still steht sie da, stolz und erhaben, wie auf dem Dach der Welt. Bereit zum Absprung.

„Das Mädchen breitet die Arme aus. Und plötzlich scheint es dem Kiontke, als hätten Teile eines Mobiles sich um eine unsichtbare Achse sanft im Kreis gedreht, all die Jahre, den ganzen Tag, um genau jetzt, in diesem Moment, zur Ruhe zu kommen. Ein Stillstand, der auf eigentümliche Weise ein Bild und einen Sinn ergibt, den der Kiontke nicht ergründen kann. (…) Kiontke lässt das Megaphon sinken und den Dingen ihren Lauf.“ S. 233/234

Etwas geht heute zu Ende, unwiederbringlich, und gleichzeitig liegt etwas Neues in der Luft, das spüren sie alle. Isobel Trautheimer, die etwas wunderliche, betagte Lateinlehrerin des Dorfes unter der Linde liegend, wo sie selig vergangenen Zeiten nachlauscht, Renate in ihrem kleinen Kassenhäuschen, die Nase wie immer in einem Kreuzworträtsel, Lenny und Joe am Grund des Beckens sitzend, der Gegenwart entrückt, einander und sich selbst irgendwo abhandengekommen und nicht wissend, wohin mit dieser inneren Leere, der verpassten Chance. Wie ein Mosaik setzt sich aus all den Lebensgeschichten, die hier und heute zusammenfinden, ein melancholisch-beglückendes Bild zusammen, ein aus sämtlichen Schicksalen komprimiertes Gefühl des leisen Aufbruchs. Arno Frank erzählt humorvoll und feinfühlig von den Menschen, ihren Sehnsüchten und Irrungen, von ernsten Untertönen in einer sonnenbeschienen Welt. Ein leichtfüßiger Roman mit Tiefgang, herrlich pfälzischem Lokalkolorit und viel Herz für seine Figuren, den ich in einem Rutsch inhaliert habe.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein betörender Traum

Die Gouvernanten
0

Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, ...

Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, einmal hier, einmal da, und schon ist es wieder verschwunden. Ich reibe mir die Augen, schaue durch halb geschlossene Lider genauer hin. Sieh doch, da galoppieren sie durchs Unterholz, das lange Haar wehend, die strengen Netze zu Boden geworfen, die roten Röcke wild umher schwingend. Sie sind es, die Gouvernanten, Inès, Laura und Éléonore, Herrscherinnen ihrer kleinen, abgeschiedenen Welt hinter den goldenen Toren. Diese verlassen sie niemals, doch innerhalb der Mauern regieren sie über alles, nehmen sich, was immer ihnen beliebt, koste es, was es wolle. Hier gelten ihre Regeln. Und auf die Jungen passen sie natürlich auf, am Tage! Welche Jungen, fragst du? Na, die von Monsieur und Madame Austeur, der Familie, die hier lebt. Klein und groß jagen sie den Reifen hinterher, geraten ganz aus der Puste und kehren dann zu ihren Gouvernanten zurück, den Blick vertrauensvoll auf diese gerichtet, bei den Älteren sehe ich eine Ahnung ersten Verlangens darin, ein sehnsüchtiges Brennen. Und wer kann sie ihnen verübeln, diese totale Verzückung? „Hier nahte das Leben (…) und mit ihnen eine Fülle von Erinnerungen und Wünschen, eine Menge von Unbekannten, die an ihren Träumen hingen, ihre zukünftigen Kinder, ihre künftigen Liebsten, die endlose Kohorte ihrer Vorfahren, die Bücher, die sie gelesen, die Blumen, deren Duft sie eingesogen hatten.“ (S. 32)

Ungläubig und ein wenig neidisch beobachte ich das unbändige Treiben jener jungen Frauen, ihre reine Freude an der Unvernunft, ihr hungriges Verlangen, das im starken Kontrast zu ihrer bescheidenen Aufgabe, ihrer sittsamen Rolle in der Gesellschaft steht. Gleich dem greisen Herrn mit dem Fernrohr bin ich eine neugierige Voyeuristin, kann mich dem, was sich vor meinen Augen abspielt, dieser surrealen Szenerie nicht entziehen. Ein so kraftvolles wie zartes, fiebriges Märchen voll Poesie und Phantasie, ein sinnliches Spiel mit den verschwommenen Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, das mich bezaubert und betört hat.

Anne Serres eleganter Roman ist eine wirklich aufregende Neuentdeckung des Berenberg Verlags. Die Originalausgabe „Les Gouvernantes“ erschien bereits 1992 in Frankreich, 2021 folgte eine leicht veränderte Ausgabe, der diese hervorragende Übersetzung von Patricia Klobusicky folgt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere