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Veröffentlicht am 26.04.2024

Vom Wagnis eines alternativen Lebens

Was in zwei Koffer passt
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Hände hoch, wer geht heute in die Kirche? Ich nicht. Ich stamme aus einem atheistischen Elternhaus und meine erheblichen Zweifel bezüglich der Institution Kirche an sich werden mich vermutlich auch in ...

Hände hoch, wer geht heute in die Kirche? Ich nicht. Ich stamme aus einem atheistischen Elternhaus und meine erheblichen Zweifel bezüglich der Institution Kirche an sich werden mich vermutlich auch in Zukunft davon abhalten. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen; ich neide allen Gläubigen ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Das fehlt mir. Vielleicht lebe ich deshalb immer noch in meinem Geburtsort und lese besonders gerne Geschichten, die sich in einem Mikrokosmos abspielen, in einem Dorf, auf einem Bauernhof oder eben in einem Kloster.

Mit 21 Jahren beschliesst Veronika Peters, Nonne zu werden. Dabei ist es weniger ihr starke Glaube, der diesen Entschluss untermauert, als der Wunsch nach gelebter Spiritualität, klarer Struktur. Einer erfüllenderen Lebensform jenseits kapitalistischer Werte und gesellschaftlicher Normen. Mit zwei Koffern in den Händen und einem mulmigen Gefühl im Bauch lässt die junge Frau ihr altes Leben hinter sich und zieht in ein benediktinisches Kloster. In klarer Sprache schildert Peters in diesem autobiographischen Bericht ihre persönliche Entwicklung während der nun folgenden 12 Klosterjahre, die äußeren und ganz besonders die in ihrem Inneren. Erzählt frei heraus von ihrem neuen Alltag mit all seinen Herausforderungen, von den Höhen und Tiefen, der stillen Freude am Miteinander, den leisen Zweifeln, die immer wieder aufkommen. Und von den großartigen Frauen, denen sie dort begegnet, und die außerhalb des Klosters in einem grotesk verzerrten Licht wahrgenommen werden. Diesen hartnäckigen Klischees stellt die Autorin einen verblüffend ehrlichen Text entgegen, der kein Glaubensbekenntnis ist oder sein möchte, sondern schlicht vom Wagnis eines alternativen Lebens erzählen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Geniales Verwirrspiel

The Shards
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„The Shards“ war mein erstes Buch von Bret Easton Ellis und ich fand es – vielleicht genau deswegen – absolut großartig. Der Sound der 80er-Jahre in L.A. hat mich förmlich durchdrungen, diese Welt der ...

„The Shards“ war mein erstes Buch von Bret Easton Ellis und ich fand es – vielleicht genau deswegen – absolut großartig. Der Sound der 80er-Jahre in L.A. hat mich förmlich durchdrungen, diese Welt der reichen, verwöhnten und zumeist tödlich gelangweilten Kids, die sich Drogen wie Bonbons reinschmeißen und einfach treiben lassen. Vor ihnen, einer müden Verheißung gleich, die sichere Zukunft, eingemeißelt von Papis Geld und Einfluss. Bret heißt der Protagonist und das ist natürlich kein Zufall. Ellis jongliert hier gekonnt mit Phantasie und Wahrheit, lässt eigene Erfahrungen in den Plot einfließen während anderes ganz klar fiktiv ist und spielt so ein geniales Verwirrspiel mit den Lesenden. Bret ist 17 im diesem Sommer 1981 und in der Abschlussklasse der Highschool. Er gehört zu einer festen Clique, zu den coolsten, schönsten Kids und sieht dem letzten Schuljahr mit entspannter Gelassenheit entgegen, alles ist scheinbar bereits gelaufen und entschieden. Doch dann kommt überraschend ein neuer Junge in seine Klasse und die Dynamiken verschieben sich, Robert wird Teil der Gruppe und scheint die Freunde zu manipulieren, Spielchen zu spielen. Bret allein zweifelt Roberts gute Absichten, dessen Ehrlich- und Vertrauenswürdigkeit an und als ein Serienmörder im direkten Umfeld der Jugendlichen sein Unwesen zu treiben beginnt, nimmt ein Drama seinen Lauf, das wie ein Sturm über sie alle hinwegfegt und der Zeit jegliche Unschuld raubt.

Ich kenne natürlich den Film „American Psycho“ und (ohne viel Spoilern zu wollen) kann ich doch sagen, dass es gewisse Parallelen gibt. Ein Hang zur Grausamkeit und sehr explizite Sexszenen scheinen zu Ellis‘ Repertoire zu gehören, ebenso wie das Spiel mit der eigenen Wahrnehmung und das Einsetzen einer unzuverlässigen Erzählstimme. Dass der Autor in seinem neuen Roman nicht das eigene (literarische) Rad neu erfunden hat, ist klar, schaut man sich die Themen seiner Frühwerke an. Doch Ellis’ genaue Beobachtungsgabe, sein Talent winzige Details herauszuarbeiten, zu einem Ganzen zusammenzufügen und unterschwellige Spannung zu erzeugen sind beeindruckend. Für mich als Neuling eine höchst reizvolle, faszinierende Mischung, daher eine klare Leseempfehlung für diesen Pageturner.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein feiner Riss

Solange wir schwimmen
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Solange wir schwimmen ist es nur ein hauchfeiner Riss. Eine zarte, im bewegten Wasser fast unsichtbare Linie am Ende von Bahn vier, eine winzige Anomalie in der Atmosphäre. Solange wir schwimmen wissen ...

Solange wir schwimmen ist es nur ein hauchfeiner Riss. Eine zarte, im bewegten Wasser fast unsichtbare Linie am Ende von Bahn vier, eine winzige Anomalie in der Atmosphäre. Solange wir schwimmen wissen wir genau, was zu tun ist: eintauchen, kraftvoll das Wasser durchstoßen, auftauchen, Luft holen. Solange wir schwimmen ist nebensächlich, wer wir da draußen sind, im echten Leben. Solange wir schwimmen ist es nur ein verirrter Cremetiegel im Gefrierschrank, ein plötzlich abwesend werdender Blick, ein irritierender Moment, bevor deine Stimme zu ihr durchdringt und die vertrauten Züge annimmt. Solange wir schwimmen ist Alice noch Alice, ist Alice deine Mutter und noch da, kannst du sie noch ein wenig festhalten.

Ich habe vor zehn Jahren Julie Otsukas „Wovon wir träumten“ gelesen und dieses eindrückliche, originelle Buch über die Sehnsüchte, Hoffnungen und den Schmerz junger Japanerinnen in den USA sehr geliebt und nie vergessen. In ihrem neuen Roman widmet die Autorin sich erneut einem sehr persönlichen, wenn auch gegenwärtigerem Thema, dem der Demenz, des leisen Verschwindens eines Menschen. Wie schon damals eröffnet die Autorin einen vielstimmigen Kanon mit ihrer ungewöhnlichen Wahl der Wir-Erzählperspektive sowie dem Stilmittel der Repetition, der steten Wiederholung. Die lyrische Sprache, gleichsam monoton wie dringlich, treibt den Plot schnell voran, die kurzen Sätze geben einen meditativen Rhythmus vor. Ein sehr berührendes, besonderes Leseerlebnis und eine große Empfehlung von mir.

„Und nachdem sie ihre letzte Bahn geschwommen ist, geht sie in der Umkleide lange und heiß duschen, zieht sich an, steigt die Treppen hinauf und tritt, blinzelnd und staunend, hinaus in die gleißend helle Welt oben.“ S. 69

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Zwischentöne, wo sie schwer zu begreifen sind

V13
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Am Freitag, dem 13. November 2015, wurden bei mehreren, koordinierten Selbstmord-Attentaten in Paris 130 Menschen getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt. Der Islamische Staat bekannte sich ...

Am Freitag, dem 13. November 2015, wurden bei mehreren, koordinierten Selbstmord-Attentaten in Paris 130 Menschen getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt. Der Islamische Staat bekannte sich zu den Terroranschlägen, unter der Bezeichnung „V13“, vendredi 13, wurde den überlebenden, mutmaßlichen (Mit)Tätern 2021 der Prozess gemacht. Ein beispielloser Jahrhundertprozess begann, der fast ein Jahr dauern würde und das nationale Trauma heilen sollte, wenigstens ein bisschen.

Emmanuel Carrère, Journalist und Autor, hat die Gerichtsverhandlung verfolgt und ein starkes Porträt derselben verfasst, ein Plädoyer für die Aussöhnung mit dem Undenkbaren, eine Darstellung fern trockener Berichterstattung mit intimen Einblicken in zutiefst erschütternde Lebensgeschichten, sowohl auf Seiten der Opfer als auch der Täter. Es ist genau dieser Raum für Zwischentöne, der mich für sich einnahm und berührte, der mir so oft und so schmerzhaft fehlt dieser Tage. Zwischentöne, die es doch überall gibt und erlaubt sind, es dringend sein müssen. Denn neben der offensichtlichen Grausamkeit der Tat, offenbaren sich auch hier Momente großer Menschlichkeit wie kleine Lichter in der Dunkelheit, zeigt sich Hoffnung, wo sie kaum zu erwarten ist.

Das war ein ziemliches Gefühlskarussell! Anfangs die Sorge, ein solches Buch könnte Kluften vertiefen, vielleicht sogar Hass schüren auf die muslimische Bevölkerung, Öl ins immer höher wachsende Feuer der Fremdenfeindlichkeit gießen. Dann Wut auf diese radikalisierten Menschen, die eine Religion in den Dreck ziehen und im Namen dieser mit einem Lachen im Gesicht und reinem Herzen morden. Wut auch auf den Hochmut der westlichen Welt, auf Regierungen, die Krieg führen, immer wieder, die meinen, andere Teile der Welt verbessern und Menschen retten zu können, und am Ende geht es doch nur um Macht und Geld, um niedere Beweggründe. Erschütterung über die Schicksale der Beteiligten, die schlicht unvorstellbaren Schilderungen der Ereignisse. Trauer. Ermüdung. Das Gefühl, eine Voyeuristin zu sein, mich derart fesseln zu lassen von der Tragödie anderer. Und: Versöhnung, tatsächlich. Überraschend. Beglückend. Eine erhellende, bewegende Lektüre und ein literarisches Zeugnis unserer zerrütteten Zeit.

Übersetzt von Claudia Hamm.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Strudel der Emotionen

Meine Männer
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Norwegen, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die junge Brynhild wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. In dem schönen Mädchen mit den strahlend blauen Augen brodelt eine kaum zu bändigende Leidenschaft, die ...

Norwegen, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die junge Brynhild wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. In dem schönen Mädchen mit den strahlend blauen Augen brodelt eine kaum zu bändigende Leidenschaft, die glühende Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes. Ihre Anstellung als Magd auf einem Bauernhof und die Liaison mit dem Erben endet tief traumatisch und sät einen zerstörerischen Keim in der 17jährigen, den sie nicht mehr loswerden wird. Einer Flucht gleich verschlägt es Brynhild nach Amerika, das Land der vielen Möglichkeiten, sie heiratet einen guten Mann, baut sich eine Familie auf, kann den Schein des bürgerlichen Lebens auch für sich selbst wahren, zu Beginn. Doch das dunkle Wesen in Bella, wie sie sich jetzt nennt, lässt sich nicht fesseln, zu stark wuchert bereits die feste Gewissheit in ihrem Inneren, unzulänglich zu sein und wahrer Liebe, echten Glücks nicht wert. „Bedingungslose Liebe existierte nicht. Alles hatte Forderungen und Grenzen, alles hatte Formen, die irgendwann barsten und brachen (…) und jetzt wartete Bella auf das Zurückweichen von allem anderen, den unsichtbaren Verrat, auf Mads' eigentliches Gesicht.“ (S. 75) Kinder sterben, das war damals nicht unüblich, dann sterben die Männer in ihrem Umfeld. Erst Mads, dann auch Peder, Ehemann Nr. 2. Über Kontaktanzeigen finden sich immer neue Männer, die bereit sind, all ihr Hab und Gut gleich mitzubringen, gutgläubige Männer, die lieben und vertrauen möchten - und Bella möchte es ja auch, sie glaubt ganz fest daran, dieses mal wird es klappen - und ihr Verderben in den Armen einer zutiefst gebrochenen Frau finden.

Was für ein Buch, was für eine übersprudelnde, pulsierende Sprache, welch eine literarische Entdeckung! Victoria Kielland hat mit „Meine Männer“ ein großes Highlight für mich vorgelegt und nicht nur für mich. Ausgezeichnet mit verschiedenen norwegischen Preisen hat der Roman seinen Weg in die Welt bereits gefunden, der Tropen Verlag hat ihn nicht weniger preisverdächtig von Elke Ranzinger ins Deutsche übersetzen lassen. Lest dieses Buch, wenn ihr euch von der klassischen Erzählform lösen und auf etwas Unkonventionelles einlassen, in einer sinnlich-poetischen Sprache verlieren mögt, die vieles andeutet und der eigenen Phantasie überlässt. Taucht tief ein in einen Strudel der Emotionen, in die aufgewühlte Psyche der „Schwarzen Witwe“, Amerikas erster Serienmörderin.

„Da saß Belle mit ihren winzigen Bewegungen, - ich sehne mich danach, dich kennenzulernen. Ein Schaudern durchfuhr sie. Mal um Mal glitt die Zunge über einen neuen Umschlag, Zittern, das Stück flehende Haut, das sich nur an sie lehnen wollte. Die Zunge leckte den letzten Rand, sie spürte in sich Gottes Licht, das schwache Wogen, für das es keine Worte gab. Die Wahrheit war stark wie die Lüge, sie wusste nicht mehr, wo das eine begann und das andere aufhörte, das Gefühl war jedes Mal gleich heftig, die Wärme in der Brust, ihre Sätze auf dem Papier, der Beckenkamm am Hüftgelenk, - es gibt keine glücklichere Frau als mich jetzt.“ S.157

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