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Veröffentlicht am 26.04.2024

Das Denkmal einer tüchtigen, einfachen Frau

Die Hebamme
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Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst ...

Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst so nah wie nie gefühlt habe, verletzlich, fast roh, dabei so stark und unangreifbar. Es erscheint mir jedes Mal aufs Neue wie ein großes Wunder, macht mich ehrfürchtig, zu erleben, wie wir Frauen Leben schaffen, wie zutiefst archaisch eine Geburt ist, was für eine unfassbare Naturgewalt. Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod sein kann, auch heute noch, trotz modernster Medizin und Technik, trotz unseres Gefühls, alles in der Hand zu haben und kontrollieren zu können, ist mir dabei sehr bewusst. Marta Kristine Andersdatter Nesje wusste das ganz genau. Sie war vor 200 Jahren eine der ersten Hebammen Norwegens, eine Pionierin, unbestreitbar, ausgestattet lediglich mit ein paar wenigen Utensilien, einer kurzen Ausbildung und ihrer Intuition - und einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft. Edvard Hoem hat dem Leben seiner Ururgroßmutter mit „Die Hebamme“ einen literarischen Rahmen gegeben, dieser so einfachen wie eindrucksvollen Frau ein angemessenes Denkmal gesetzt. Nicht stattlich und prunkvoll, nein, bodenständig ist dieser Roman, besonnen und bedächtig, feinfühlig und klug. Denn es lohnt sich bisweilen zurückzuschauen, nicht nur nach vorne zu preschen, innezuhalten, zu lauschen, zu fühlen. Es steckt eine Weisheit in dem alten Wissen, eine Sicherheit im Handeln, die ich heute manchmal schmerzlich vermisse. Eine Ruhe in ehrlicher, tüchtiger Arbeit, dem einfachen Leben, die mich anrührt. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

ein Buch, das im wahrsten Sinne des Wortes neue Türen öffnet

Unser Teil der Nacht
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Von diesem aufregenden Buch möchte ich euch unbedingt erzählen, möchte versuchen meine große Begeisterung für diese so grausame wie zärtliche Geschichte zu teilen, in der Licht und Dunkelheit empfindlich ...

Von diesem aufregenden Buch möchte ich euch unbedingt erzählen, möchte versuchen meine große Begeisterung für diese so grausame wie zärtliche Geschichte zu teilen, in der Licht und Dunkelheit empfindlich nah beieinander liegen, die Grenzen des Möglichen komplett gesprengt werden. Entlang 40 Jahren argentinischer Geschichte, der von Unruhen und Extremen geprägten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erzählt Mariana Enriquez die Geschichte der wohlhabenden, matriarchalisch geprägten Familie Reyes Bradford, die all ihre Macht, ihren Einfluss geltend macht, um ihre dunklen Machenschaften zu vertuschen. Juan, als Junge adoptiert und das Medium des geheimen Ordens, versucht verzweifelt und mit allen Mitteln, seinen Sohn Gaspard vor demselben Schicksal zu beschützen, der Familie und ihrem zerstörerischen Bann zu entkommen.

Ich bin der Geschichte bedingungslos gefolgt, fast wie in Trance, hab mich in die Tiefen des Okkultismus führen lassen, in eine Welt der Finsternis, schwarzer Magie, der unseren nur scheinbar fern. Folgte Gaspard, sah ihn erwachsen werden, baute eine Bindung auf, die die Lesezeit überdauern wird. Die klug inszenierten unterschiedlichen Zeitebenen setzen die Handlung anschaulich in den historischen Kontext, nach und nach schärft sich das Bild, rückt jedes Puzzleteil an seinen Platz.

„Unser Teil der Nacht“ besitzt eine poetische Kraft, deren Sog sich zu entziehen schier unmöglich ist, die vergessen lässt, was Realität und was Fiktion ist, im wahrsten Sinne des Wortes neue Türen öffnet. Ein eindringliches literarisches Werk, das bleiben wird, im Kopf, im Herz, im Bauch, im Bücherregal, und das es an Intensität für mich mit Yanigaharas „Ein wenig Leben“ aufnehmen kann.

Aus dem Spanischen von Silke Kleemann und Inka Marter.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein sprachgewaltiges Debüt

Wir leben hier, seit wir geboren sind
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„Ihr Tod ist eine Bruchkante. Die Vergangenheit ist ins Tal gerutscht, die Gegenwart ein messerscharfer Grat, auf dem niemand Halt findet, kein Hund, kein Mensch, kein Maultier. Wir können hier nicht bleiben.“ ...

„Ihr Tod ist eine Bruchkante. Die Vergangenheit ist ins Tal gerutscht, die Gegenwart ein messerscharfer Grat, auf dem niemand Halt findet, kein Hund, kein Mensch, kein Maultier. Wir können hier nicht bleiben.“ S. 129

Fünf Mädchen wachsen in einem entlegenen, aus der Zeit gefallenen Dorf auf, das vom Kalkabbau lebt. Noch verbringen sie die Tage gemeinsam, zärtlich und neckisch im Spiel, doch schon bald werden sie ihren Müttern folgen, die ihren Müttern folgten; werden Frauen mit gesenkten Blicken, die sich jeden Morgen sorgsam wieder zusammensetzen, die Risse der Nacht vom Scheitel bis zur Scham kitten und die Spuren der Ehemänner auf ihren Körpern, in ihren Augen beseitigen, so gut es geht. Als ein junger Mann von außerhalb damit beauftragt wird, über die weitere Notwendigkeit des Steinbruchs und damit ihrer aller Zukunft zu entscheiden, beginnt das bisher starre Mobilé der Autoritäten zu schwanken, brechen alte Strukturen auf und die Dorfgemeinschaft unaufhaltsam in sich zusammen.

„Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen“, schreibt Ernaux in „Erinnerung eines Mädchens“. Andreas Moster stellt diesen Männern all jene Mädchen entgegen, die ihre Stimme erheben und anklagen, jeden Tag, die irgendwo auf der Welt aufstehen und gehen. Mit wenigen poetischen Worten gelingt es dem Autor eine Geschichte von universeller Gültigkeit zu erzählen, vom Ende einer archaischen Ordnung und dem Mut zur Freiheit. Ein sprachgewaltiges Debüt (wirklich kaum zu glauben), das durchrüttelt und bewegt, dem eine große Sinnlichkeit und Schönheit innewohnt. Ein Highlight und von mir eine besondere Empfehlung für Fans von Irene Solà und Nell Leyshon.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Die pralle, verrückte, wunderbare Fülle des Seins

Atlas unserer spektakulären Körper
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Ihr kennt sie alle, diese Geschichten, die recht harmlos beginnen und enden wie ein Paukenschlag, einen auf die wunderbarste Art gebrochen zurück lassen. So ein Buch war Maddie Mortimers „Atlas unserer ...

Ihr kennt sie alle, diese Geschichten, die recht harmlos beginnen und enden wie ein Paukenschlag, einen auf die wunderbarste Art gebrochen zurück lassen. So ein Buch war Maddie Mortimers „Atlas unserer spektakulären Körper“ für mich. Hochgelobt von ziemlich ausnahmslos allen, dachte ich bis zur Mitte noch „ja, das ist schon gut, aber nun auch kein Highlight, kein Herzensbuch“, nur um am Ende festzustellen, dass es genau das geworden ist.

Wir lernen Anne kennen, ihre Tochter Lia und deren Tochter Iris - und den Krebs, der neugierig durch Lias Körper wandert, zärtlich jeden Winkel erkundet und sich langsam ausbreitet. Der Autorin ist hier etwas wirklich Außergewöhnliches geglückt. Sie hat einer fiesen Krankheit eine Stimme gegeben, die gar nicht so fies, sondern vergnügt und fast sympathisch ist, mit Sinn für Humor und unserem Wesen, unseren Zellen gar nicht unähnlich. Höchst poetisch und mit großer Fantasie und Lust am Fabulieren, am Experimentieren erweckt Mortimer dieses Schreckgespenst zum Leben, lässt Verletzungen und Kummer, Liebe und Glück, die pralle, verrückte, wunderbare Fülle des Seins über die Seiten und darüber hinaus bis direkt in mein Herz purzeln.

Ich denke an meine verstorbene Mutter, sehe meine zauberhaften Töchter, und ganz deutlich spüre ich diese intensive Verbindung zur Welt, zum Universum, die Schönheit des Augenblicks, des Lebens im Angesicht des Todes und bin seltsam tief getröstet.

„Und genau dort wollte ich Iris am Ende des Romans haben: Sie sitzt am Küchentisch, das Gesicht der Morgensonne zugewandt, und erlebt keine »große Offenbarung«, aber ihr wird die Chance gegeben, daran zu glauben, dass es sie gab, wie Woolf es so treffend formulierte: »kleine tägliche Wunder, Erleuchtungen, unerwartet im Dunkeln entzündete Hölzchen; hier war eines davon.«“

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Schmerzhafte Veränderungen aufs Lässigste verhandelt

Wald
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Marian ist ganz unten angekommen. Die ehemals erfolgreiche Modedesignerin hat alles verloren, mit der Bankenkrise und daraufhin ausbleibenden Kundschaft fing es an, falsche Entscheidungen und irrwitzige ...

Marian ist ganz unten angekommen. Die ehemals erfolgreiche Modedesignerin hat alles verloren, mit der Bankenkrise und daraufhin ausbleibenden Kundschaft fing es an, falsche Entscheidungen und irrwitzige Investitionen folgten und am Ende - der freie Fall, ohne Netz und doppelten Boden. Aufgeschlagen ist die Wienerin auf dem Land, in dem geerbten Häuschen ihrer verstorbenen Tante, das Marian in einem überaus klarsichtigen Moment ihrer Tochter Kim überschrieben hat. Hier darf sie bleiben, hier ist sie sicher, zumindest vor den Banken und Gläubigern. Wovor sie nicht fliehen kann, sind ihre Gedanken, und die sind trübe in diesem ersten Winter im Wald, das erfahren wir in Rückblenden; lernen die unabhängige Marian kennen, das gute Leben in Saus und Braus, als sie noch wer war, etwas zählte. Damit ist es nun vorbei, Ende, aus, Feierabend. Mit dem Geld und der Reputation sind auch die Freunde weg, die romantischen Liebschaften mit geistreichen Männern, Vergangenheit, stattdessen ist da Franz, Herr über die Ländereien, solide und bodenständig, einer, dessen Handschlag etwas wert ist, und bald das kleine Wörtchen HUR an Marians Tür.

Wie Marian die schmerzhaften Veränderungen reflektiert, Beziehungen und deren Motive verhandelt und sich das kleine, störrische Stückchen Land zum Freund macht, es erobert wie sie auch ihr eigenes Leben, ihren Stolz zurückerobert ist ein wahrer Lesegenuss. Was für ein tolles Buch, was für eine genial lässige Sprache, was für kluge Gedanken! Ich bin restlos begeistert (ihr merkt’s vielleicht) von meiner ersten Doris Knecht-Erfahrung (btw eins der schönsten Cover ever) und lege „Die Nachricht“ direkt mal ganz nach oben auf meinen Lesestapel.

„Und das war ihr schon auch bewusst, das war ihr klar, dass es hier in erster Linie darum ging, satt zu werden, und sie dachte in diesen ersten Wochen mit Franz viel nach. Über Abhängigkeiten und Verträge, über Selbstaufgabe, über den Preis eines Menschen und darüber, was man so wert war. Was sie so wert war. Wie viel sie bereit war zu zahlen und in welcher Währung.“ S. 204

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