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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman aus dem viktorianischen England

Lily
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Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, ...

Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, aber bald, das ist der jungen Frau klar, bald wird die gerechte Strafe sie ereilen. Zwischen ihr und dem Gesetz steht lediglich Sam Trench, der Mann der sie damals fand, als Baby von der eigenen Mutter in einem Londoner Park ausgesetzt, mitten im Winter, und der sie nie vergessen konnte, nie ganz aus den Augen verlor. Nicht bei den Pflegeeltern, die sie wie eine eigene Tochter liebten, nicht in den darauffolgenden, von Hoffnungslosigkeit und Verlustgefühlen geprägten, Jahren im Findelhaus, nicht als sie den Weg einer Perückenmacherin einschlägt, ihr Leben endlich in sicherere Bahnen leiten kann. Könnte, wäre da nicht dieser unbändige Wunsch nach Rache - und das Verlangen nach Sam, nach einem gemeinsamen Leben mit diesem aufrechten Mann, dessen Integrität und Überzeugungen durch beider Anziehungskraft auf eine harte Probe gestellt werden.

Ich habe als Jugendliche bereits sehr gerne klassische, englische Romane gelesen, Waisenmädchen hatten es mir damals schon angetan und ganz besonders Waisenmädchen im viktorianischen Zeitalter. „Sara, die kleine Prinzessin“ und „Jane Eyre“ ließen mich mitfühlen, bangen und hoffen wie kaum eine andere Geschichte, eine andere Protagonistin. Rose Tremains „Lily“ ist reifer, erwachsener, weniger illusorisch (oder habe bloß ich mich verändert?), und schlägt doch mitten hinein in diese Kerbe, holt Erinnerungen an diese besonderen Leseeefahrungen zurück, die fast körperlich waren, so intensiv litt ich mit den Mädchen, fühlte die Dunkelheit, die sie umgab, die Grausamkeiten, die sie erfuhren, aber auch das köstliche Glück reiner Herzensgüte, die Kraft wahrer Freundschaft. Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman mit einer Heldin, die man fest ins Herz schließen muss - perfekt für die dunklere Jahreszeit und eine große Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Protagonistin, die mir im Herzen bleiben wird

Robinsons Tochter
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Polly Flint ist sechs Jahre alt als es die Vollwaise Anfang des 20. Jahrhunderts ins gelbe Haus ihrer beiden frommen Tanten spült, die englische Marschlandschaft ist noch fast gänzlich unberührt, erst ...

Polly Flint ist sechs Jahre alt als es die Vollwaise Anfang des 20. Jahrhunderts ins gelbe Haus ihrer beiden frommen Tanten spült, die englische Marschlandschaft ist noch fast gänzlich unberührt, erst die folgenden Jahrzehnte werden sie verändern und Polly ebenso. Das kluge Mädchen liebt seine Tanten und wird zurückgemocht, welch ein Glück, doch das eintönige, gottesfürchtige Leben behagt ihm kaum, da ist doch viel mehr zu entdecken, da muss doch mehr sein, in dieser weiten Welt. Einzig die umfangreiche Bibliothek bietet Polly Zugang zu dieser und ein Buch, eine Figur wird ihr ganz besonderer Freund. Kriege werden geführt, Menschen werden ins gelbe Haus herein und wieder hinaus geweht, leben, lieben und sterben, unstetig wie Hälmchen im Wind, doch wie ein Leuchtturm weist Robinson Crusoe dem Mädchen mit seinem Mut und unerschütterlichen Optimismus den Weg durch Jahre der Turbulenzen und Erschütterungen, bleibt eng an dessen Seite, so lange es nötig ist.

Ein so schönes Buch. Eine Geschichte, die mich im Mittelteil etwas auf die Probe gestellt und dann im letzten Drittel all ihren Zauber entfaltet hat, mit einer liebenswerten Protagonistin, die mir im Herzen bleiben wird. Eine Hommage an die Literatur und das Leben mit all seinen verschlungenen Pfaden, ich schließe das Buch mit einem wehmütigen Ziehen im Bauch und denke, so möchte ich auch einmal auf mein Leben zurückblicken, mit so viel Ruhe und Gelassenheit.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Unterhaltsames Sommerbuch mit tiefem Abgrund

Die spürst du nicht
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Familie Strobl-Marinek aus Wien nimmt zur Beschäftigung von Teenie-Töchterchen Sophie Luise das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana mit in den Urlaub. Die Arme soll auch mal Spaß haben, das sicherlich ...

Familie Strobl-Marinek aus Wien nimmt zur Beschäftigung von Teenie-Töchterchen Sophie Luise das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana mit in den Urlaub. Die Arme soll auch mal Spaß haben, das sicherlich verhasste Kopftuch (und damit auch gleich die verhuschte Art) ablegen, sich aus den Fängen des älteren, machoiden Bruders befreien und wenigstens einmal als Teil einer gut situierten Familie fühlen. Und schwimmen lernen, die besondere Mission von Mama Strobl-Marinek, die findet, ohne diese grundlegende Fähigkeit sei das Leben nur halb so schön. Doch bereits am ersten Abend des Toskana-Urlaubs kommt es zur Tragödie, das Mädchen ertrinkt im Pool.

Was Daniel Glattauer im Folgenden aufzieht, führt unsere ach so privilegierte Gesellschaft ad absurdum, liest sich wie ein bitterböses Sittenbild, dem man leicht angewidert beiwohnt, aber wegschauen geht halt auch nicht. Fehler werden einander zugeschoben und weit von sich gewiesen, es gilt, die eigene Haut retten und ja, man wünscht diesen selbstgerechten, vor Arroganz nur so strotzenden Gutmenschen mindestens die Pest an den Hals – und gleichzeitig meldet sich da so ein leises, inneres Stimmchen, das fragt, wie frei wir selbst denn eigentlich von diesen Vorurteilen und Selbstgerechtigkeiten sind.

Dem Autor gelingt es erstaunlich gut die leicht überzogen skizzierten Figuren nie ins Lächerliche, Karikierte abdriften zu lassen. Ich hab sie ihm alle abgenommen, angefangen bei der Teenagerin, deren Leben völlig aus den Fugen gerät, und das direkt aus dem Kinderzimmer heraus (wirklich erschreckend für mich als Mutter), bis hin zum leicht verblendeten Staranwalt Steinpichler. Aayanas Geschichte hat mich tief berührt und wird mich noch länger beschäftigen, denn auch wenn sie fiktiv sein mag, sensibilisiert sie doch für die sehr realen Schicksale Geflüchteter, die viel zu wenig Raum in der Politik und in unserer Gesellschaft haben.

Oberflächlich betrachtet ist „Die spürst du nicht“ das unterhaltsame Sommerbuch, das ich auch aufgrund des Covers erwartet hatte; leichte Kost, man fliegt nur so durch die Seiten, muss mitunter herzlich lachen oder zumindest schmunzeln. Doch darunter tut sich ein Abgrund auf, lauert eine bodenlose Schwere, die mich sehr betroffen gemacht hat, eine unerwartet schmerzhafte Geschichte über Migration und Heimat, Moral und Gewissen. Richtig stark!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Authentischer Thriller mit tollem Setting

Fünf Winter
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Ich hab seit Jahren keinen Krimi oder Thriller mehr gelesen; zu oft wurde ich von der Auflösung am Ende enttäuscht, die mit dem sorgsam aufgebauten Spannungsbogen im Mittelfeld schlicht nicht mithalten ...

Ich hab seit Jahren keinen Krimi oder Thriller mehr gelesen; zu oft wurde ich von der Auflösung am Ende enttäuscht, die mit dem sorgsam aufgebauten Spannungsbogen im Mittelfeld schlicht nicht mithalten konnte. Die Spannung verpuffte einfach, entlud sich unterwegs wie ein schlapp gewordener Luftballon und zurück blieb eine frustrierte Linda. Und das wollen wir ja nicht! Schon etwas länger suchte ich nun DEN einen Thriller, der mich aus diesem mehr als bedenklichen Tief herausholen sollte, und was soll ich sagen? Gefunden!

„Fünf Winter“ von James Kestrel (übrigens ein Pseudonym) wartet mit einem spannenden, klug konstruierten Plot auf, der zugegebenermaßen ziemlich laut Blockbuster schreit, sich durch seine Vielschichtigkeit jedoch kaum kategorisieren lässt, weit mehr als eine bloße Kriminalgeschichte zu bieten hat. Das Setting fand ich persönlich sehr interessant, wir bewegen uns zwischen Hawaii und Japan im zweiten Weltkrieg, rund um den Angriff auf Pearl Harbor, die Figuren sind authentisch gezeichnet und saugten mich geradezu in den Plot hinein. Mit dem Protagonisten Joe McGrady hat Kestrel einen etwas raubeinigen, tragischen Helden geschaffen, der das Herz am rechten Fleck hat. Einen der Guten, den ich gerne an meiner Seite wüsste, wenn’s drauf ankommt, und den ich so schnell nicht vergessen werde.

Für Fans von Dennis Lehane und alle, die Lust auf einen wirklich guten Thriller haben. Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux. Herausgegeben von Thomas Wörtche.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Die Schönheit in den kleinen Dingen

Maud Martha
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„Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet.
Und Löwenzahn. Sie hätte auch ...

„Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet.
Und Löwenzahn. Sie hätte auch Lotosblumen gemocht oder Sommerastern oder Japanische Iris oder Wiesenlilien - ja, auch Wiesenlilien, weil sie schon bei dem Wort «Wiese» begann, tiefer zu atmen, entzückt die Arme hochriss oder gern hochgerissen hätte, je nachdem, wer bei ihr war, hinauf zu dem, was da womöglich vom Himmel aus zuschaute. Aber hauptsächlich sah sie Löwenzahn. Gelbe Alltagsedelsteine, mit denen das geflickte grüne Kleid ihres Hinterhofs verziert war. Sie mochte diese nüchterne Schönheit, mehr noch aber ihre Alltäglichkeit, denn darin glaubte sie ein Abbild ihrer selbst zu erkennen, und es war tröstlich, dass etwas, was gewöhnlich war, gleichzeitig eine Blume sein konnte.“

So zauberhaft beginnt „Maud Martha“ von Gwendolyn Brooks, die als erste Schwarze für ihre Lyrik mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, und so einzigartig und poetisch geht es in ihrem einzigen Roman auch weiter. Bereits 1953 erschienen, hat der Manesse Verlag diesen nun zu unserem großen Glück von Andrea Ott ins Deutsche übersetzen lassen.

Maud Martha ist Schwarz und ein Mädchen zuerst, dann eine Frau; keine allzu guten Vorraussetzungen im rassistisch durchtränkten Amerika der 1950er-Jahre. In kleinen Anekdoten entfaltet sich ihr Leben vor uns, ein enges Leben, dem Begrenzungen aufgezwungen werden und an dem sie sich immer wieder stößt. Doch was ist das Besondere an diesem schmalen Buch, worin besteht der Zauber? Ich glaube, es ist die übersprudelnde Lebenskraft der Protagonistin, ihre innere Selbstsicherheit, die bewegt und inspiriert, und ihrer Zeit weit voraus ist. Deren Verweigerung, sich an Regeln zu halten, an den Rand der Gesellschaft drängen und klein halten zu lassen. Maud Marthas Fähigkeit, dem Alltag Poesie abzuringen, die Schönheit in den kleinen Dingen und in sich selbst zu sehen, wirklich zu sehen, wirklich zu fühlen. Ich behaupte, wer Jaqueline Woodson gerne liest, wird „Maud Martha“ lieben. Und alle anderen auch.

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